Schlag doch zu! Autobiografie

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Das zweite Lebensjahr im Jahre 1942

Mutti

Mutti war relativ klein, genau 1,65 m, sehr schmal gebaut, fast dünn zu nennen, und hatte ein längliches Gesicht, das wegen seines extrem schmalen Aussehens schon in jungen Jahren richtig verhärmt wirkte. Ihre Nase war für dieses schmale Gesicht etwas zu groß geraten und hatte am Ende eine leichte knollenartige Verdickung, die aber nicht so unförmig war, dass man sie als hässlich hätte bezeichnen können. Wie alle Frauen litt meine Mutter nicht nur unter diesem kleinen Makel sondern auch darunter, dass sie ihr Gesäß zu dick und ihre Beine zu dünn fand. Ich jedenfalls konnte mir keine schönere Mutti vorstellen.

Eine russische Erzählung oder Anekdote berichtet davon, dass ein kleiner Junge, der seinen Namen noch nicht sagen konnte, seine Mutter im Einkaufsgewühl einer kleinen Stadt verloren hatte und bitterlich weinend nach ihr suchte. Von vielen Passanten gefragt, konnte er nur erklären, dass seine Mamuschka ganz besonders schön sei. Schließlich brachte man das Kind zum Bürgermeister des Ortes, der nach schönen Frauen Ausschau hielt, die möglicherweise die Mutter des Kleinen hätten sein können. Im Ort fand man jedoch die Vermisste nicht. Hilfesuchend wandte man sich an die nächsthöhere Landesbehörde, die den Aussagen des Jungen entsprechend nach Schönheitsköniginnen suchte, da der Kleine behauptet hatte, seine Mutter wäre die schönste Frau der Welt. Auch die Fahndung nach den Schönheitsköniginnen im ganzen russischen Reich brachte nicht die ersehnte Mutter herbei, bis sich eines Tages ein ganz normales Mütterchen meldete, das keineswegs in irgendeiner Weise als besonders auffallend hübsch bezeichnet werden konnte, und ihren kleinen Sohn als vermisst anmeldete. Nur einem Zufall war es zu verdanken, dass sie bei der gleichen Behörde gelandet war wie der kleine Junge, der sie sehend, lachend und weinend auf die Frau zu rannte und laut rief: „Da ist ja meine wunderschöne, allerschönste Mama!“

Jeder, der sich an der Suche nach den Schönheitsköniginnen beteiligt hatte, verstand nun ganz genau, was der Kleine gemeint hatte.

Selbstverständlich tat ich alles, was mir die Liebe meiner Mutter einbringen und erhalten konnte und wurde schon sehr früh ein außerordentlich braver Junge.

Von Natur aus zur Faulheit neigend hatte ich im sogenannten Krabbelalter diesen Abschnitt der Entwicklung geflissentlich übersehen und mich also so gut wie nie unerlaubt in der Wohnung herumkrabbelnd an irgendwelchen Gegenständen vergangen, die zu berühren einem kleinen Kind üblicherweise verboten waren. Trotz aller Warnungen von Tante Traute bekam ich das Laufen auf zwei Beinen relativ gut in den Griff und entwickelte mich dann wider Erwarten relativ normal zu einem homo sapiens, erectus, fest auf den strammen Beinchen stehend und gehend, dabei trotzdem in der Lage den etwas zu dick geratenen Kopf aufrecht zu halten.

Dieser Kopf entwickelte schon sehr zeitig und nachhaltig völlig eigene Gedanken und Ideen, so dass ich trotz aller Artigkeit doch sehr intensiv ein Eigenleben entfaltete und somit auch als eigenwillig oder eigensinnig galt.

Schon in dem zarten Alter von einem Jahr achtete ich streng auf die Einhaltung einmal festgelegter Regeln. Niemals wäre es mir eingefallen, morgens laut zu schreien, wenn die Zeit dafür noch nicht gekommen war. Friedlich spielte ich mit meinen Händen, brummelte auch leise vor mich hin und wartete darauf, dass Mutti mich holte, was regelmäßig immer zur gleichen Zeit erfolgte.

Zum Ritual gehörte das Füttern, danach das Setzen auf das Töpfchen, danach ein Bad im Zinkbullefässchen, wie Mutti die Wanne für mich nannte.

Windeln und jahreszeitangemessene Kleidung mussten angezogen werden. Fehlte etwas oder wurde die Reihenfolge geändert, war meinerseits das Geschrei recht deutlich auch in der Nachbarwohnung noch zu hören. Zum täglichen Ritual gehörte auch der Mittagsschlaf von Mutti, den ich selbstverständlich mit einzuhalten hatte, zumindest hatte ich in der Zeit Ruhe zu bewahren.

Das geschah in aller Regel so, dass ich meistens still in meinem Bettchen lag, dort mit meinen Händen oder entsprechenden Spielsachen aus Holz spielte, ohne jedoch einen Mucks von mir zu geben, denn das erzürnte Mutti nur, was ich auf keinen Fall wollte und mir in diesem zarten Alter schon gemerkt hatte. In diesem Punkt war meine Eigensinnigkeit selbstverständlich voll und ganz von dem Bedürfnis beseelt, es nur Mutti auf jeden Fall recht zu machen, damit sie mir weiter ihre ganze Aufmerksamkeit und Liebe schenkte.

Oft wurde ich auch einfach mit Ursel auf die Straße geschickt, wo Ursel allzu liebevoll mit mir alle möglichen Spiele ausprobierte.

Am 2. Februar, meinem ersten Geburtstag, war es sehr kalt, es hatte heftig geschneit. Die Schneedecke im Garten lag fast dreißig Zentimeter hoch.

Angezogen mit einem weißen Pullover, weißen Strampelhosen und einer blauen kurzen Latzhose darüber sollte ich im Kreise der lieben Familie die Freuden des Winters genießen.

In unserem Garten versuchte Ursel vergeblich, mich auf einem Schlitten so zu platzieren, dass ich von ihr gezogen werden konnte. Eigensinnig bestand ich darauf, dass grundsätzlich jemand mit mir zusammen auf dem Schlitten zu sitzen hatte, an den ich mich anlehnen konnte und der mich ein wenig erwärmen durfte.

Also weigerte ich mich konstant, mich allein auf dem Schlitten festzuhalten, was letztendlich dazu führte, dass einer immer zwei Personen ziehen musste, wenn der Schlitten denn vorwärts bewegt werden sollte, entweder zog Mutti Ursel und mich oder Ursel durfte Mutti und mich ziehen, was mir noch lieber war.

Richtig gefeiert wurde auch mein Ehrentag allerdings erst an Muttis Geburtstag, am 19. Februar. Da war auch Vati da und abends kamen Gäste. Ausdrücklich eine Geburtstagsfeier für das Kind zu organisieren, wäre zu teuer gewesen und hätte ja auch dem Kind nichts gebracht, das sowieso die Bedeutung des Tages nicht erkennen konnte.

So nahm mir auch niemand übel, dass ich mich nicht wie alle anderen Familienmitglieder auf die Ankunft von Vati freute, der mir schon zu jener Zeit fremder war als jeder andere Fremde, der zu uns zu Besuch gekommen wäre.

Überwiegend wuchs ich heran ohne jeden väterlichen Beistand, denn Vati war ja wegen des Krieges nicht zu Hause. Außerdem hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass er in Holland eine einheimische Freundin hätte, die er nicht so gerne allein ließ, um seiner Frau und seinen beiden Kindern Gesellschaft zu leisten.

Dieses Gerücht sollte später noch viel mehr Nahrung bekommen, da mein Vati nicht nur äußerst galant war allen weiblichen Wesen gegenüber, sondern es auch ständig ausprobierte, ob die Frauen es nicht mit ihm versuchen würden. Mit anderen Worten, er war ein ausgesprochener Schürzenjäger. Obwohl alle das ahnten oder sogar wussten, lautete die offizielle Entschuldigung für sein seltenes Erscheinen zu Hause ganz klar, dass es keinen Urlaub gäbe von der Front!

Auf gar keinen Fall war ich das einzige Kind, das aufwuchs wie ein Halbwaise oder wie das Kind einer Alleinerziehenden. Ganz bestimmt war ich auch nicht der einzige kleine Junge, der derart an seiner Mutti hing, wie ich.

Dafür sorgte aber auch Mutti mit all ihrer Zärtlichkeit, die sie mir kleinem Knaben entgegen brachte und die mich ganz eindeutig noch mehr an sie band, als es eigentlich meiner natürlichen Entwicklung besser getan hätte. So war es nicht verwunderlich, dass ich häufig weinte, wenn ich mal nicht auf Mamas Schoß sitzen durfte. Auch gönnte ich meiner Schwester nicht, dass sie dieses Recht hin und wieder ebenfalls in Anspruch nahm, schließlich wollte ich meine Mutti für mich alleine haben.

Überhaupt war mir meine Schwester meistens nicht richtig als Kind erschienen sondern eher als weitere Erwachsene im Umfeld unserer Familie. Auf Grund ihres Alters durfte sie oft genug am Leben der Großen teilnehmen.

So nahm ich denn die Welt um mich herum lediglich als Teil wahr, der ausschließlich zu meiner Unterhaltung und zu meinem Wohlergehen geschaffen worden war. Der Mittelpunkt dieser kleinen Welt war ganz alleine ich, wichtigster Bezugspunkt war eindeutig und unteilbar meine Mutti. Zwar pflegte ich auch Kontakt zu anderen Menschen, die meinen Weg kreuzten, aber sie galten mir nichts, und ich baute auch keine Bindung zu ihnen auf.

Tante Traute war mir als beste Freundin von Mutti wohl auch bestens bekannt und ich musste sie auch, weil Mutti es so wollte, mit Küsschen begrüßen, aber sie war mir nicht innerlich so nah, wie Mutti das vielleicht ihrer Freundschaft wegen gerne gehabt hätte. Niemals hätte ich von mir aus die Nähe dieser Frau gesucht, um mich beispielsweise auf ihren Schoß zu setzen oder liebkosen zu lassen.

Gut, Traute, die Tochter war mir so etwas wie eine Freundin oder Spielgefährtin geworden, da ich es mochte, sie in meiner Nähe zu haben und sie zu berühren.

Auch von Tante Traute wurde ich etwas mehr akzeptiert, nachdem sie festgestellt hatte, dass ich bereitwillig und brav alles tat, was mir ihr Töchterchen vormachte, und ich entpuppte mich als äußerst angenehmer Spielgefährte, da ich mich niemals gegen irgend eine Behandlung oder Bevormundung seitens des Mädchens wehrte.

Aber immer noch war ihr auch im zweiten Lebensjahr des kleinen dicken Buben meine Entwicklung nicht geheuer, da ich einfach zu schwerfällig und zu wenig aktiv war in ihren Augen.

Mutti war in jener Zeit sehr schwach, bekam vom Arzt die Bescheinigung, dass sie an einer hochgradigen Anämie litt und an einem totalen Erschöpfungszustand.

So bestand für sie absolut nicht die geringste Schwierigkeit, auch für mich und für die Versorgung des Haushaltes im Jahre 1942 ein Pflichtjahrmädel zu bekommen, das ihr tatkräftig im Haushalt half und vor allen Dingen mich häufig versorgte und betreute.

 

Allerdings war meiner Mutti dieses Mädchen Irmgard ein wenig unheimlich. Jedenfalls wurde sie mit diesem Wesen nicht so warm wie mit dem, das sie zur Betreuung von Ursel vor sieben oder acht Jahren zur Seite gestellt bekommen hatte.

Mit Anneliese, dem damaligen Pflichtjahrmädel verband sie auch noch eine herzliche Freundschaft, nachdem nicht nur der Krieg lange vorbei war, sondern auch noch viele Jahre danach. Aber Irmgard war einfach nicht so herzlich.

Irmgard hatte auch eigene Ansichten über Kinderpflege. Sie war der Meinung, dass ein richtiger Junge hart gemacht werden müsste, damit er später auch einmal als Soldat seinen Mann stehen konnte. Schließlich musste ganz bestimmt nach dem Endsieg jedweder mögliche Feind in Schach gehalten werden.

Ganz natürlich und unzweifelhaft brauchte Deutschland immer tapfere Soldaten, da es ja wegen seiner offenen Grenzen innerhalb Europas immer wieder gefährdet war. So wusste Irmgard auch, dass ein vereintes Europa unter deutscher Herrschaft sich nur verwalten ließ mit einer starken Armee, bestehend aus vielen tausend Soldaten, die dem Führerbild entsprachen vom hochgewachsenen germanischen Helden, der sich vor nichts und niemandem fürchtete. Blond war ich ja, aber ob ich sonst noch irgendwann einmal dem Idealbild vom hochgewachsenen Deutschen der Herrenrasse ähneln würde, war nicht so ganz einfach zu prophezeien oder überhaupt erkennbar. Irmgard konnte auch ganz und gar nicht verstehen, dass sie in einem Haushalt Dienst tun musste, deren Haushaltsvorstand nicht einmal Mitglied in der Partei war.

Klar, dass Mutti sich mit diesem Mädchen nicht verstand. Für sie gab es ausschließlich eine heile Welt, in der der Krieg wirklich nur eine vorübergehende Erscheinung war, die sehr bald ein Ende haben müsste, wenn die Gerechtigkeit gesiegt hätte und der böse Feind endlich eingesehen hätte, dass die Deutschen doch so friedliebende Menschen seien, die sich nichts sehnlicher wünschten als mit ihrem Kaiser wieder in Ruhe und Frieden zu bestehen. Dabei müsste das deutsche Volk noch nicht einmal im Wohlstand leben, wenn nur Friede herrschte.

Einmal gab es eine recht heftige Diskussion zwischen ihr und dem Mädel über Juden. Irmgard hatte behauptet oder dem Propagandaminister nachgeplappert, dass die Juden unser Unglück seien und eigentlich den Deutschen Geld und Arbeitsplätze stahlen, ohne als Untermenschen dazu berechtigt und fähig zu sein.

Na, das wollte Mutti denn doch nicht so ganz unwidersprochen gelten lassen:

„Also, Irmgard, da weiß ich aber nicht, ob ich Ihnen Recht geben kann. Wir hatten damals in unserer Nachbarschaft einen unheimlich netten und tüchtigen Zahnarzt, zu dem alle höchstes Vertrauen hatten. Und der war Jude. Können Sie mir vielleicht sagen, warum der ein schlechterer Mensch gewesen sein sollte als ein deutscher Zahnarzt?“

„Ja, da sehen Sie doch, Frau Fiori, wie Sie sich selbst widersprechen“, erwiderte das junge Ding, wie Mutti das Mädel abfällig nannte, „Sie sagen selbst, dass er Zahnarzt war in einem von Deutschen bewohnten Wohnviertel. Da hat er doch schon deshalb nichts zu suchen, weil er schließlich einem deutschen Zahnarzt möglicherweise oder sogar ganz bestimmt den Arbeitsplatz weggenommen hat. Und dass er so beliebt war, hatte er doch wohl nur seinem schleimigen Wesen zu verdanken. Die Juden haben nur eines im Sinn, den Deutschen das Geld aus der Geldbörse zu locken, um am Ende die Herrschaft zu übernehmen. Natürlich schicken sie da auch Akademiker ins Land. Was sagen Sie denn dazu?“

Tante Traute war da und unterbrach das Gespräch abrupt: „Hör mal, Gretel, ich wollte dir noch etwas ganz Wichtiges, Privates sagen. Kommst du mal bitte mit nach draußen, ich muss jetzt gehen!“ Mutti ging natürlich mit und musste sich folgende Gardinenpredigt anhören:

„Gretel, du redest dich um Kopf und Kragen. Hast du den Verstand verloren? Du kannst doch nicht irgendeinen jüdischen Menschen vor diesem Mädchen verteidigen. Die bringt dich hinter Schloss und Riegel! Sag bloß nichts mehr! Gib ihr einfach Recht oder schweig, wenn es dir zu schwer fällt!“

„Was soll denn daran schlimm sein, wenn ich einen Menschen verteidige, den ich sehr gut kannte, der darüber hinaus wirklich unheimlich nett war und von dem nie jemand ein Wort darüber vernommen hatte, dass er Jude wäre oder anders dachte?!“

„Ach, Gretel, bei dir ist auch Hopfen und Malz verloren, sei in deinem ureigensten Interesse bitte, bitte ruhig, wenn es um politische Themen geht oder um Juden. Das ist heutzutage wirklich äußerst gefährlich da eine Meinung zu vertreten, die von der Meinung des Führers abweicht! Bitte glaube mir!“

„Na, ja, wenn du wirklich meinst. Ist ja vielleicht jetzt in Kriegszeiten auch ein wenig anders als sonst. Ich kann das gar nicht glauben, dass der Führer es mit irgendjemandem hier in Deutschland schlecht meinen könnte. Er hat doch bisher so viel Gutes bewirkt.“ „Ja, das ist eine Meinung, die du freilich immer wieder aussprechen darfst, aber widersprich deinem Pflichtjahrmädel nicht!“ ermahnte Tante Traute noch einmal sehr eindringlich.

Mutti resignierte: „Ja, wenn du meinst, obwohl es mir ganz gehörig gegen den Strich geht, ausgerechnet dieser dummen, kaltschnäuzigen Pute nicht meine Meinung sagen zu dürfen!“

Deshalb war Mutti gar nicht böse darüber, als Oma und Tante Erna sie und die Kinder einluden, die Osterferien in Bad Godesberg zu verbringen. Dort konnte man so herrlich Spaziergänge am Rhein entlang unternehmen, konnte in Omas großem Garten sitzen, über den Rhein mit der Fähre zum Drachenfels fahren, jedenfalls in aller Ruhe die Ferien genießen und musste nicht dauernd von einer übereifrigen, jungen und dummen Parteigängerin im eigenen Haus daran erinnert werden, dass der Nationalsozialismus Hass predigte.

So, wie Mutti es erreicht hatte, dass ihr ein Mädel zugesprochen wurde, so schaffte sie es auch ohne Probleme und lange Wartezeiten, diesen Quälgeist wieder loszuwerden,

Sie erklärte vor dem zuständigen Amt, dass sie aus gesundheitlichen Gründen und wegen der Entwicklung des Kleinen sehr häufig verreisen müsste und deshalb so selten zu Hause sei, dass sie ganz bestimmt dieses Mädel weder betreuen könne noch deren Hilfe wirklich in Anspruch nehmen.

Nun war sie zwar eine tüchtige und kräftige Haushaltshilfe los, aber sie war glücklich darüber. Sie hatte aber auch keine Hemmungen, die Hilfe von Freundinnen und Nachbarinnen in Anspruch zu nehmen, wenn ihr bestimmte Arbeiten im Haushalt entschieden zu schwer waren.

Ganz besonders aber half ihr eine gute Bekannte und Nachbarin, mit der sie sich schon zur Zeit der Geburt meiner Schwester angefreundet hatte. Das war eine kleine, gutmütige und resolute etwas ältere Dame, die von Mutti wegen ihrer auffälligen Korpulenz nur Dickerchen genannt wurde, obwohl sich die beiden Frauen niemals duzten. Dickerchen war eine ganz wahre Parteigängerin und dem Führer und seiner Partei äußerst treu ergeben. Auch hatte sie einen unversöhnlichen Hass auf Juden entwickelt. Eigentümlicherweise mochte Mutti aber diese Frau besonders und sprach deshalb niemals mit ihr über Politik und ihre Meinung dazu. Ganz anders als bei dem „jungen Ding“ verzieh Mutti dieser Freundin sofort alles, auch wenn ihr manche Äußerung gegenüber Juden oder Ausländern enorm gegen den Strich gingen.

Dickerchen packte auch tatkräftig zu im Haushalt, wuchtete schwere Möbel, wenn es erforderlich war, putzte auch schon mal den Flur, wenn Mutti sich gesundheitlich dazu nicht in der Lage fühlte. Dickerchen konnte auch anstreichen, und da sie selbst einen Sohn hatte, der schon viel älter war als meine Schwester, konnte sie auch im Hinblick auf die Versorgung des kleinen Jungen eine wertvolle Hilfe sein. Sie gab auch keine dummen Ratschläge im Hinblick auf die Entwicklung des Knaben sondern fand diese ganz normal.

Und genau das empfand Mutti natürlich als wohltuend nach den erstaunlich vielen Ermahnungen seitens der besten Freundin Traute.

Natürlich bemühte Mutti sich nach Kräften, die Hilfe und Freundlichkeiten vom „Dickerchen“ wieder gutzumachen. Dazu lud sie sehr häufig zum Kaffe ein, buk dann einen Tortenboden, der meistens mit Sauerkirschen belegt wurde, oder einen festen Kuchen. Oft gab es auch einen selbstgebackenen Hefestuten, den sie besonders gerne und auch gut backen konnte. Ganz sicher aber wurde nach dem Kaffee ein Likörchen oder ein Schnäpschen gereicht.

Nach Muttis Meinung gehörte das einfach zum guten Ton. Mutti kredenzte grundsätzlich diese alkoholischen Gaben in der Verniedlichungsform, die ihr sowieso die liebste war, wenn sie mit jemanden sprach, den sie gut leiden konnte. Deshalb wurde auch niemals ein Schnaps oder ein Cognac angeboten, auch kein Wacholder oder Likör, hin und wieder ein Magenbitter, aber immer war es ein Schnäpschen, ein Cognäcchen, ein Wacholderchen, Likörchen oder Magenbitterchen, von denen sie selbst ein bis drei Fußbädchen trank.

So gerne Mutti Besuch zuhause empfing, so gerne machte sie auch Besuche. So war es kein Wunder, dass sie in wenigen Jahren einen sehr großen Bekanntenkreis auf der Margarethenhöhe in Essen hatte. Mit allen Damen verband sie eine herzhafte Freundschaft.

Fast immer wurde ich mitgenommen und vorgezeigt. Schon früh lernte ich, alle lieben Tanten mit Küsschen zu begrüßen, ob Tante Mimi, Tante Hanni, Tante Addi oder Tante Agnes und Tante Erna, denn genau dieses Verhalten war meiner Mutti so wichtig, dass sie es ständig von mir verlangt hatte.

Das war mir derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich schon automatisch die Ärmchen ausstreckte, wenn wieder einmal weiblicher Besuch kam oder sich in fremder Wohnung über den Kinderwagen beugte. Die lieben Tanten schmolzen dahin ob so viel Freundlichkeit und Herzigkeit des kleinen Buben. Dabei war mir diese ewige Küsserei wildfremder Personen keineswegs eine Herzensangelegenheit.

Wer mich genauer beobachtet hätte danach, hätte deutlich sehen können, wie ich heftig über mein Gesicht und über meinen Mund wischte nach jeder dieser Begrüßungszeremonien. Ganz besonders heftig aber wischte ich, wenn eine dieser lieben Tanten mir einen feuchten Kuss auf eine Wange oder auf meine „süßen Patschepfötchen“ oder sonst wohin gedrückt hatte.

Schon in diesem sehr frühen Stadium meines Heranwachsens entwickelte ich eine besonders starke Aversion gegen Spucke, gegen feuchte Flecken oder feuchte Lappen jedweder Herkunft in meinem Gesicht oder irgendwo an meinem Körper. Wasserscheu war ich nur dann nicht, wenn es in eine warme Badewanne ging.

Ansonsten hasste ich Körperschweiß, feuchtes Abwischen meiner Hände oder überhaupt feuchtes, oder halbtrockenes Wischen mit einem Lappen, um irgend ein Teilchen Schmutz oder Speiserest von meinem Körper zu entfernen.

Wenn ich nur zusah, wie andere Mütter ihren Kindern mit Spucke und einem Tuch über das Gesicht wischten, wurde mir übel.

Auch ertrug ich es nicht, wenn mein Tellerchen, - Mutti verniedlichte wirklich alles, woran man ein -chen oder -lein anhängen konnte -, nicht ganz trocken abgeputzt war, oder vielleicht mein Löffelchen auch nur das kleinste Fleckchen Wasser aufwies. Sollte auf meinem Brettchen gar etwas Feuchtes gewesen sein und mein Butterbrötchen angefeuchtet haben, reichte dieser unmögliche Umstand aus, mich völlig von einer Mahlzeit abzuwenden, um lieber zu verhungern als gerade dieses Stück Brot auch nur betrachtend in Erwägung zu ziehen.

Sehr schnell hatte ich auch gelernt, mein eigenes Besteck von anderen zu unterscheiden. Mein Löffelchen hatte eine rechtwinklige Stellung vom Stiel, natürlich geformt für einen Rechtshänder, der ich nicht unbedingt war, aber der Löffel zwang mich dazu, mein Breichen mit der rechten Hand zum Mund zu führen. Niemand machte mir dieses Löffelchen streitig, aber ich bestand immer darauf, dass ich nur mit diesem Löffel essen wollte, auch wenn er mal noch nicht wieder gespült war oder versehentlich nicht gedeckt worden war.

Als Vorbild für diese Eigenheit hatte ich aber auch ganz eindeutig meine Mutter. Denn auch in ihr Besteck, das heißt in ihren Löffel, ihre Gabel und ihren Kaffeelöffel war ihr Monogramm in großer Schmuckschrift eingraviert, als M. H, so wie auch das Besteck meines Vaters in gleicher Weise graviert war mit den Initialen W. H. Ganz besonders ich achtete später, als ich diese Buchstaben lesen konnte, ungeheuer streng darauf, dass grundsätzlich nur diese Bestecke dem richtigen Familienmitglied zugeordnet wurden.

Selbstverständlich waren die elterlichen Essbestecke, wie auch alle für Erwachsene bestimmten Bestecke, aus schwerem Sterlings-Silber. Ein anderes Metall wäre für Mutti nie in Frage gekommen. Nur die Kinderbestecke waren aus nicht rostendem Metall, mit der Begründung, dass sie leichter waren als Silberbestecke. Bei der Zusammenstellung der Aussteuer hatte man sicher auch noch nicht daran gedacht, Silber für Kinder anzuschaffen, die noch nicht einmal ansatzweise in der Planung vorhanden waren.

 

Es galt aber auch da schon der absolute Grundsatz in unserer Familie, dass Kinder in Bescheidenheit erzogen werden müssten und nicht etwa mit teuren Geschenken, teurer Einrichtung oder wertvollen Gebrauchsgegenständen verwöhnt werden dürften.

Ganz besonders wichtig für Mutti aber war, dass sie nicht in ihrer Reiselust gehindert werden durfte. Dabei war es nur allzu ärgerlich, dass ständig die Haushaltskasse nicht so gut gefüllt war, wovon sie sich größere Reisen hätte leisten können. Da kamen Einladungen von lieben Verwandten, die Gott sei Dank über genügend Platz in schöner Umgebung verfügten, gerade recht.

Gerne hatte Mutti daher die Einladung von Onkel Jupp, so wurde Onkel Josef Leggewie, Muttis ältester Bruder, grundsätzlich von uns genannt, und Tante Liesel nach Münster angenommen.

Die beiden hatten in Münster ein schönes Haus mit einem geräumigen Garten dahinter, in dem sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder nach Herzenslust sich bewegen durften. Im August, in den Sommerferien, gab es ein freudiges Wiedersehen.

Dort war am 15. März 1941, etwa sechs Wochen nach meiner Geburt, auch ein kleiner Nachkömmling zur Welt gekommen, zur Freude oder vielleicht auch zum Nachteil seiner älteren Brüder Norbert, der schon elf Jahre alt war, und Benno, der sechs Tage später acht Jahre alt geworden war.

So waren die Probleme ähnlich und vor allem die Mütter hatten reichlich Gesprächsstoff zu Ernährungsschwierigkeiten oder Entwicklung der beiden fast gleichaltrigen Knaben.

Arno, mit dem ich ungehindert im gut abgeschlossenen Garten in Münster spielen konnte, war trotz seines geringeren Alters etwas größer als ich zu der Zeit, aber sonst völlig gleich entwickelt.

Mit Tante Liesel verstand sich Mutti nicht ganz so gut, wie mit ihrem ältesten Bruder, den sie über alles liebte und bewunderte. Tante Liesel war ihr etwas zu herb. So bezeichnete Mutti alle Frauen, die nicht wie sie selbst allzu zärtlich mit ihren Kindern umgingen und die nicht, wie sie, ständig mit Verniedlichungsformen ihre Umwelt benannten. Herb war Tante Liesel in Muttis Augen auch deshalb, weil sie nicht so häufig mit Küssen oder Streicheln ihre Liebe zu ihrem Mann oder zu ihrem kleinen Sohn zur Schau stellte, wie meine Mutti das zumindest damals und auch dort tat mit ihren beiden Kindern.

Gott sei Dank war Onkel Jupp auch zu Hause. Er hatte im Feld eine Verwundung davongetragen und war deshalb bis auf weiteres vom Wehrdienst befreit. So konnte er in Münster seine Praxis führen und dort Patienten behandeln, was in jener Zeit auch nicht unbedingt selbstverständlich war.

Endlich konnte Mutti frei über alles reden, was sie bewegte, denn sie fühlte sich besonders in der Nähe ihres Bruders geborgen und vollkommen verstanden.

Natürlich galt es auch in dieser Umgebung, nicht alles laut und deutlich auszusprechen, weil immer zu befürchten war, dass die Wände Ohren haben könnten. Aber innerhalb der Wohnung, wenn vor allen Dingen auch das Personal, bestehend aus einer Küchen- und Haushaltshilfe, nicht da war und auch die Sprechstundenhilfen Feierabend hatten, konnte Mutti reden, wie ihr der Schnabel gewachsen war.

Dabei musste sie leider immer wieder beklagen, dass das Geld nie reichte, da Vati einen sehr hohen Eigenbedarf hatte und der Familie nur Bruchteile des Geldes zur Verfügung stellte, was eigentlich erforderlich gewesen wäre.

So kam es häufig vor, dass Onkel Jupp seiner Schwester ein Scheinchen zusteckte, von dem seine Frau nichts wissen sollte. Jegliche Zuwendung dieser Art nahm Mutti dankend und ohne Gewissensbisse an, weil sie einmal zu wissen glaubte, dass ihr Bruder durch die gutgehende Praxis relativ vermögend war und zum zweitens wähnte, dass er als älterer Bruder dazu auch so etwas wie ein Recht oder gar eine Verpflichtung hatte. Dabei war sie natürlich unsagbar dankbar für jede Mark, die ihre Haushaltskasse bereicherte oder entlastete.

Besonders gerne aber unterhielt sie sich mit ihrem Bruder über vergangene Zeiten, über gemeinsame Kindheitserlebnisse, bei denen sie häufig gelacht hatten und viele Späße und Streiche verübt. Trotz ihres bedauernswerten Schicksals, so früh schon die leiblichen Eltern verloren zu haben, hatten sie doch eine sehr schöne und harmonische Kindheit genießen können.

Nur jetzt im Kriegsjahr 1942 kam es hin und wieder zu ernsten Gesprächen über die allgemeine Lage im Land und die besondere Lage in unserer Familie.

Völlig unverfänglich und auch für fremde Ohren bestimmt waren alle Themen, die sich mit Kultur oder Sportereignissen beschäftigten. Dabei staunte Mutti immer wieder über den enormen Wissensstand ihres Bruders. Er wusste über fast alle deutschen Filmpremieren Bescheid und erzählte sogar, dass in Berlin am 10. Januar die UFA-Film-Gesellschaft gegründet worden war. Als Musikliebhaber hatte er auch behalten, dass am 13. Januar das Oratorium „Columbus“ von Werner Egk in Frankfurt uraufgeführt wurde. Er hatte gehört von der Premiere der Komödie „Johann“ von und mit Theo Lingen. Und obwohl er nicht häufig ins Kino ging, konnte er von Filmpremieren berichten, wie „Der große König“ mit Otto Gebühr und Kristina Söderbaum in Berlin am 3. März, oder „Schicksal“ mit Will Quadflieg vom 18. März, auch von „Wiener Blut“ mit Willy Fritsch und Hans Moser, uraufgeführt in Wien am 2. April. Sogar der amerikanische Abenteuerfilm „Piraten im karibischen Meer“ mit John Wayne war ihm, woher auch immer, ein Begriff.

Er berichtete von der mit großem Hallo im Radio gewürdigten Feier anlässlich des 100jährigen Bestehens der Wiener Philharmoniker, die vom 17. bis 28. März dauerte, wusste aber auch, dass das Fußballländerspiel Spanien – Deutschland im Berliner Olympiastadion 1 : 1 geendet hatte, und das Spiel Deutschland gegen Ungarn in Budapest aber von Deutschland 5 : 3 gewonnen wurde.

Mutti interessierte sich weniger für Fußball, konnte aber auch zur Unterhaltung beitragen, dass Heinrich George am 9. Mai fünfzig Jahre alt geworden und von Goebbels zum Generalintendanten ernannt worden war. Sie wusste zu erzählen von den Feierstunden am 29. März zum 115. Todestag Ludwig van Beethovens.

Und sie hatte ganz genau zugehört, dass in der Presse den Hausfrauen empfohlen worden war, Brotaufstrich aus Schafgarbe, Schnittlauch, Sauerampfer und Petersilie mit etwas Essig und Salz herzustellen, weil genau das besonders gesund sein sollte. Sie hatte schon in Essen in der Lichtburg den Film „Rembrandt“ mit Ewald Balser, Gisela Uhlen und Elisabeth Flickenschild gesehen, der erst am 17. Juni in Berlin uraufgeführt worden war. Dagegen hatte sie nicht genau mitbekommen, dass Gustaf Gründgens den Faust II, glanzvoll verkörpert hatte, wovon wieder Onkel Jupp erzählen konnte.

Auch wenn es nicht alle gleich interessant fanden, erzählte Onkel Jupp, dass Schalke 04 am 5. Juli zum sechsten Male Deutscher Meister geworden war in einem spannenden Spiel gegen Vienna Wien mit 2 : 0, und Deutschland auch Bulgarien am 19. Juli grandios mit 3 : 0 schlug. Solche Ereignisse waren geeignet, die deutsche Überlegenheit in aller Welt zu demonstrieren, weshalb grundsätzlich Gespräche darüber sehr erwünscht waren.

Bedenklich war allerdings, dass er sogar von amerikanischen Abenteuerfilmen und deren Uraufführung etwas wusste, denn das hatte er möglicherweise nicht von einem deutschen Sender erfahren. Ausländische Sender jedoch zu hören, war streng verboten.

Aber genau dieses reizte Onkel Jupp ungemein, denn er glaubte nicht daran, dass die deutsche Presse so wahrheitsliebend war, dass man alles ungeprüft übernehmen durfte. Deshalb war es schon nicht ganz ungefährlich, etwas zu erzählen, was man auf gar keinen Fall in einem deutschen Presseorgan gehört oder gelesen haben konnte.