Himmel

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Harald Winter

Himmel

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Impressum neobooks

Kapitel 1

Die Schmerzen waren unerträglich. Nie hätte er geglaubt, dass so etwas überhaupt möglich war. Wie konnte sein Körper diese Belastung ertragen? Wieso war er noch am Leben? Wie durch eine dicke Schicht von Watte hörte er die Stimmen von Menschen die durcheinander schrien. Ihre Worte konnte er nicht verstehen. Grelles Licht drang durch seine Augenlider und fremde Hände tasteten über seine Haut, taten etwas das er nicht einordnen konnte. Es war ihm egal. Diese Schmerzen. Die Welt schien sich immer mehr vor ihm zurückzuziehen; ihn zu verstoßen. Die Geräusche wurden leiser und das Licht dunkler. Nur die Schmerzen blieben. Füllten sein Universum vollständig aus. Er fragte sich, wann er den Verstand verlieren würde. Dann versank auch dieser letzte Gedanke in einem Meer aus Qual. Jonathan hörte auf zu existieren; wenigstens in der Welt, in der er bisher gelebt hatte. Es gab noch einen anderen Ort. Einen Ort von dem so viele träumten und an den er nie geglaubt hatte.

Jonathan? Jonathan wo bist du? Was ist passiert? Hatte sie die Worte wirklich gesagt oder geschah das nur in ihrem Kopf? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie im Wagen gesessen hatte; auf dem Beifahrersitz. Sie fuhr nicht gerne. Wenn Jonathan am Steuer saß fühlte sie sich einfach sicherer. Sie hatte nicht auf die Straße geachtet; hatte einfach aus dem Fenster gestarrt ohne wirklich etwas zu sehen. Sie hatten nicht geredet. Klar. Sie waren beide unheimlich müde gewesen nach der langen Fahrt; ungefähr noch eine Stunde von zu Hause. Dann war plötzlich etwas mit der Landschaft hinter dem Fenster geschehen, das nicht zu stimmen schien. Es dauerte erstaunlich lange bis Jonathans verzweifeltes Brüllen und das Quietschen der Reifen bis zu ihr vordrangen. Als sie den Kopf herum riss und durch die Windschutzscheibe sah schien die Straße rasend schnell auf sie zuzukommen. Von unten? Ein fürchterliches Krachen und Schaben hämmerte auf ihre Ohren ein. Der Gurt hielt sie fest, aber dennoch schlug ihr Kopf mehrmals heftig gegen etwas hartes, das sich kalt anfühlte. Dann spürte sie etwas an ihrer Brust. Es tat weh; aber nicht besonders. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwerer und von der Stelle aus an der das Ding ihre Brust berührte breitete sich Wärme aus. Sie versuchte nach unten zu sehen, konnte den Kopf aber nur ein kleines Stück bewegen, bevor ein stechender Schmerz, der von überall zugleich zu kommen schien die Bewegung stoppte. Trotzdem konnte sie sehen, dass sich eine Metallstrebe oder was auch immer es war durch das Armaturenbrett des Wagens gebohrt hatte; und wahrscheinlich auch durch ihre Brust. Sie hustete gequält, schluckte das Blut das plötzlich ihren Mund füllte und hustete erneut. Jonathan! Hilf mir doch. Warum lässt du mich hier alleine? Die Wärme die sich von ihrer Brust aus ausgebreitet hatte wich einer … beinahe ekelhaften Kälte. Wenn sie sich nur hätte bewegen können, aber ihre Muskeln gehorchten ihr noch immer nicht. Müdigkeit kroch langsam aus einer dunklen Ecke ihres Verstandes hervor wie klebriger Sirup, in dem ihre Gedanken nicht mehr richtig vorankamen. Langsam aber unaufhaltsam breitete sich die Schläfrigkeit aus und verdrängte schließlich sogar den Schmerz. Eine tiefe Ruhe, wie sie sie lange nicht mehr erlebt hatte erfasste sie und überzeugte sie davon, dass alles gut werden würde. Seltsam, dass Jonathan nicht hier war. Sie versuchte sich darauf zu konzentrieren eine Antwort auf die Frage zu finden warum er verschwunden war, aber es gelang ihr nicht. Sie schlief ein und erwachte nicht mehr.

… junges Paar heute Abend bei einem Verkehrsunfall getötet. Jonathan und Linda Ross erlagen beide noch am Unfallort ihren schweren Verletzungen. Die Ursache für den Unfall ist noch ungeklärt, aber die Behörden gehen davon aus, dass Jonathan Ross die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hat, als er versucht hat einer Kollision mit einem Tier zu entgehen. Nun zu …

Jonathan öffnete die Augen und blinzelte als ihn das grelle Licht blendete das von allen Seite zu kommen schien. Also habe ich doch überlebt. Gestorben war er nur in seiner eigenen Fantasie. Eine Gehirnerschütterung. Oder Sauerstoffmangel. Irgend so etwas musste dafür verantwortlich sein. Aber die Schmerzen. Natürlich hatte er Schmerzen gehabt. Verdammt; er hatte immerhin einen Autounfall überlebt. Das so etwas wehtat war nichts ungewöhnliches. Er drehte den Kopf. Nichts. Die Schmerzen waren verschwunden. Er hob einen Arm. Wieder nichts. Seltsam. Sehen konnte er immer noch nichts. Außer dieses verfluchte grelle Licht. Wo war er überhaupt? Der Gedanke an einen Operationssaal schoss ihm durch den Kopf. Zeigten sie das nicht immer in diesen Serien? Blendend helle Lampen über blitzsauberen Operationstischen auf denen immer jemand lag, der beinahe schon tot war. War er auch so ein lebender Toter – vom Ende nur durch einen Drogencocktail und ein paar Maschinen getrennt? Bewegte er sich wirklich oder lag er im Delirium und bildete sich alles nur ein? Nun; er würde es auf keinen Fall herausfinden, wenn er weiterhin hier lag und fruchtlose Gedanken wälzte. Mit einem Ruck setzte er sich auf und wappnete sich innerlich gegen den Schmerz, der nicht kam. Er saß aufrecht; dessen war er sich relativ sicher. Sonst geschah nichts außergewöhnliches. Er sah sich um; blinzelte. Licht. Nichts als Licht. Steh auf! Es kam nicht oft vor, dass er sich selbst gegenüber diesen herrischen Ton anschlug, aber jetzt schien es notwendig zu sein, damit er nicht in Lethargie versank oder den Verstand verlor. Es war gar nicht so einfach die Beine aus einem Bett zu schwingen das man nicht sah. Wenn es überhaupt ein Bett war auf dem er lag. Es war leidlich weich also fiel ihm kaum etwas ein was es sonst sein mochte. Da war auch tatsächlich eine Kante. Seine Beine schwebten über einem Abgrund, der tausende Meter tief sein mochte. Plötzlich hatte er ein Bild vor Augen in dem er sich auf dem Gipfel eines Berges befand. Wenn er seinen sicheren Platz verließ würde er abstürzen. Rasend schnell bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn. Du darfst dich nicht verrückt machen lassen. Ohne weiter zu zögern vollendete er die Bewegung und stellte die Beine... auf etwas hartem ab. Der Boden; woraus auch immer er bestehen mochte. Das Material war glatt und fühlte sich kühl an. Jonathan atmete tief durch, spannte die Muskeln und stand auf. Es gelang. Für einen Moment schwankte er unsicher und hätte sich beinahe wieder setzen müssen, aber er schaffte es. So musste es jemandem ergehen der plötzlich erblindete. Aber er war nicht blind. Oder doch? War das vielleicht eine seltsame Form von Blindheit von der er einfach noch nichts gehört hatte? Jonathan schloss die Augen. Das Licht drang nur noch stark gedämpft durch seine Lider. Als er die Augen wieder öffnete strahlte es hell wie zuvor. Er konnte also sehen. Zumindest den Unterschied zwischen hell und dunkel. Vielleicht gab es hier, wo immer dieses hier auch war, einfach nichts anderes zu sehen. Was für ein Ort soll das sein? Und wo war Linda? Sie hatte im Auto neben ihm gesessen. Ging es ihr gut, oder war sie... Mit voller Wucht fegte eine Welle aus Angst und Nervosität über ihn hinweg. Die Fesseln die die seltsame Situation seinem Geist auferlegt hatte zerrissen bei dem Gedanken an seine Frau. Er breitete die Arme aus, drehte sich hektisch im Kreis und tappte ziellos herum; suchte nach etwas das er berühren konnte; nach etwas Realem. Aber hier gab es nichts außer diesem kühlen, glatten Boden und dem Bett auf dem er gelegen hatte. Das musste die Hölle sein. Oder etwas ganz ähnliches. Jonathan ließ die Arme sinken und blieb schwer atmend stehen. „Linda!“ schrie er so laut er konnte. Seine Stimme wurde von keinem einzigen Hindernis zurückgeworfen und verklang einfach im Nirgendwo. Es gab keinen Nachhall, kein Echo. Er hatte schwach und kraftlos geklungen. Kein Schrei; eher ein heiseres Krächzen. Wenn sie noch nebeneinander im Wagen saßen und er sich alles andere zusammen fantasierte dann würde sie ihn hören; wenigstens wenn sie nicht bewusstlos war. Oder... daran wollte er gar nicht denken. Wenn er aber tatsächlich irgendwo anders war - in einem Krankenhaus zum Beispiel – dann war sie wahrscheinlich zu weit entfernt. Jonathan drehte sich erneut um die eigene Achse. Ein seltsames Krankenhaus musste das sein. Vielleicht war er doch in einem Irrenhaus gelandet; hatte den Tod seiner Frau nicht verkraftet und war ausgerastet. Er wäre nicht der Erste gewesen. Aber selbst in einem verdammten Irrenhaus hatten die Räume Wände. Das hier schien nicht einmal ein richtiger Raum zu sein. „Linda!“ schrie er noch einmal so laut er konnte, aber wieder wurde seine Stimme einfach verschluckt als wäre er von dichter Watte umgeben. Jonathan spürte den starken Impuls sich einfach auf den Boden zu setzen und darauf zu warten, dass etwas geschah. Dass jemand kam, um sich um ihn zu kümmern. Nur mit äußerster Mühe konnte er der Versuchung widerstehen. Wenn er nachgab würde er vielleicht nie mehr aufstehen. Ohne zu wissen wohin stolperte er weiter, die Arme vor sich ausgestreckt wie ein Blinder, der keine Ahnung hatte welche Hindernisse sich ihm in den Weg stellen würden.

 

Jonathan blieb keuchend stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn... besser gesagt wollte er es. Sein Handrücken berührte trockene Haut, die sich wie Pergament anfühlte. Vielleicht lag es daran, dass er seit Stunden nichts mehr getrunken hatte; vielleicht auch länger. Oder... Idiot schalt er sich. Immer noch spukte der Gedanke, dass er bei dem Unfall gestorben war in seinem Kopf herum. Dabei wusste er doch genau, dass Tote nicht mehr nachdachten. Wenn kein Strom mehr durch die Nervenzellen floss, dann erlitt ein Mensch das selbe Schicksal wie ein Computer dem man den Stecker zog. Das war seine Überzeugung seit er denken konnte. Nun ja. Vielleicht auch erst seit ein wenig später. Der Gedanke an ein Leben nach dem Tod war für ihn genauso lächerlich, wie der an einen fliegenden Elefanten. Er legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Nach wenigen Augenblicken schloss er gequält die Augen. Überall nur dieses verdammte Licht. Was hätte er nicht alles für ein Wenig undurchdringliche Dunkelheit gegeben; oder auch nur für einen einfachen Schatten. Wenn er nur nicht mehr diese grauenvolle Wüste aus Licht durchqueren musste in der etwas schreckliches lauerte. Irgendwo; verborgen und unsichtbar. Das spürte er nun ganz deutlich. Immer mehr verlor er sich in einer absurden Gedankenwelt. Obwohl er sich dessen bewußt war, konnte er nichts dagegen tun. Jonathan senkte den Kopf und taumelte weiter. Hier konnte es nicht überall so aussehen. Irgendwo musste ein Ausgang sein; oder etwas ähnliches. Er hoffte nur, dass er sich nicht ständig im Kreis bewegte. Hatte er nicht irgendwo gelesen, dass Wanderer die sich verirrten, oft aufhörten sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren, dadurch schließlich alle Orientierungspunkte übersahen und sich aus einem Grund, den er nicht mehr wusste ohne es zu wollen im Kreis bewegten? Hier gab es keine Orientierungspunkte, auf die er achten konnte, also woher zum Teufel sollte er wissen, ob er vielleicht genau am dem Punkt an dem er sich gerade befand schon gewesen war? Er konnte nur sicher gehen wenn er stehen blieb. Aber was dann? Die Bewegung war das einzige das ihm half seinen Verstand zu bewahren. Er taumelte weiter. Und immer weiter.

Jonathan rieb sich die Augen, presste die Lider fest zusammen und öffnete sie wieder. Es war immer noch da. Wenn ihm die eigene Fantasie keinen Streich spielte dann war da etwas, dessen Umrisse sich zusehendes aus der monotonen Helligkeit schälten während er näher und näher kam. Irgendwie sah es aus wie ein... Berg. Ja. Zerklüftete Felsen die so hoch aufragten, dass sich die Gipfel seinen Blicken entzogen. Wo bin ich hier nur gelandet? Jonathan schüttelte leicht den Kopf. Nichts um ihn herum schien irgend einen Sinn zu ergeben. So etwas konnte es – durfte es einfach nicht geben. Er kannte keinen Ort, an dem es unentwegt gleißend hell war. Dann war da noch der Boden sich anfühlte wie fugenlose Fliesen. Welcher Raum war so groß, dass man ohne mit irgendetwas zusammenzustoßen laufen konnte, bis man einfach nicht mehr konnte? Nein. Entweder war er bereits verrückt geworden und sprang sabbernd in einer Gummizelle umher während er sich das alles hier einbildete, oder aber er befand sich nicht mehr in der Welt in die er hineingeboren worden war. Jonathan runzelte die Stirn. Beide Möglichkeiten schienen ihm nicht sonderlich einladend zu sein, wobei die Erste noch weniger erschrecken war, als die andere. Um sich abzulenken konzentrierte er sich wieder auf den Berg, dem er sich auch während seiner Überlegungen stetig genähert hatte. Er war jetzt nah genug, um zu erkennen wie gewaltig dieses Felsengebilde wirklich war. Vor ihm ragte ein richtiges Bergmassiv auf; mindestens 3000 Meter hoch und wenigstens fünf Kilometer lang. Es sah aus als hätte jemand ein Stück aus einem Gebirge geschnitten und es hierher versetzt. Aber wie? Wozu? Hier schien niemand außer ihm zu sein, und das jemand das alles hier nur wegen ihm inszenierte erschien ihm ziemlich unwahrscheinlich. Es war nichts besonderes an ihm das diesen Aufwand rechtfertigte. Also musste etwas anderes dahinter stecken. Vielleicht war es völlig normal, dass diese ewige Ebene an irgend einer Stelle von einem Berg unterbrochen wurde. Normal nach den Maßstäben die hier galten. Wo auch immer dieses Hier eigentlich war. In deinem Kopf. Jonathan wurde langsamer als er den Fuß des Gebirges erreichte. Er legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Der Fels schien beinahe senkrecht über ihm aufzuragen. Irgendwo weit oben verschwand er in einer Art von leuchtendem Nebel. Was sollte er tun? Versuchen die Wand nach oben zu klettern um zu sehen was hinter diesem Nebel war? Den Berg nicht weiter beachten und weiter ziellos über die Ebene wandern, die wenn er Pech hatte tatsächlich unendlich war? Oder einfach die Tatsache akzeptieren, dass er den Verstand verloren hatte und sich einfach hinsetzen und darauf warten, dass jemand kam und ihn in eine Zelle brachte? Natürlich nicht ohne ihm vorher eine Spritze mit einem Mittel zu verpassen, das sich von einer Droge nur durch den Beipackzettel unterschied. Unschlüssig drehte er sich einmal im Kreis während sich in seinen Beinen ein seltsames Ziehen auszubreiten begann das von seiner zunehmenden Nervosität zeugte. Er musste etwas tun. Und zwar schnell. Bevor der animalische Teil seiner Persönlichkeit, der in jedem Menschen schlummerte – bei manchen weniger gut verborgen als bei anderen, die Kontrolle übernahm und ihn zu einer völlig irrationalen Handlung zwang die schlimme Konsequenzen für ihn haben mochte. Unwillkürlich musste er grinsen, als er sich fragte was denn angesichts der Umstände in denen er sich befand eine rationale Handlung sein mochte, die keine Gefahr bedeutete. Die verfügbaren Auswahlmöglichkeiten, die diese Bedingungen erfüllten erschöpften sich höchstwahrscheinlich darin, sich hinzusetzen und einfach gar nichts zu tun. Dieses Verhalten mochte das Risiko auf die Gefahr zu verhungern eingrenzen. Jonathans Grinsen verschwand schnell als ihm bewusst wurde, dass er sich tatsächlich bald mit diesem simplen Problem auseinandersetzen würde müssen. Wo sollte er hier etwas zu essen herbekommen; oder auch einfach nur Wasser? Er würde lange vor dem Zeitpunkt verdurstet sein an dem der Hunger unerträglich wurde. Es ist eigentlich scheißegal was du tust. Also kannst du auch gleich auf den Berg klettern. Jonathan war noch nicht bereit den Pessimismus seiner inneren Stimme zu teilen, aber er musste ihr doch in einem Punkt recht geben. So absurd es auch klingen mochte so konnte der Versuch den seltsamen Berg zu besteigen die einzig sinnvolle seiner begrenzten Möglichkeiten sein. Vielleicht konnte er von dort oben aus etwas sehen das ihm vom Boden aus verborgen blieb. Vielleicht war dort oben auch irgend etwas... hör auf nachzudenken und tu es. Auch diesmal musste er seinem Unterbewusstsein das sich vehement Gehör verschaffte beipflichten. Er konnte weiter über die eintönige Ebene wandern bis ihn die Kräfte verließen und er schließlich zusammenbrach und verendete wie ein waidwundes Tier, oder er konnte sich einer Herausforderung stellen, diesen Felshaufen besteigen und von oben auf dieses... Nichts herabsehen. Wenn er dabei starb, dann wenigstens mit der Gewissheit irgend etwas getan zu haben. Jonathan näherte sich einem Stück der beinahe senkrecht aufragenden Felswand, das ihm als einstieg geeignet schien und legte den Kopf in den Nacken. Sein Blick kletterte die Wand empor bis ihm ein heftiges Schwindelgefühl die Konzentration raubte. Er schloss die Augen, und ballte die Hände zu Fäusten. Er hatte immer schon Probleme mit großen Höhen gehabt. Deshalb war er auch nur ein oder zwei mal klettern gewesen. An einer Kletterwand während der Schulzeit. Er schluckte trocken. Es war absolut lächerlich zu glauben, dass er die Wand die vor ihm aufragte empor klettern konnte. Er hatte schon Schwierigkeiten mit einem Baum; wie sollte er da einen verdammten Berg bezwingen? Wozu? Jonathan öffnete die Augen, ging ganz nahe an den Fels heran und presste die Handflächen gegen den kühlen Stein. Unnachgiebig und unverrückbar. Den Berg kümmerte es nicht, dass ein Mensch an seinem Fuß stand und überlegte an ihm empor zu klettern. Jonathan tastete prüfend nach einem Vorsprung knapp über seinem Kopf und versuchte sich daran nach oben zu ziehen. Es war erstaunlich schwierig. Wie sollte er so jemals den Gipfel erreichen, der unendlich weit entfernt zu sein schien. Zum Teufel, er konnte ihn nicht einmal sehen. Da oben war nur Nebel. Wenn er Glück hatte rutschte er bereits in wenigen Metern Höhe ab und brach sich vielleicht ein paar Knochen. Wenn das Schicksal ihn weiter oben ereilte würde er sterben. Warum kletterst du überhaupt auf diese verdammte Wand? Was erwartest du dir davon? Jonathan wusste darauf keine Antwort. Der einzige Grund der ihm einfiel war der, dass er den Anblick der leeren Ebene aus der er gekommen war nicht mehr ertragen konnte. Die Aussicht in dieser leuchtenden Hölle zu verrotten erschien im schlimmer als ein schneller Tod nach einem Sturz. Er holte tief Atem und tastete nach dem nächsten Halt. Keuchend zog er sich weiter empor. Bereits jetzt bildeten sich die ersten Schweißtropfen auf seiner Stirn. Das hier würde eine Zeit lang dauern.

Jonathan hielt zitternd inne. Vorsichtig sah er nach unten und wandte sich sofort wieder ab, als er sah wie weit er bereits gekommen war. Er hatte die Grenze der einfachen Knochenbrüche längst hinter sich gelassen und war ins Reich des Todes vorgedrungen. Außerdem war es sehr schnell kälter geworden je höher er gekommen war. Viel schneller als er es sich jemals vorgestellt hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass das nicht normal war. Aber was bedeutete das schon an einem Ort an dem überhaupt nichts normal war. Jonathan presste sich dicht an den Fels und klammerte sich mit den Händen an den trügerischen Halt. Er fühlte sich so ausgelaugt wie schon lange nicht mehr. Seine Muskeln brannten wie Feuer und das Atmen fiel ihm zusehends schwer. Dabei hatte er noch nicht einmal ein Viertel der Strecke geschafft. Er würde hier erfrieren oder einfach abstürzen sobald ihn die Kräfte endgültig verließen. Die Panik die eigentlich auf diesen Gedanken hätte folgen müssen blieb aus. Anscheinend hatte er bereits resigniert und mit seinem Leben abgeschlossen. Ihm blieb nicht viel Zeit wenn er überleben wollte. Bald würde er wegen der zunehmenden Schwäche das Interesse an Allem verlieren und sich einfach fallen lassen. Mühsam hob er den Kopf und sah nach oben. Dann löste er die rechte Hand von der Wand und griff nach dem schmalen Vorsprung. Seine Finger rutschten ab und beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren. Er fing sich, atmete tief durch und versuchte es noch einmal. Er streckte sich so weit er konnte und bekam die Kante zu fassen. Jetzt konnte er die andere Hand von der Wand lösen und auch damit nach dem Vorsprung greifen. Ächzend zog er sich ein Stück weit hoch und versuchte mit den Füßen irgend einen Halt zu finden während sein gesamtes Gewicht auf seinen Armen lastete. Seine Finger begannen erneut von der Kante abzurutschen an der er sich festhielt. Seine Füße schabten noch immer über den Fels ohne einen sicheren Tritt zu finden, auf dem sie stehen konnten. In Jonathans Magen begann sich ein flaues Gefühl auszubreiten. Vielleicht ein Vorbote der Todesangst die unweigerlich folgen musste schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf. Sein linker Fuß blieb an etwas hängen. Eine kleine Spalte im Fels. Gerade genug um den Schuh hinein zu zwängen. Endlich konnte er etwas von seinem Körpergewicht auf sein Bein verlagern. Jetzt fand auch sein rechter Fuß Halt. Zischend entwich die verbrauchte Luft zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er die ganze Zeit den Atem angehalten hatte. Jonathan spürte neue Energie in seinem Inneren, die aus einer Quelle kam von der er bisher nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Er würde doch noch ein wenig länger leben. Plötzlich begann der Fels unter seinen Fingern zu bröckeln wie weiche Kreide. Hastig streckte er sich um etwas anderes zu fassen zu bekommen. Seine Hände tasteten über den unnachgiebigen Stein, der ihm keinen Halt mehr geben wollte. Er spürte wie der Sog der Tiefe immer stärker zu werden begann und sich sein Schwerpunkt immer weiter nach hinten verlagerte. Trotz der Kälte rann Schweiß in seine Augen und nahm ihm die Sicht. Seine Finger wurden zu Krallen, die panisch über den Fels kratzten. Ein Fingernagel blieb irgendwo hängen und wurde mit einem Ruck abgerissen. Greller Schmerz zuckte durch den Arm in Jonathans Gehirn und ließ eine kleine Explosion aufflammen. Für einen Moment verlor er völlig die Kontrolle über seinen Körper. Ein paar Muskeln spannten sich während andere ihre Aufgabe vernachlässigten und sich dehnten. Er kippte nach hinten und fiel. Er fragte sich, ob er es bis nach unten schaffen, oder vorher gegen die Wand prallen würde. Die Frage wird sich sehr bald auf dramatische Weise selbst beantworten dachte er. Er versuchte die Augen zu schließen, aber es gelang ihm nicht. Irgend etwas an der Welt die um ihn herum zu kreisen schien fesselte ihn und ließ ihn nicht auch nur für einen winzigen Moment wegsehen. Einmal sah der Boden der rasend schnell näher kam, dann die Felswand und schließlich den Himmel, oder den strahlenden Nebel hinter dem sich der Himmel befinden mochte. Jonathan biss die Zähne zusammen und machte sich bereit für den Aufprall der unweigerlich kommen musste; so gut man sich eben auf auf den Knochen zerschmetternden Zusammenprall mit etwas unnachgiebigem vorbereiten konnte. Plötzlich hörte er die Stimme seines Vaters. „Nimm es wie ein Mann Junge“. Unwillkürlich musste er grinsen. Sein Vater war ein so sturer Bock, dass er ihm durchaus zugetraut hätte ihm seine weisen Ratschläge auch unter die Nase zu reiben während er dem sicheren Tod entgegen stürzte. Das Grinsen verschwand von seinem Gesicht, als wieder einmal der Boden in sein Blickfeld rückte. Er war noch näher gekommen. Jonathan wunderte sich ohnehin, dass der Sturz so lange dauerte. Entgegen all der Geschichten die sich um den nahenden Tod drehten war nicht sein ganzes Leben an ihm vorbeigezogen, aber es wäre sich problemlos in der Zeit die vergangen zu sein schien ausgegangen. Wenigstens eine Zusammenfassung der wichtigsten Stationen. Verging die Zeit langsamer als sonst, oder... Wohlige Dunkelheit umfing ihn und riss ihn mit sich fort.

 

Jonathan erwachte und war für einige Augenblicke völlig orientierungslos. „Was...“ murmelte er und setzte sich ruckartig auf. Unbewusst tastete er seinen Körper nach Verletzungen ab, konnte aber keine entdecken. Er hatte keine Schmerzen. Überhaupt keine. Dann fiel ihm der Berg ein und er drehte hastig den Kopf hin und her. Das gesamte Bergmassiv war verschwunden. Dafür saß neben ihm ein dicklicher Mann mit schütterem Haar auf dem Boden und sah ihn mit einem traurigen Blick an. So ähnlich hatte ein Kollege einmal ein Reh angesehen, dass er angefahren hatte, als er und Jonathan nach einem Geschäftsessen nach Hause gefahren waren. Ray hatte Jonathan angeboten ihn mitzunehmen, obwohl sie beide ziemlich voll gewesen waren. Dieser Blick gefiel Jonathan ganz und gar nicht. „Wieso starren sie mich so an? Und wie kommen sie überhaupt hier her?“ Der Andere seufzte als hätte er es mit einem besonders uneinsichtigen Kind zu tun und rückte ein Stück von Jonathan ab. „Ich bin nicht hierher gekommen. Das warst du. Ich bin die ganze Zeit hier und warte auf Leute wie dich.“ Jonathan kniff die Augen zusammen und sah den fetten Kerl in der – was war das; ja es schien tatsächlich eine weiße Toga zu sein – weißen Toga durchdringend an. „Was soll das heißen?“ fragte er mit unverhohlener Ungeduld. Der Dicke schien es nicht zu bemerken, denn er ließ sich viel Zeit mit seiner Antwort. Vielleicht wusste er auch nicht was er sagen sollte. Als die Stille unerträglich wurde und Jonathan sich bereit machte aufzustehen und den seltsamen Kerl zu ignorieren begann der plötzlich doch noch zu sprechen. Jonathan ließ sich zurück sinken und hörte zu. Der Dicke war der erste Mensch den er seit... seit dem Unfall zu Gesicht bekam und er wollte sich die Gelegenheit etwas über diesen seltsamen Ort zu erfahren nicht entgehen lassen. „Ich warte hier weil die, die hierher kommen es ohne meine Hilfe nicht hinter diese Tür schaffen.“ Er schnippte beiläufig mit den Fingern und aus dem Nichts erschien eine hohe dunkelgrüne Tür mit einem schmiedeeisernen Knauf. „Ihr könntet alle nur immer und immer wieder auf diese verdammten Berge klettern und euch dabei den Hals brechen, wenn es mich nicht gäbe.“ Jonathan spürte, dass ihn irgend etwas an der Tür magisch anzog. Er stand auf und ging langsam darauf zu, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Einem Teil von ihm entging nicht, dass auch der fette Kerl aufgestanden war und ihm folgte. Jonathan war es egal. Im Moment gab es kaum etwas das ihn interessierte Bis auf diese verdammte Tür, die ihn magisch anzog. Einen Augenblick lang fühlte er sich wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden tanzte wann immer ein unsichtbarer Puppenspieler das wollte. Jonathan blieb dicht vor der Tür stehen und streckte vorsichtig die Hand nach dem Knauf aus; bereit jederzeit zurück zu zucken falls... ja was eigentlich? Falls die Tür ihn angreifen sollte? Beinahe hätte er laut aufgelacht. Er musste aufhören hinter jedem Gegenstand mehr zu vermuten als tatsächlich dahinter steckte, bevor er begann sich vor seinem eigenen Schatten zu fürchten. Er legte die Hand auf den Knauf und drehte. Nichts geschah. Er drückte und zog so fest er konnte, aber auch damit erreichte er rein gar nichts. Weder der Knauf noch die Tür ließen sich von seinen Versuchen beeindrucken. Er hätte genau so gut versuchen können eine massive Wand zu verschieben. Jonathan versuchte es noch ein paar mal und gab schließlich keuchend auf. Resignierend wandte er sich ab und sah den fetten Kerl an, der ihm mit einem beinahe widerlich verständnisvollen Blick zusah. Jonathan fletschte verärgert die Zähne wie ein ausgehungertes Raubtier. „Was?“ fragte er zischend. Der Dicke hob beschwichtigend die Hand. „Ich habe dir doch gesagt, dass du mich brauchst um hinter diese Tür zu gelangen“ sagte er mit tadelndem Unterton. Er redet mit dir wie mit einem störrischen Kind. Jonathan wollte auffahren, aber er beherrschte sich. Vielleicht brauchte er diesen seltsamen Mann tatsächlich, wenn er diesen Ort verlassen wollte. Um wohin zu gelangen? An einen anderen Ort, der noch viel verrückter war als dieser hier? Oder führte diese Tür hinaus aus... seinem Traum? … seinem Wahn? … in die Realität? Ganz egal was davon zutraf; hier konnte er nicht bleiben. „Dann hilf mir“ sagte er so ruhig er konnte und machte eine auffordernde Geste. Der Dicke faltete die Hände als wollte er beten und richtete den Blick nach oben als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen. „Na endlich hast du verstanden“ sagte er mit gespielter Erleichterung. „Aber so einfach ist das nicht. Weißt du, der Berg ist da um die, die ankommen zu prüfen. Nur wer Mut beweist darf durch diese Tür gehen. Ich würde sagen, dass du diese Prüfung bestanden hast.“ Der fette Kerl grinste breit. „Aber es gibt noch etwas, das du tun musst“. Von einem Moment auf den anderen veränderte sich der Gesichtsausdruck des Dicken. Er wirkte plötzlich gar nicht mehr wie ein Vater, der sich um sein Kind sorgte. Seine Gesichtszüge strafften sich und alles weiche verschwand. Auch die sanften Augen des Mannes glitzerten nun wie Eis im Sonnenlicht. „Du musst die Dunkelheit sehen“ sagte er mit seltsam hohler Stimme. Das Licht verschwand als hätte es jemand einfach abgeschaltet. Jonathan hatte für einen Augenblick das Gefühl zu fallen bevor er wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Er konnte nichts sehen. Er hob den Arm und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. Er fühlte die aufgewühlte Luft die über sein Gesicht strich aber er sah die Hand nicht. „Du musst die Dunkelheit sehen“ hatte der Mann gesagt. Nun, hier war sie. Ihm fiel etwas ein, was ihm sein Großvater einmal erzählt hatte. Dass man die Größe eines Raumes in völliger Dunkelheit ungefähr abschätzen konnte, wenn man ein lautes Geräusch machte und auf das Echo wartete. Ein Versuch konnte kaum schaden, wenn... Jonathan zuckte zusammen und lauschte angestrengt. Was wenn sich hier irgend etwas verbarg das ihm gefährlich werden konnte? Was wenn es nur darauf wartete dass er seinen Standort verriet, damit es ihn angreifen konnte? Oder war es darauf gar nicht angewiesen, weil es im Dunkeln genauso gut sehen konnte wie er im hellen Sonnenlicht? Er wusste nicht wie er auf den Gedanken kam, dass da überhaupt etwas war. Die Vorstellung erschien ihm kindisch und schmeckte nach einfacher Angst im Dunkeln, aber sie ließ ihn trotzdem nicht los. Je mehr er versuchte den Gedanken zu verdrängen, desto aufmerksamer lauschte er auf ein verdächtiges Geräusch das ihm verriet, dass er hier nicht alleine mit dem seltsamen Kerl in der Toga war. Als er tatsächlich etwas hörte stockte ihm der Atem und sein Herzschlag schien einige Takte auszusetzen. Da war ein Pochen. Ein seltsames, gleichmäßiges Pochen das näher zu kommen schien. Es klang wie etwas Hartes das in regelmäßigen Abständen auf dem Boden abgesetzt wurde. So als würde jemand einen Gehstock benutzen, den er bei jedem Schritt besonders hart aufsetzte. Oder... Reiß dich zusammen verdammt! Du bist kein kleiner Junge mehr. Er durfte sich nicht seiner Phantasie ergeben, die ihm ein ganzes Sammelsurium an schrecklichen Bildern vorgaukelte; alles war er jemals gelesen oder in Filmen gesehen hatte vermengte sich zu einem Kabinett des Grauens. Jonathan ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief durch. Er hatte schon lange nicht mehr so viel Zeit in absoluter Dunkelheit verbringen müssen. Erstaunlich wie schnell die vergessenen Ängste der Kindheit unter den vielen Schichten der Erfahrung eines Erwachsenenlebens hervorbrachen wenn sich die äußeren Umstände ausreichend stark änderten. Das Pochen verschwand trotz dieses klaren Gedankens nicht sondern kam immer noch näher. Nicht mehr lange und der Ursprung des Geräusches würde direkt neben ihm angelangt sein. Was immer es auch war; bei seinem momentanen Glück war nicht anzunehmen, dass es etwas Gutes sein würde. Aber was konnte er schon dagegen tun? Er war völlig orientierungslos und lief bei jedem Schritt Gefahr sich zu verletzen oder Schlimmeres. Jonathan versuchte das Zittern das mittlerweile auch schon auf seine Zähne übergriff, die leise klapperten, in den Griff zu bekommen, aber er scheiterte kläglich. Die Angst hatte sich längst zu einem eiskalten Klumpen zusammengeballt, der seinen Magen vollständig auszufüllen schien. Ein letztes Mal hörte er das Pochen, ganz nahe jetzt, dann herrschte Stille. Jonathan lauschte angestrengt. Nein; es war nicht völlig still. Jemand oder etwas atmete zu seiner Linken. So nahe, dass Jonathan den Unbekannten oder was sonst hier herum strich berühren würde wenn er den Arm um eine Winzigkeit bewegte. Einen Moment lang konnte er den Impuls der ihn zwingen wollte in Panik zu fliehen zurückdrängen. Für einen kurzen Moment. Er biss sich auf die Lippen um nicht lauthals los zu schreien und rannte so schnell er nur konnte. Dass er sich den Schädel an einem Hindernis einrennen mochte interessierte ihn nicht mehr. Alles war besser als neben einem Wesen zu stehen, das man nicht sehen konnte und von dem man nicht wusste was es war. Es war die Erfüllung eines jeden kindlichen Alptraums. Jonathan wusste, dass es keine Monster gab; wenigstens sagte ihm das sein erwachsener Verstand der über einen langen Zeitraum darauf getrimmt worden war solche Möglichkeiten von vornherein auszuschließen; und dennoch rannte er wie von Furien gehetzt. Er verhielt sich genau wie ein verängstigtes Kind das vor den Auswüchsen der eigenen Fantasie davonlief. Fehlt nur noch, dass du dir in die Hosen pisst. Der zynische Part seiner inneren Stimme schien sich nicht von Unsichtbaren einschüchtern zu lassen und jagte immer noch seltsame Gedanken durch seinen Kopf wann immer sich eine Gelegenheit bot. Jonathan ignorierte die Stimme. Er war viel zu sehr damit beschäftigt ein Bein vor das andere zu setzen; eine Aufgabe die zunehmend schwerer wurde. Seine Muskeln brannten und er hatte langsam das Gefühl zu ersticken. Er war nie besonders sportlich gewesen und es grenzte schon fast an ein Wunder, dass er überhaupt so lange durchhielt. Was wenn du in Wahrheit im Kreis rennst? Diesmal fiel es Jonathan erheblich schwerer die Stimme zu ignorieren. Verdammt viel schwerer. Woher sollte er wissen wohin er rannte? Er konnte einen verfluchten Dreck sehen. Wenn er nur ganz leicht in irgend eine Richtung zog – vielleicht weil ein Bein um eine Winzigkeit kürzer war als das andere – dann brauchte das was vorher neben ihm aufgetaucht war nur darauf zu warten, dass er den Kreis vollendete. Jonathan wurde etwas langsamer und versuchte zu hören, ob ihm das Pochen, dass er vorhin gehört hatte folgte. Atmete da etwas hinter ihm, oder war das nur sein eigenes Keuchen? Unwillkürlich wandte er den Kopf und versuchte die Dunkelheit mit seinen Blicken zu durchdringen. Es war aussichtslos. Um ihn herum war auch jetzt nur absolute Schwärze. Fast so als wäre er in ein Fass voll schwarzer Tinte gestürzt. Er spürte feuchte Wärme, die über sein linkes Ohr strich. Die letzten Zweifel verschwanden wie weggewischt. Er war hier nicht alleine. Jemand oder etwas stand erneut direkt neben ihm. Noch näher als zuvor. Jonathan rannte erneut los. Sein Herz pochte wie wild und sein Atem raste. Es war ihm vollkommen egal, ob er im Kreis lief oder nicht. Er fühlte sich wie eine Fliege, die dem Netz der Spinne im letzten Moment entkommen war. Irgend etwas sagte ihm, dass er nicht stehen bleiben durfte, was immer auch geschah. Aber wie lange konnte er durchhalten? Wann würde er einfach aufgeben müssen? Panik rollte wie eine Welle heran und brandete gegen die Mauer der Vernunft, die seinen Verstand davor bewahrte in den Abgrund zu rutschen auf dessen Grund nur noch Instinkte herrschten. Als ihn etwas sanft wie eine Feder im Nacken berührte verlor er die Beherrschung und begann zu kreischen. Sein Verfolger bewegte sich völlig lautlos und konnte offenbar mühelos mit ihm Schritt halten. Es hatte keinen Sinn noch weiter davon zu laufen, aber dennoch rannte Jonathan weiter. Er versuchte sogar seine Geschwindigkeit noch zu steigern. Er hatte die Verwandlung vom Menschen, der glaubte seine Umgebung zu jeder Zeit zu beherrschen zur Beute die nicht anders konnte als zu fliehen endgültig vollzogen. Jahrtausende altes längst vergessenes Erbe brach sich seine Bahn und brachte Jonathan dem Tier näher, das auch nach unzähligen Generationen noch irgendwo in ihm war. Sein Kreischen brach ab, als er sich verschluckte und keuchend hustete. Er begann zu taumeln und musste schließlich völlig erschöpft stehen bleiben. Eine seltsame Gleichgültigkeit machte sich in seinen Gedanken breit und verdrängte die Panik. Sein Körper wappnete sich für das Unvermeidliche. Da war es wieder. Das Pochen das langsam näher kam. Und noch näher. Erneut hörte er den gleichmäßigen Atem seines Verfolgers. „Du hast die Dunkelheit gesehen“ sagte eine vertraute Stimme. Jonathan fuhr herum und starrte angestrengt zu der Stelle hin, an der der Sprecher stehen musste. War es tatsächlich der fette Kerl, der ihn irgendwie hierher in die Dunkelheit verfrachtet hatte, oder war es eine Täuschung, die ihn in Sicherheit wiegen sollte? Aber wozu sollte ein Jäger Beute täuschen, die ihm ohnehin nicht entkommen konnte? Vielleicht nur um sie zu verhöhnen. Jonathan unterdrückte den Impuls erneut zu fliehen – nur für den Fall, dass seine Vermutung stimmte und streckte stattdessen den Arm in die Richtung aus, aus der die Stimme gekommen war. Seine Fingerspitzen stießen gegen etwas Warmes, Weiches. Es fühlte sich an wie ein Mensch. Ein übergewichtiger, schwabbeliger Mensch. Es war der Dicke. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, als es plötzlich hell wurde. Jonathan kniff die Augen zusammen, als sie wegen des gleißend hellen Lichts heftig zu tränen begannen. Erst nach und nach gewöhnte er sich wieder an das Licht und konnte es schließlich wagen die Augen wieder vollends zu öffnen. Vor ihm stand geduldig abwartend der fette Glatzkopf und lächelte ihn freundlich an. „Du hast es geschafft“ sagte der Kerl leichthin und ignorierte den mörderischen Ausdruck im Gesicht seines Gegenübers. „Was geschafft?“ zischte Jonathan. „Was geht hier eigentlich vor? Er trat drohend einen Schritt auf den Dicken zu, der daran aber keinen Anstoß zu nehmen schien und auch kein bisschen eingeschüchtert wirkte. Jonathan spürte wie die Unsicherheit, die er bei dem Anderen hatte hervorrufen wollen nun an ihm selbst zu nagen begann. Er begann sich zu fragen, was sich hinter der harmlosen Fassade des dicklichen Mannes verbergen mochte. An diesem Ort – oder all den verschiedenen Orten die sich innerhalb von was auch immer hintereinander reihten war nichts so wie es schien. Vielleicht war auch alles gar nicht real. Lag er in Wahrheit angeschnallt auf einem Bett, aufgegeben als hoffnungsloser Verrückter und fantasierte? „Was du hier siehst ist nicht Wirklich. Aber auch keine Fantasie. Es ist nichts, was du mit den Worten deiner Sprache ausdrücken könntest.“ Jonathan zuckte zusammen. Konnte der Kerl seine Gedanken lesen? Und was sollte das heißen, seine Sprache. Jonathans Theorie, dass sich alles was er momentan erlebte nur in seiner Fantasie abspielte erhielt dadurch neue Nahrung. Der glatzköpfige Kerl verhielt sich genau so wie man es von einer geheimnisvollen Figur in einem fantastischen Roman erwarten würde. Jonathan spürte wie er langsam ruhiger wurde. Es hatte keinen Sinn sich über Dinge aufzuregen, die gar nicht wirklich passierten. Es war völlig egal was hier mit ihm geschah. Wenn er aufwachte würde ohnehin alles wie weggewischt verschwinden. Und wenn er nicht mehr erwachte... nun, dann würde es auch irgendwann vorbei sein. Zum ersten mal seit – waren es Stunden oder Tage – fühlte er Müdigkeit in sich aufsteigen und gähnte ausgiebig. Seltsam; in einem Traum müde zu werden, den man träumt weil man nicht aufwachen kann. „Du kannst es nicht begreifen, also hör auf dir den Kopf darüber zu zerbrechen“ sagte der Dicke. Er hob abwehrend die Hand als Jonathan etwas erwidern wollte. „Ich habe meine Aufgabe erfüllt. Du kannst durch die Tür gehen.“ Er streckte einen Arm der kaum dünner als der Stamm eines mittleren Baumes war aus und deutete auf die Tür, die plötzlich ein Stück weit offen stand. Jonathan hatte keine Ahnung was sich dahinter befand, aber er setzte sich dennoch in Bewegung. Was hätte er auch sonst tun sollen. Er war froh, wenn er so schnell wie möglich aus der Gesellschaft dieses seltsamen Kerls verschwinden konnte bevor der ihn wieder mit einer unangenehmen Überraschung konfrontierte. Vielleicht traf er hinter der Tür auf einen geistig gesunden Menschen, der ihm sagen konnte was hier vorging und wie man diesen Ort ein für allemal verlassen konnte. Vielleicht war die Tür aber auch nur der Weg, der aus seiner Fantasie hinaus in die Wirklichkeit führte. Bevor er über die Schwelle trat blieb er unsicher stehen und sah noch einmal zurück. Der fette Glatzkopf grinste ihm immer noch mit diesem dümmlichen, irgendwie jovialen Gesichtsausdruck zu. Jonathan wandte sich von ihm ab, machte einen halben Schritt und blieb erneut stehen. Was wenn er tatsächlich erwachte nachdem er die Tür durchschritten hatte? Was wenn ihm das, was in der Realität auf ihn wartete überhaupt nicht gefiel? Für einen winzigen Augenblick dachte er daran hier zu bleiben. In diesem Nichts, in dem es nur ihn und den seltsamen Glatzkopf gab. Eine Umgebung in der kaum irgendwelche Probleme zu erwarten waren. Ewige Monotonie, bis er eines Tages starb. Er verwarf den Gedanken. Wenn er hier blieb würde er den Verstand verlieren und nur noch dahin dämmern. Ein Halb-Leben das gleichbedeutend war mit dem Tod. Über was denkst du da eigentlich nach verdammt? Du hattest einen Autounfall und bist irgendwie in Alices Wunderland geraten. Da stimmt doch etwas nicht. Jonathan wusste, dass die mahnende Stimme recht hatte. Er stolperte ziellos durch eine Welt, die es in dieser Form nicht geben konnte; nicht geben durfte, handelte aber dennoch nach den absurden Regeln die sie ihm aufzwang. Warum er das tat konnte er nicht genau sagen. Er spürte keinen äußeren Zwang, keinen Sog der Ereignisse Trotzdem verhielt er sich wie ein dressiertes Hündchen. Auch jetzt wo er darüber nachdachte verhielt er sich genau so wie es ein unsichtbarer Beobachter, für den er nicht mehr war als ein Versuchstier von ihm erwarten mochte. Er machte einen großen Schritt und trat endgültig durch die Tür.