Schlag doch zu! Autobiografie

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Sie wäre auch sehr schnell wieder daheim gewesen, wenn es Fliegeralarm gegeben hätte, da es zu dieser Nachbarin wirklich nur wenige Schritte weit war. Und weil solche Besuche sich niemals bis in spätere Abendstunden erstreckten, durfte Ursel auch ohne Probleme mitkommen, denn so ganz alleine wollte Mutti nicht gerne über die Straße gehen, andererseits mochte sie auch nicht ihrer Tochter das Kleinkind anvertrauen, wenn diese nur auf sich allein gestellt war.

Eine meiner ersten eigenen Erinnerungen ist die Erinnerung an einen Traum, jedenfalls wurde letztendlich bewiesen, dass es ein Traum gewesen war, wenn auch das Erlebnis so nachhaltig in meinem Gedächtnis haften blieb, dass ich damals wohl kaum unterscheiden konnte, ob es sich dabei um einen Traum oder um ein reales Erlebnis gehandelt haben mochte:

Zur frühen Abendstunde in meinem Kinderbett liegend, musste ich , also ich musste dringend zur Toilette, um „Groß“ zu machen, wie man damals, zumindest in unserer vornehmen Familie, sagte. Aber ich verließ das Bett nicht, konnte das auch noch gar nicht alleine, sondern verrichtete mein Geschäft unmittelbar im Bettchen.

Dabei achtete ich besonders streng darauf, dass jedes der ausgeschiedenen braunen Teile eine gleichbleibende Länge von etwa drei Zentimetern hatte. Davon produzierte ich nun so viele, dass ich alle kleinen runden Würstchen in gleichbleibenden Abständen von zwei Zentimetern rings um den Bettrand von innen legte, so dass ich wie von einer harmonischen Kette umgeben war, die geradezu malerisch und exakt ausgerichtet mich im Bettchen liegend einrahmte.

Diese so genau ausgerichtete Kette fand ich so besonders schön und anheimelnd, dass ich nach fertiggestellter Arbeit mich friedlich und froh inmitten dieses umrandeten Feldes niederließ, um wohlgefällig mein Werk zu betrachten und Freude zu empfinden.

Ob dieser Traum auf eine vielleicht noch sich entwickelnde Pedanterie hinwies oder auf mein absolut immer im Vordergrund stehendes Harmoniebedürfnis, ließ sich niemals genau feststellen, da beide Eigenschaften hin und wieder in besonderer, leicht abgewandelter Form hervortraten sowohl beim Spielen als auch bei bestimmten Aufräumarbeiten oder bei Gestaltungsaufgaben in meinem eigenen Bereich.

Pedanterie als übertriebene, engherzige Genauigkeit oder als übersteigerter Ordnungssinn, verbunden mit peinlicher Genauigkeit wären natürlich Eigenschaften, die man sich bei einem zukünftigen Lehrer seitens der Schüler überhaupt nicht wünschen möchte, aber auch seitens anderer Lehrer oder auch Eltern als außerordentlich negativ einstufen möchte, wenn sie in solch abzulehnender krassen , wie im Lexikon beschriebenen Form auftritt.

Wobei ich manchmal pedantisch eigentlich nur mir selbst gegenüber war. Aber möglicherweise war diese Pedanterie auch nur ein für mich selbst besonders ausgeprägtes Harmonieverständnis und Harmoniebedürfnis, das mich häufig dazu brachte, Streitigkeiten zu vermeiden oder auch zu schlichten, wenn ich das konnte.

Harmonie hat sicher immer etwas mit Ordnung und mit absoluter Geborgenheit zu tun, die keine chaotische Unordnung verträgt, weil diese störend ist und dem Harmoniebedürfnis widerspricht.

Meinen Traum hatte ich niemandem erzählt, und außer mir selbst konnte daher auch niemand solche Schlüsse ziehen, die auch nur im entferntesten auf eine mögliche Kleinigkeitskrämerei in meinem Charakter hinweisen konnte.

Meine Mutter jedenfalls hatte eine völlig andere Version dieses Abends in Erinnerung als das, was ich in meinem so sehr nach Harmonie strebendem Traumbild behalten hatte.:

Mutti war mit Ursel zu der Nachbarin um die Ecke gegangen, um dort ein wenig zu plaudern.

Natürlich hatte sie sich vor dem Weggehen davon überzeugt, dass ihr Bübchen fest schlief, frisch gewickelt war und auch sonst friedlich und sicher im Kinderbettchen verstaut war. Gewohnheitsgemäß konnte sie davon ausgehen, dass der Bub eine Schlafruhe von mindestens zwei Stunden einhielt, so dass es mit ihrer Rückkehr nicht allzu eilig erschien. Selbstverständlich war auch gesichert worden, dass Bübchen vorher noch auf dem Töpfchen sein großes Geschäft verrichten sollte, auch wenn das nicht zum gewünschten Erfolg geführt hatte. So musste Mutti annehmen, dass alles in Ordnung wäre. Offenbar hatte sich diese Annahme als gravierender Irrtum herausgestellt. Schon beim Betreten des Hauses bei ihrer Rückkehr stellte sich die unten wohnende Nachbarin in den Weg, um aufgeregt zu berichten, dass ich oben stundenlang fürchterlich gebrüllt hätte. Voller Unruhe hastete Mutti nun nach oben, öffnete ängstlich die Türe und bemerkte zuallererst einen penetranten scharfen Geruch nach Kot.

Ihr erster Blick galt natürlich dem kleinen Jungen, der offensichtlich in der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit erwacht war und geschrien hatte. Zu ihrer Beruhigung stellte sie fest, dass Bübchen friedlich lächelnd in der Mitte seines Kinderbettes lag und fest schlief.

Doch das, was noch zu sehen bzw. riechen war, rief ein wahres Entsetzen hervor, besonders bei Schwester Ursel, die ebenfalls inzwischen das Zimmer erreicht hatte.

Nicht nur der kleine Bursche, seine Haare, seine Finger, seine Ohren seine Beine, sondern das ganze Bettchen, die Gitterstäbe des Bettes, die Umrandung des Bettes, das gesamte Oberbettchen, das Laken, das Rosshaarkopfkissen sondern auch Teile des Fußbodens rings um das Bett waren fein säuberlich stark deckend mit braunem, leicht angetrocknetem Kot beschmiert.

Mutti recherchierte, dass ich also schon bald nach ihrem Weggang wach geworden sein musste, da ich offenbar einen starken Drang verspürte, dem ich dann nachgegeben hatte. Natürlich hatte ich während der ganzen Zeit extrem laut geschrien. Als auf den lauten Hilferuf hin keine menschliche Seele dem Knaben half und diesem die feuchtwarme Masse an seinem Allerwertesten recht unangenehm war, griff dieser dann zur Selbsthilfe, löste den Windelpuck, befreite sich, wahrscheinlich immer noch weinend und schreiend von der klebrigen Masse, die er dann regelmäßig und konsequent tatsächlich ringsherum im ganzen Bett verteilte. Nach Abschluss dieser anstrengenden Aktion hielt es das Kind wohl für richtig, sich nach vollendeter Arbeit zur Ruhe zu legen und friedlich lächelnd einzuschlafen und sich so im Traume die Geborgenheit zu schaffen, die es während des Vorganges so stark vermisst hatte. Dadurch wurde mir vielleicht das frustrierende Erlebnis erspart, das Kleinkinder besonders schlimm empfinden, wenn sie im Dunkeln alleine erwachen und sich niemand um sie kümmert.

Die Reinigungsarbeiten am Kind, am Bett und ums Bett herum dauerten Stunden, während der Urheber des ach so schönen, schnöden Werkes weiter den Schlaf des Gerechten schlief.

Womit sollte der Reinigungsprozess beginnen? Sich dem Kinderbett zu nähern, um das Kind herauszunehmen, bedeutete, dass man in Kot treten musste. Also galt die erste Sorge dem Beschaffen eines Putzeimers mit den dazu passenden Utensilien.

Das holte Ursel schnell herbei, froh dem penetranten Gestank entronnen zu sein, wenn auch nur für ganz kurze Zeit. Nach dem Fußboden wurden zuerst notdürftig die Holzgitterstäbe des Kinderbettes gereinigt. Danach musste die schmutzige Brühe in den Toilettentopf entsorgt werden. Eine Windel wurde geopfert, um den Kleinen damit aus dem Bett zu heben und zu entkleiden.

Inzwischen hatte Ursel die kleine Zinkbadewanne mit warmem Wasser gefüllt, mit vereinten Kräften wuchteten die beiden dieses Teil auf den Stuhl, den Mutti neben das Kinderbett gestellt hatte, um dort den beschmierten Knaben zu baden. Nach dieser Prozedur, bei der ich zu Muttis Leidwesen kaum erwachte und deshalb viel schwerer wirkte als im munteren Zustand, durfte Ursel helfen, mich abzutrocknen, zu wickeln und neu mit einem Nachthemd zu bekleiden.

Danach musste sie mich zum Sofa tragen und bewachen, während Mutti die Reinigung des Bettes vollendete, was natürlich nicht ohne Wasser möglich war, so dass meine Matratze ebenfalls nass wurde. Deshalb konnte ich anschließend nicht wieder in das sichere Kinderbett gelegt werden.

Da Mutti nicht mit mir zusammen in ihrem Bett schlafen konnte, legte sie mich in einen Sessel, den sie so gegen die Wand schob, dass ich nicht herausfallen konnte. Von diesen Schwerstarbeiten bekam ich überhaupt nichts mit, weil ich gar nicht richtig erwachte, obwohl Mutti fürchterlich mit mir geschimpft hatte und auch sonst nicht gerade leise war bei ihren Reinigungsbemühungen. Sie war wohl sehr böse auf mich, dass ich ihr das angetan hatte, obwohl sie doch vorher dafür Sorge getragen hatte, dass ich wie immer mein Geschäft auf dem Töpfchen erledigen konnte und musste.

Was war nun Wahrheit, der schöne Kindertraum oder das böse Erwachen von Mutti und meiner Schwester Ursula? Ich jedenfalls wollte das nie genau wissen und erinnerte mich deshalb zeitlebens nur an den Traum und nicht an das Unangenehme dieser Angelegenheit.

Die Wohnung in Muffendorf hatte einen gewaltigen Nachteil. Sie lag viel zu hoch oben. Mutti scheute es, die vielen Stufen mit mir oder auch nur so zum Einkaufen hinunterzusteigen, weil das zu anstrengend für sie war. Ursel konnte zwar schnell und ohne allzu große Kraftanstrengung diese ganze Treppe hinauflaufen, wobei es runter noch viel schneller ging, weil sie meistens das Treppengeländer hinunterrutschte, sehr zu Muttis und vor allen der Nachbarinnen Leidwesen, die das aus welchen Gründen auch immer nicht billigen mochten.

Natürlich nahm Mutti es in Kauf, dass sie täglich einmal zum Einkauf die Stiegen bis zur Haustür hinunter benutzen musste, obwohl der Einkauf selbst immer knapper ausfiel, weil das Warenangebot in den Läden immer spärlicher wurde.

Andererseits aber liebte Mutti Spaziergänge, auf die sie nicht verzichten mochte und es gab bei den benachbarten Landwirten doch das eine oder andere zu kaufen, zu tauschen oder auch zu schnorren, wenn diese nachbarlichen Bauern Mitleid hatten mit mir, dem kleinen blassen Buben mit den großen blauen Kinderaugen.

 

Oft wartete Mutti, bis Ursel aus der Schule kam, um dann alleine hoch zu laufen, während Ursel gleich unten blieb, um mit mir zu spielen oder mich auch nur zu beaufsichtigen, bis Mutti oben das Essen fertig hatte und uns durch das Fenster hineinrief.

Immer häufiger kam es allerdings zu Fliegeralarmen, die ganz besonders in den Abend- und Nachtstunden zunahmen. Dann mochte Mutti überhaupt nicht die vielen Treppen hinunter laufen. Sie nahm mich regelmäßig auf den Arm, bedeutete mir durch Fingerzeig auf ihren und auch auf meinem Mund, dass ich absolut ruhig bleiben sollte, flüsterte auch Ursel eindringlich zu, nur ja keinen Mucks von sich zu geben.

Fast regelmäßig riefen dann die Nachbarinnen von unten unsere Namen, manchmal war auch eine Männerstimme zu hören, wohl die des Blockwartes. Aber wir rührten uns nicht. Mutti hatte einfach mehr Angst, die Treppe hinunter zu gehen als davor, dass es eventuell in unser Haus einschlagen könnte. So saßen wir im dunklen Flur auf der Treppe, hörten in der Ferne oder auch näher die Einschläge von Bomben, oft auch starke Motorgeräusche von Flugzeugen.

Immer waren wir froh, dass wir nicht in den Bunker geeilt waren, natürlich auch sehr erleichtert, wenn die Sirenen Entwarnung verkündeten und der ganze Spuk vorüber war.

Trotz meines geringen Alters hatte ich sehr wohl schon begriffen, dass es darum ging, nicht in den engen, menschenüberfüllten Bunker zu müssen, den ich mehr hasste als alles andere, was mich in jener Zeit bedrücken konnte. Deshalb war ich auch immer sehr artig und still, wenn andere daran zweifelten, dass wir das Haus verlassen hätten beim Fliegeralarm. Auch nach der Entwarnung nahm die hochnotpeinliche Vernehmung kein Ende, wenn die neugierigen Nachbarinnen wissen wollten, wo wir denn während des Angriffs gewesen wären, da uns auch keine Menschenseele habe zurückkommen sehen.

Mutti war nie um eine Lüge verlegen, Notlügen nannte sie das. Entweder waren wir zufällig gerade unterwegs gewesen und dort in den nächstliegenden Bunker geflüchtet, oder wir waren wieder einmal zu Besuch bei der Großmutter und mit dieser in den hauseigenen Luftschutzkeller gegangen. Trotz aller Zweifel mussten die Nachbarn diese Aussagen glauben, da sie auch von Ursel und mir bestätigt oder nicht in Frage gestellt wurden.

Tatsächlich richteten die ständigen Bombenangriffe, tagsüber auf militärische Ziel und nachts auf alle möglichen Städte und Stadtzentren erheblichen Schaden an, viele tausend Menschen fielen diesen Bombenteppichen zum Opfer. Wie nah wir oft waren, mag man daran sehen, dass in der Nacht vom 11. zum 12. Juni 1943 2000 Bomben auf Düsseldorf geworfen wurden, wobei die ganze Stadt in Flammen stand und 120.000 Menschen obdachlos wurden.

Die Alliierten bombardierten in den folgenden Nächten Bochum, Oberhausen, Krefeld, Mülheim an der Ruhr und Wuppertal-Elbehrfeld, Städte die komplett in Schutt und Asche gelegt wurden. Schwere Angriffe folgten auf Gelsenkirchen und Köln, das zum wiederholten Male heftig angegriffen wurde.

So rissen in der Nacht vom 28. zum 29. Juni Bombeneinschläge einen Teil des Kölner Doms weg. Es kamen nicht nur mehr als 500.000 Menschen durch die Flächenbombardierung um, sondern es wurden auch unschätzbare Kulturdenkmäler zerstört.

Trotz aller Durchhalteparolen der NS-Führung verloren die Menschen mehr und mehr das Vertrauen zu ihrem Führer, immer häufiger kam es zu offenen Revolten.

Zahlreiche Evakuierungen sollten dafür sorgen, dass Mütter und Kinder in Sicherheit gebracht wurden, obwohl es kaum noch größere Städte gab, in denen man wirklich sicher sein konnte.

Wir wurden nach Braunschweig evakuiert. Mutti hatte sich dafür etwas ganz Besonderes ausgedacht, weil sie gerne ein paar Möbel und Gebrauchsgegenstände mitnehmen wollte, die mit der Bahn sehr schlecht zu transportieren waren.

Sie hatte ein Fuhrunternehmen ausfindig gemacht, das zur Zeit unserer Evakuierung, Ende Oktober 1943, einen Transport in Richtung Braunschweig durchführen musste. So konnte Mutti ihre Habseligkeiten auf die offene Ladefläche eines Salztransporters deponieren.

Auch wir selbst mussten auf der Ladefläche mitfahren. Das Abenteuer begann spät abends in der Dunkelheit. Mutti hatte in der Mitte des mit den schweren Salzsäcken beladenen Lastwagens zwischen den Säcken eine Lücke entdeckt, die groß genug war, jeweils eine kleine Person aufzunehmen, so dass wir dort im Kreis auf den Salzsäcken sitzen und die Beine in dieses Loch stecken konnten.

Der Wagen fuhr nicht besonders schnell, da er trotz der Dunkelheit nicht, oder meistens nicht mit Licht fahren durfte, um nicht als Ziel für feindliche Schützen oder Flieger sichtbar zu sein. Trotzdem war der nächtliche Fahrtwind so kalt, dass wir schon sehr bald schnatterten und zitterten vor Kälte.

Da mir das Sitzen oben auf den Säcken sowieso ausgesprochen schwer fiel, hatte ich schon sehr bald entdeckt, dass in dem Loch, in das ich hineinrutschte, eine sehr angenehme Wärme herrschte ohne den entsetzlichen, eisig kalten Fahrtwind.

Natürlich blieb meine Entdeckung kein Geheimnis, und auch Ursel wollte hin und wieder in den Genuss einer etwas behaglicheren Fahrt kommen, die das Loch mit seiner Wärme tatsächlich bot. Das führte einerseits zu einem Streit, weil tatsächlich nur wirklich eine einzige kleine Person diesen geschützten Raum nutzen konnte, nicht einmal Mutti, die dafür zu groß war, andererseits flossen wegen der abscheulichen Kälte und dem elementaren Bedürfnis, uns in diesem Loch aufwärmen zu können auch reichlich viele Tränen.

Denn immer, wenn Mutti dafür sorgte, dass auch Ursel sich aufwärmen durfte, flossen meine Tränen nicht nur, weil ich den schönen Platz für mich allein beanspruchte, sondern vor allem, weil die Kälte tatsächlich schmerzhaft in die Haut biss. Auch Ursel weinte, wenn sie ihrerseits nach einigen Minuten ihrem Brüderchen Platz machen musste.

Nur Mutti harrte tapfer aus und lehrte uns auf diese unfreiwillige Weise, uns sozial und mitfühlend zu verhalten. Auch wenn diese Lehre nicht sofort ihre Früchte zeigte und jeder von uns immer wieder eifersüchtig darauf achtete, dass die Zeit in der Wärme nicht für den anderen etwa ein wenig zu lang ausfiel.

Trotz aller Kälte und aller Strapazen, die diese Fahrt zu einem Horrorerlebnis werden ließ, schlief ich nach einigen Stunden ein. Ich erwachte erst wieder durch ein gleißendes Licht, das durch meine geschlossenen Augenlider drang. Unsanft wurde ich daran erinnert, dass ich nicht daheim in meinem Bettchen schlief sondern auf einer harten Bank, den Kopf in Muttis Schoß gebettet.

Daneben hockte meine Schwester, die ebenfalls ihren Kopf von der anderen Seite auf Muttis rechter Schoßhälfte gebettet hatte. Davon, dass wir am Ziel des Lastwagens angekommen waren, dort in einem Schuppen Muttis geringe Habe abgeladen hatten und danach bis zum nächsten Bahnhof gelaufen waren, hatte ich nichts mitbekommen, weil ich trotz aller Schaukelei und wechselnder Arme, in die ich gelegt wurde, nicht ein einziges Mal aufgewacht war, selbst dann nicht, wenn ich kurz mal abgelegt wurde auf einem Salzsack oder auch einfach auf den Boden, wenn gar nichts anderes frei war.

Nur dieses helle Licht hatte meinem Tiefschlaf ein Ende gesetzt. Helles Licht war auch wirklich in jenen Tagen recht ungewöhnlich, in denen es immer wieder darauf ankam, möglichst alles nach draußen zu verdunkeln und auch möglichst selten überhaupt Licht einzuschalten wegen der Gefahr, vom Feind gesehen zu werden oder weil gerade mal ein Erlass des Führers dafür Sorge trug, dass Energien nicht unnötig verschwendet wurden.

Aber Braunschweig war zu diesem Zeitpunkt noch relativ frei, der Feind offenbar noch weit fort, so dass man zumindest auf diesem Bahnhof einmal nicht mit dem Licht sparen musste. Außer dem Licht störte mich auch der Lärm auf dem Bahnsteig und die ständigen lauten, unangenehm klingenden Durchsagen, die bekannt gaben, welcher Zug auf welchem Bahnsteig zu erwarten wäre, welcher Zug ausgefallen war, und welche Soldaten sich wo bei ihrer Einheit zu melden hätten. Schlaftrunken, wie ich war, aber auch wegen meines Alters verstand ich sehr wenig von den lauten Aufrufen.

Nach stundenlanger Warterei erkämpfte Mutti sich mit uns beiden einen Platz in einem Zugabteil, dabei heftig mit einem Soldaten streitend, der den Sitzplatz beanspruchte, den Mutti eingenommen hatte, damit Ursel auf ihrem Schoß sitzen konnte und ich in ihren Armen liegen und weiter schlafen.

Irgendjemand hatte dann Mitleid mit dem offenbar verwundeten Soldaten, der der Meinung gewesen war, dass Mütter mit kleinen Kindern in diesen Zeiten eigentlich nichts in einem öffentlichen Zug zu suchen hätten, sondern brav und fromm in ihre Wohnungen gehörten, um dort auf ihre Kinder aufzupassen und auf die Feldpost zu warten.

So gelangten wir dann zu der uns zugewiesenen Wohnung, die im ersten Stock eines Zweifamilienhauses lag. Auch dort vermisste ich als erstes unser schönes Büffet, konnte mich aber sonst recht gut zurechtfinden, war auch schon selbständig genug, um alleine hinauszugehen und auf dem Gehweg vor dem Haus zu spielen, wie fast immer allein. So war ich es gewöhnt und entbehrte auch deshalb nichts.

Auch in Braunschweig hatte Mutti sehr schnell Freunde gefunden, mit denen ein ähnlicher Kaffee-Klatsch-Kult betrieben wurde, wie sie es von Essen her gewohnt war und in Muffendorf pflegen konnte. Die von ihr auserkorene Familie hieß am Berge, die Frau lebte allein etwa zweihundert Meter entfernt von unserer Wohnung in einer Seitenstraße ebenfalls im ersten Stock in einer möbliert abgegebenen Wohnung.

Frau am Berge war etwas älter als Mutti und hatte schon weiße Haare. Sie war außerordentlich freundlich, besonders zu mir, da sie selbst im Laufe des Krieges kinderlos geworden war, ihr einziger Sohn war leider gestorben nach einem tragischen Unfall beim Spielen in der Hitlerjugend. Er wäre aber auch zu dem Zeitpunkt schon achtzehn Jahre alt gewesen und möglicherweise Soldat geworden und vielleicht auch in dieser Tätigkeit bereits an irgendeiner der vielen Fronten gefallen.

Jedenfalls mochte Frau am Berge uns Kinder besonders und steckte uns häufig Süßigkeiten zu, wann immer wir sie zusammen mit Mutti besuchten. Da ich deshalb sehr gerne dorthin ging, hatte ich mir natürlich genau den Weg zu ihrer Wohnung gemerkt.

Dank meines unruhigen Schlafes kam es sehr häufig dazu, dass ich des Abends und in der Nacht immer wieder einmal aufwachte. Bei solcher Gelegenheit stellte ich trotz der herrschenden Dunkelheit eines Abends sehr schnell fest, dass meine unentbehrliche Mutti nicht zu Hause war. Ebenso bemerkte ich, dass Ursel fest schlief.

Also beschloss ich ausnahmsweise, mich nicht lautstark bemerkbar zu machen, zum Beispiel durch ein paar Tränen oder durch lautes Rufen, sondern meine Mutter suchen zu gehen. Denn sie hatte sich vorher, vor der angesagten Nachtruhe für uns Kinder, nach dem Abendbrot noch abgemeldet, so dass Ursel sie ohne Problem bei Frau am Berge finden würde, wenn etwas los wäre.

Denn genau dort wollte Mutti den Abend verbringen, es sollte Frau am Berges Geburtstag gefeiert werden.

Inzwischen war ich auch groß genug, um allein aus dem Kinderbett zu krabbeln. So schnell ich konnte, verließ ich also mein Gitterbettchen, bewegte mich ausgesprochen leise, um Ursel nicht zu wecken. Denn ich hatte beschlossen, Mutti allein bei Frau am Berge aufzusuchen.

Trotz des relativ warmen Herbstwetters war es abends leicht frostig geworden, so dass ich es für besser hielt, über mein Nachthemd einen Mantel anzuziehen.

Das Nachthemd bestand aus dem Nessel eines alten Betttuches, welches an einigen Stellen zerschlissen war und von einer freundlichen Nachbarin in Muffendorf, die eine Nähmaschine besaß, zu einem Nachthemd zugeschnitten und genäht worden war. Es reichte mir bis zu den Fußknöcheln, während der Mantel, ebenfalls extra für mich genäht aus grauem Uniformstoff einer nicht mehr gebrauchsfähigen Uniformjacke, nur gerade über den Po ging bis nicht ganz zu den Knien.

Derart abenteuerlich bekleidet, mit einer von meiner Schwester abgelegten, kaputten Puppe im Arm, marschierte ich tapfer, barfuß die Treppe hinunter, ließ geflissentlich die Haustür einen Spalt offen, um später wieder hineinzukommen, tänzelte über die kalten rauen Steine des Bürgersteigs hundertfünfzig Meter bis zur Straßenecke, bog dort nach rechts ab, um weitere fünfzig Meter zu laufen bis zur Wohnung von Frau am Berge, an deren Haustür ich zaghaft klopfte, allerdings zunächst ohne Erfolg.

Unbemerkt war mir ein Polizist gefolgt, der nun nach meinem Begehr fragte.

Unbefangen erklärte ich ihm, dass ich zu meiner Mutti wollte, die oben bei Frau am Berge säße und mit dieser Geburtstag feiere, und dass ich an dieser Feier teilnehmen wollte.

 

Der Polizist schellte und begleitete mich noch hinauf bis in die Wohnung, wo er mich lachend abgab und erzählte, wie ich wie ein kleiner Pausbackenengel über die Straße gelaufen wäre, und dabei nicht nur seine Heiterkeit erregt hätte, sondern auch einige Beobachter an den Fenstern der Häuser, an denen ich vorübergekommen war.

Er gratulierte auch herzlich zum Geburtstag, was Frau am Berge sehr in Erstaunen versetzte, denn sie hatte nicht erwartet, dass ich auch dieses dem Polizeibeamten erzählt hätte oder überhaupt wusste. Auch Mutti und Frau am Berge lachten herzhaft, als sie sich bildlich vorstellten, wie ich in meinem abenteuerlichen Gewand, wie ein kleiner Engel ohne Flügel allein über die dunkle Straße irrte.

Glücklich über meine selbständige, gelungene Aktion, saß ich stolz auf Muttis Schoß und genoss es, Mittelpunkt zu sein, und von Frau am Berge noch etwas Süßes zu bekommen.

Lange noch hatten Mutti und Frau am Berge darüber gelacht, wenn sie sich vorstellten, wie ich in der eigentümlichen Nachtbekleidung über die Straße geeilt war.

Noch mehr als dieses einmalige Erlebnis in Braunschweig genoss ich eigentlich, wenn Mutti sich mit mir ausgiebig beschäftigte, mir zum Beispiel abends vor dem Schlafen aus Grimms Märchenbuch vorlas oder mir eines der wenigen Schlafliedchen vorsang, die sie kannte. Eines meiner Lieblingsmärchen war das Märchen von den sieben Geißlein, das ich gar nicht oft genug hören konnte. Dabei achtete ich streng darauf, dass Mutti sich nicht versprach oder etwas vergaß, denn natürlich kannte ich das Märchen auswendig.

Gerne hörte ich auch das Märchen von Hänsel und Gretel, konnte aber überhaupt nicht verstehen, dass es so böse Eltern geben könnte, die ihre Kinder einfach aussetzen wollten, denn auch bei uns herrschte Not, und ich bekam, ebenso wie meine Schwester, nicht jeden Tag satt zu essen. Lange diskutierte ich dann mit meiner Mutter darüber, warum denn der Vater seiner neuen Frau, der Stiefmutter von Hänsel und Gretel, nicht widersprochen hätte.

Das interessierte mich bei weitem mehr, als die unglaubliche Geschichte von der Hexe, an die ich schon damals nicht recht glauben mochte, da ich das Vorhandensein von Hexen für schlecht unmöglich hielt. Andererseits glaubte ich wieder sehr gerne, dass die Tiere den Kindern halfen, den Weg nach Hause wiederzufinden. Mein sowieso sehr wenig ausgeprägtes Sohnesempfinden für meinen Vater wurde durch dieses Märchen nicht gerade gestärkt, da ich in der mangelhaften Kenntnis meines eigenen Vaters nur zu gerne annahm, dass Väter grundsätzlich nicht die gleiche Liebe für ihre Kinder empfinden konnten wie die leibliche Mutter.

Für ebenfalls recht unglaubwürdig hielt ich es, dass eine Stiefmutter dem Schneewittchen nach dem Leben trachtete, nur weil diese schöner war, als sie selbst. Für sehr gut möglich hielt ich es wiederum, dass es Zwerge gäbe und Prinzen, die das Schneewittchen erlösten, wenn auch da wieder das Ende der bösen Hexenstiefmutter mir doch allzu grausam und unwirklich vorkam.

So gab es für mich reichlich Diskussions- und Gesprächsstoff mit Mutti, da ich alle Märchen, die ich hörte, sehr genau analysierte und nicht nur als bloße Unterhaltungsquelle hinnahm. Leider bekam ich nur allzu oft von meiner Mutti die Antwort, dass ich noch viel zu klein sei, um das genau zu verstehen, was sie mir nicht erklären konnte oder wollte.

Der Sieg des Guten über das Böse wurde mir zu einem inneren Ritual, das einfach immer und überall Gültigkeit haben musste, wenn meine kleine Welt Bestand haben sollte. Alles Böse war mir Gräuel.

Natürlich gab es manchmal Zweifel, was denn als böse einzustufen sei, was eher noch gerade erlaubt sein könnte und was letztendlich wirklich böse war.

Wenn, was selten vorkam, Mutti mir einen Klaps gab, weil ich zum Beispiel etwas nicht essen wollte, was sie mir anbot oder wenn ich geschlabbert hatte statt aufzupassen, erhob auch ich meine Hand, um den Klaps zurückzugeben, weil ich eine solche körperliche Züchtigung grundsätzlich als ungerecht empfand.

Regelmäßig drohte Mutti dann damit, dass mein Händchen aus dem Grab wachsen würde, wenn ich es gegen die eigene Mutter erhöbe. Darüber dachte ich stundenlang nach und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass auch das, was Mutti da behauptete, nicht unbedingt wahr sein müsse. Natürlich hatte ich weder eine Vorstellung davon, dass und warum ich möglicherweise in einem Grab liegen könnte. Wohl war mir irgendwie vertraut, dass Menschen und Tiere nicht ewig leben konnten, dass sie auch auf einem Friedhof begraben wurden.

Selbstverständlich hatte ich auch schon mal mit Mutti einen Friedhof besucht, aber dass dort irgendwo Hände herauswuchsen, hatte ich beim besten Willen nicht entdecken können. Deshalb überraschte ich Mutti plötzlich mit dem dringend geäußerten Wunsch, mit ihr auf einen Friedhof zu gehen.

Obwohl ihr dieser Wunsch äußerst befremdlich vorkam und sie auch erklärte, dass wir auf dem Braunschweiger Friedhof niemanden besuchen könnten, den wir gekannt hätten, erfüllte sie mir schließlich meinen Willen, weil ich nicht locker ließ in meinem Bemühen, mit ihr auf einem Friedhof spazieren gehen zu wollen.

Sehr genau betrachtete ich jedes Grab, ließ mir erklären, was einzelne Grabmäler und Inschriften zu bedeuten hätten, fragte nach Blumen und anderem Grabschmuck, ohne jedoch auf mein eigentliches Anliegen zu sprechen zu kommen, nämlich Hände zu sehen, die aus dem Grab herauswuchsen.

Mutti freute sich außerordentlich über ihren so vielseitig interessierten Jungen, der mit seinen noch nicht einmal drei Jahren recht intelligente Fragen stellte.

Ich war nun vollkommen sicher, dass Mutti wieder einmal eine ihrer bekannten und berühmten Notlügen gebraucht hatte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass bei den vielen Gräbern, die wir besichtigt hatten, nicht ein einziger Begrabener dabei war, der nicht mal seine Mutti zurückgeschlagen hatte.

Aber darüber sprach ich nicht mit Mutti, denn ich wollte nicht, dass sie merkte, dass ich ihre Notlüge durchschaut hatte.

Vormittags machte Mutti häufig mit mir Spaziergänge in die nähere Umgebung. Am liebsten wanderten wir zu einem nahegelegenen Park und dort zu einem Ententeich, wo wir manchmal etwas altes Brot ins Wasser warfen und uns darüber freuten, wie die Enten danach schnappten.

Mittags fast pünktlich um zwölf Uhr kochte Mutti irgend etwas, was wir beide immer ganz pünktlich aßen, wenn Ursel nicht spätestens um ein Uhr aus der Schule kam. Mit Ursel zusammen aßen wir immer um ein Uhr. Kam sie später waren wir meistens schon um halb eins mit dem Essen fertig und Mutti legte mich in mein Kinderbett und sich selbst auf das Sofa, wo sie mindestens eine Stunde lang schlief.

Wenn Ursel dann während des Mittagsschlafes von der Schule kam, musste sie sich das noch warme Essen unter der Bettdecke ihres Bettes hervorholen und alleine essen.

Entgegen sonstiger Gepflogenheiten wurde Weihnachten 1943 nicht so feierlich begangen, vor allen Dingen fehlte Vati und es kam auch niemand zu Besuch. Das lag wohl hauptsächlich daran, dass die Wohnung dafür viel zu klein war, aber wohl auch daran, dass in allen Großstädten Deutschlands mehr Bomben fielen als der Führer und sein Volk es sich jemals hatten träumen lassen. Deshalb hatte die Regierung wohl auch jeglichen zivilen Weihnachtsreiseverkehr verboten. Ob noch weitere Gründe für dieses Verbot vorlagen, wurde nicht bekannt gegeben, war denn auch für uns unbedeutend, da wir nicht vorhatten, über die Feiertage irgendwohin zu verreisen oder jemanden zu besuchen.