Schlag doch zu! Autobiografie

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Also das, was ich hauptsächlich gelernt habe, ist, ganz besonders gut zuzuhören und Probleme im Gespräch analysieren zu können. Was auf keinen Fall zu meiner Ausbildung gehörte, war das Erteilen von guten Ratschlägen. Ich möchte hier und heute aber keinen langweilen, möchte deshalb es bei dieser Kurzfassung bewenden lassen und hoffe, dass meine Dienste auch häufig in Anspruch genommen werden!“

Überzeugend war das nicht, was ich da geboten hatte. Der erste Einwand war dann auch, dass gutes Zuhören auch zur allgemeinen Ausbildung eines jeden Lehrers gehörte und dass man bisher sehr wohl auch ohne Beratungslehrer ausgekommen wäre. Und dann kam die entscheidende Frage, die die Stimmung in diesem Kollegium klar aufzeigte und eine entscheidende Wende brachte im Verhalten mir gegenüber und in der Beurteilung meiner Funktion.

Herr Gärtner stellte die Frage: „Was haben Sie denn davon, wenn Sie hier als Beratungslehrer tätig sind? Bekommen Sie mehr Geld? Haben Sie dafür weniger Stunden zu unterrichten? Oder machen Sie das frank und frei ehrenamtlich?“

Die Antwort kam von Frau Kern: „Herr Fiori erhält für seine Beratungstätigkeit an unserer Schule drei Stunden Zeit, die von seiner Unterrichtstätigkeit abgezogen werden. Wir müssen übrigens noch klären, Herr Fiori, wie Ihre Beratungstätigkeit dann in unserem Stundenplan zu integrieren ist.“

Die dann folgende Reaktion von Herrn Gärtner hatte ich allerdings nicht erwartet. Er reklamierte laut und fordernd, dass er doch dann viel besser als Beratungslehrer geeignet sei. Gut zuhören könne er allemal und mit drei zusätzlichen Freistunden hätte er auch das Zeitlimit und die Ausdauer dafür. Und überhaupt hätte er wie kaum ein anderer Kollege oder eine andere Kollegin wohl am meisten verdient, um drei Unterrichtsstunden entlastet zu werden, wieso ausgerechnet ein neuer Kollege, den man nicht einmal kenne.

Schützenhilfe kam nicht etwa von der Schulleiterin, sondern von der neuen Konrektorin. Sie wies Herrn Gärtner darauf hin, dass er ja gerne die aufwändige zweijährige Ausbildung zum Beratungslehrer, die im übrigen zusätzlich zur Unterrichtszeit zu absolvieren sei, machen könne. Sie selbst hätte diese, dürfe aber als Konrektorin nicht als Beratungslehrerin tätig sein, wollte das aber auch überhaupt nicht. Denn die drei Stunden Ermäßigung würden bei weitem keine Entschädigung darstellen für die viele Mehrarbeit, die ein Beratungslehrer zu leisten hätte.

Ich versuchte noch, das neue Kollegium zu beruhigen mit der Erläuterung, dass mir die drei Freistunden aus dem Topf der Regierung zustünden und keineswegs dem Kollegium fortgenommen würden. Aber der Neid in den Blicken der anderen war unübersehbar, drei Stunden Entlastung hätte jeder gern!

Ich hatte in meiner bisherigen Lehrerausbildung und Laufbahn schon manches Kollegium kennen gelernt, so etwas aber noch nie erlebt, dass offen geneidet wurde, wenn ein Kollege möglicherweise einen Vorteil hatte durch seine Ausbildung oder seine Fächerkombination oder wie in meinem Fall jetzt ein scheinbare Entlastung.

Sicher wurde seit einigen Jahren in allen Schulen darum gerungen, wie ein Kollegium ein Freistundenkontingent aufzuteilen hatte. Es wurden jedem Kollegium freie Stunden zur Verfügung gestellt, die nicht ausreichten, um jedem eine freie Stunde zu gewähren. Das Kollegium selbst musste dann entscheiden, wer durch seine Tätigkeit so stark belastet war, dass ihm eine Entlastungsstunde zu geben sei. Dabei wurde dann schon mal recht heftig diskutiert, ob jemand, der Klassenlehrer war und Deutsch unterrichtete, grundsätzlich entlastet werden müsse, oder ob ein Naturkundelehrer, der für Physik, Chemie oder Biologie aufwändige Vorbereitungen oder Aufräumarbeiten treffen musste, nicht ebenso zu entlasten sei. Doch immer war es zur Einigung gekommen und nicht zu solchen Neidergüssen, wie ich sie hier in dieser ersten Konferenz im neuen Kollegium erleben durfte.

Bei diesen Gedanken fiel mir ein Gespräch ein, das ich unlängst mit einem Freund geführt hatte. Er war Bilanzbuchhalter und konnte nicht verstehen, dass sein Schwager, ein Realschullehrer, für eine Stunde weniger pro Woche demonstrierend auf die Straße gegangen war. Er glaubte doch, dass man eine Stunde mehr oder weniger pro Woche wohl leicht auf einer Backe absitzen könne. Ich gab ihm recht für seinen Beruf, da ich auch in diesem Beruf über einige wenige Erfahrungen verfügte.

Aber ich versuchte leider fast chancenlos, ihm zu erklären, dass eine Unterrichtsstunde mehr oder weniger schon eine ganz enorme Belastung oder auch Entlastung bedeutete, etwa vergleichbar in seinem Beruf mit vielleicht vier Arbeitsstunden. Ob er denn auch die auf einer Backe absitzen würde. So richtig überzeugt hatte ich ihn damals nicht.

Jedenfalls war die erste Konferenz, die ich in diesem Kollegium erleben durfte, nicht sonderlich anregend oder gar erfreulich. Trotz aller Gegensätze und persönlicher Stellungnahmen, kam die Konferenz letztendlich nach sehr langer Dauer zu einem Ergebnis.

Ich selbst war damit zufrieden, hatte die meisten Stunden in meiner neuen Klasse, einige wenige Religionsstunden in anderen Klassen und einen kleinen Legasthenie Kurs im fünften Schuljahr. Ich freute mich auf meine neue Aufgabe. Auch wenn mir prophezeit worden war, dass ich in meiner Klasse erhebliche Schwierigkeiten bekommen würde.

Es war allerdings halb so wild, wie ich es mir schon gedacht hatte. Die erste Frage, die ich beantworten musste, war die Frage nach meinem Alter, das ich freimütig bekannte. Danach kam dann die wirklich enttäuschte Antwort, warum sie denn immer so alte Lehrer bekämen. Ich konnte nur damit kontern, dass doch alte Lehrer viel mehr Erfahrung hätten und ich selbst auch innerlich jung geblieben wäre und mir Mühe geben wollte, mein Alter nicht anmerken zu lassen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass dieses Argument überzeugend war. Schließlich hätte ich selbst auch nicht daran geglaubt.

Die Klasse bestand aus siebzehn Mädchen und vierzehn Jungen. Von den Mädchen waren neun deutsch, drei türkisch, drei afghanisch, eines marokkanisch und eines bosnisch. Bei den Jungen sah es so aus: fünf Türken, drei Libanesen, drei Deutsche, ein Marokkaner, ein Tamile und ein Russlandaussiedler.

Von allen einunddreißig Kindern hatten dreiundzwanzig irgendwann einmal eine Klasse wiederholt, manche auch zwei. Ein türkisches Mädchen und ein türkischer Junge waren zu Beginn des letzten Schulhalbjahres von der Sonderschule für Lernbehinderte in die Klasse gekommen, weil sie an der Sonderschule sehr gute Leistungen gebracht hatten und versuchsweise in der Regelschule ihren Hauptschulabschluss machen sollten. Der Junge war bereits achtzehn Jahre alt, das Mädchen war mit siebzehn Jahren die älteste Schülerin in der Klasse.

Von den deutschen Kindern gehörten drei zu sogenannten asozialen Familien, die Eltern waren zum Teil Alkoholiker, ein Elternpaar galt als Stadtstreicher. Sieben der Deutschen wuchsen in Familien auf mit allein erziehenden Müttern, nur zwei kamen aus sogenannten normalen, ordentlichen Familienverhältnissen. Alle Ausländerkinder wurden in Familien groß, in der beide Elternteile zusammenlebten und ein Familienleben mit mehreren Geschwistern gepflegt wurde.

Ich lernte die Kinder kennen als sehr lernwillig und wissbegierig. Schnell hatten wir abgesprochen, dass ich vor einer Unterrichtseinheit mit ihnen besprechen und diskutieren würde, warum diese Einheit überhaupt im Unterricht behandelt würde, welchen Nutzen sie jetzt oder im Erwerbsleben später davon hätten, oder auch, welche nichtkognitiven Lernziele damit erreicht werden konnten.

Diese Art der Vorabstimmung war den Kindern neu, aber sie gewöhnten sich sehr schnell daran und hatten das Gefühl, irgendwie an der Auswahl der Unterrichtsinhalte aktiv beteiligt zu sein. Das förderte die Lernmotivation und nahm Störenfrieden jeglichen Grund. So hatte es sich in der Klasse schon sehr schnell eingebürgert, dass die Schüler in meinen Unterrichtsstunden sich selbst zu Ruhe und Aufmerksamkeit ermahnten, wenn mal jemand aus der Reihe tanzte. Geradeso war ich es bisher in allen meinen Klassen gewöhnt, und es klappte auch hier in dieser Lerngruppe ganz ausgezeichnet.

Nur von Kolleginnen und Kollegen wurde mein Tun argwöhnisch beobachtet. Man konnte es einfach nicht glauben, dass ich mit dieser doch immer schon als schwierig geltenden Klasse keinerlei Probleme hatte. Immer häufiger wurden Beschwerden geäußert von Fachlehrerinnen oder Fachlehrern über zu großen Lärm in der Klasse oder zu geringer Beteiligung oder mangelnden Fleiß oder auch zu viel Dreck im Klassenraum. Allerdings bekam nicht ich diese Klagen zu hören, sondern ausschließlich die Schulleiterin, die sie mir kopfschüttelnd weitergab.

Für mich ergab sich immer die Frage, ob ich nun getadelt werden sollte ob dieser Missstände oder ob die Schüler bei mir anders reagierten als bei anderen Lehrpersonen. Keineswegs konnte es aber doch so sein, dass ich hier als Superlehrer tätig geworden war, als der ich mich eigentlich auch niemals irgendwo gefühlt hatte.

So gab es denn auch bald ein ernstes Problem, weil sich zum Beispiel die Konrektorin, die Mathematik im Grundkurs in dieser Klasse erteilte, von einem libanesischen Jungen angegriffen fühlte.

Sie hatte ihn aufgefordert, doch sehr schnell sein Heft aus der Tasche zu nehmen, als er es nicht so schnell fand, wie sie es erwartete.

Nicht gewohnt, dass ausgerechnet eine Frau ihm nun in barschen Ton Befehle erteilte, hatte er versucht, mit einem Scherz die Situation zu mildern, indem er Frau Alster leicht an die Schulter fasste, dabei ihre lange Halskette in die Hand nahm und sagte, dass er natürlich sein Heft schon längst gefunden hätte, wenn er es auch an einer so schönen Kette befestigt hätte. Er verehrte nämlich diese Lehrerin und wollte ihr auf diese Weise ein Kompliment machen.

Frau Alster spürte nur die unerwünschte Berührung, hörte nicht auf seine Worte, und sah rot, als sie sich wütend losmachte. Dabei blieb ihre Kette an der Hand des Jungen hängen und riss.

 

Es war nicht so ganz einfach für mich, in diesem Fall eine Lehrerkonferenz abzuwenden. Nicht nur Frau Alster bestand darauf.

Sondern auch fast sämtliche Kolleginnen und Kollegen, die natürlich von dieser Ungeheuerlichkeit umgehend unterrichtet worden waren, beknieten mich, in diesem Fall doch wirklich hart und präventiv durchzugreifen. Die Lehrerkonferenz wurde deshalb für erforderlich gehalten, damit der Junge die möglichst härteste Strafe erhalten könnte, die überhaupt für solche Fälle als Ordnungsmaßnahme verhängt werden konnte.

Nur die reuige von mir initiierte Entschuldigung des Unglücksraben ließ die so beleidigte und bedrohte Kollegin herab, von der Lehrerkonferenz abzusehen und sich mit einer Klassenkonferenz zu begnügen.

Dort wurde der Fall noch einmal in aller Ausführlichkeit dargestellt und Walid wiederholte seine ernst gemeinte Entschuldigung. Frau Kern war bei der Konferenz als Schulleiterin anwesend, obwohl sie nicht in der Klasse unterrichtete und eigentlich auch nicht zum Personenkreis gehörte, die zu dieser Konferenz eingeladen werden musste.

Ich hatte zum ersten Mal den Eindruck, dass es gar nicht so sehr darum ging, zu einer gerechten Maßnahme für den Schüler zu kommen, sondern mehr darum, festzustellen, wie ich, der Superlehrer, mit solchen Situationen umgehen wollte.

Ich war durchaus in der Lage, den Vorfall so zu schildern, dass ein neutraler Beobachter die Lächerlichkeit der gesamten Aktion sofort durchschauen konnte. So blieb nach der milden Ordnungsmaßnahme in Form eines schriftlichen Verweises auch nur die Schlussrede von Frau Kern.

Sie ermahnte den Schüler ausdrücklich, dass ein Verhalten der körperlichen Annäherung an eine Lehrperson und eine Anbiederung in dieser Form, auch wenn nett gemeint, auf gar keinen Fall geduldet werden dürfte und der Respekt vor den Lehrern sonst verloren ginge. Insofern kam sie, mit einem leichten Seitenhieb auf mich zu der Schlussfolgerung, dass diese Ordnungsmaßnahme für dieses schwere Fehlverhalten viel zu milde ausgefallen wäre.

Damit hatte ich, kaum im Kollegium begonnen, meinen Ruf weg, den ich auch in den nächsten Jahren nicht verlieren sollte. Ich galt fortan als kollegenfeindlicher Schülerfreund. Denn in diesem Kollegium herrschte ausnahmsweise von einer kleinen maßgeblichen Mehrheit der Kolleginnen und einiger weniger männlicher Kollegen, die Minderheitenmeinung vor, dass Schülerinnen und Schüler die natürlichen Feinde der Lehrerschaft seien.

Trotzdem blieb ich für mich bei meiner Meinung, dass in diesem Fall ein klärendes Gespräch und eine ernsthafte Ermahnung bei weitem wirkungsvoller gewesen wäre als so eine förmliche Maßnahme, die nur viel Zeit und Arbeit gekostet hatte.

Tatsächlich war durch diese Aktion ein Misstrauenskeim gesät, der nicht mehr so leicht zu beheben war. Auch mir wurde nicht mehr das absolute Vertrauen entgegengebracht, das ich bei den Schülern in der kurzen Zeit bereits erworben hatte. Dadurch wurde das Unterrichten nicht gerade leichter.

Drei Monate nach meinem unglücklichen Start gewann ich wieder einige Sympathien im Kollegium, als mir selbst eine leichte Verletzung zugefügt worden war.

Während der Geschichtsstunde diskutierten wir darüber, wen wir mehr oder weniger gebildeten Menschen mit der Wahrnehmung unserer Interessen beauftragen würden, wenn es um politische Belange ging. Wir wollten unsere politische Wirklichkeit vergleichen mit der Situation, wie Menschen sie zur Zeit der Vorbereitung auf die französische Revolution vorgefunden hatten. Bei dieser Diskussion ging es wie immer in meinen Geschichtsstunden sehr lebhaft zu.

Plötzlich öffnete sich die Klassenzimmertür, als ich gerade einige wichtige Bemerkungen an die Tafel schrieb. Ich spürte die Bewegung mehr als ich sie hörte und drehte mich schnell um.

Abdul, der Marokkaner verschwand durch die Tür. Er saß immer weit fort von der Tafel unmittelbar neben dem Eingang. Sofort danach hörte ich heftiges lautes Streiten und die ängstliche Stimme von Abdul. So schnell ich konnte stürmte ich nach draußen, wo ein junger Mann von meiner Schätzung nach etwa achtzehn oder neunzehn Jahren den Schüler festhielt, beschimpfte und gerade schlagen wollte. Neben den beiden standen weitere vier Jungen, die ich nicht kannte.

Sofort warf ich mich todesmutig zwischen die Streithähne, forderte den Unbekannten auf, meinen Schüler sofort freizugeben und das Schulgelände zu verlassen.

Ich bekam zur Antwort, in etwas gebrochenem Deutsch, ich solle mich nicht einmischen, denn es ginge mich nichts an.

Das wollte ich aber nicht auf mir sitzen lassen:

„Lassen Sie jetzt sofort den Jungen los. Selbstverständlich geht es mich hier etwas an, wenn in meiner Unterrichtsstunde ein Fremder kommt und meinen Schüler aus dem Klassenraum holt. Erst recht geht es mich etwas an, wenn dann auch noch mein Schüler in meiner Gegenwart von einem Fremden geschlagen werden soll. Deshalb fordere ich Sie jetzt in aller Form auf, den Jungen sofort freizulassen!

Und außerdem mache ich von meinem Hausrecht Gebrauch und fordere Sie ebenfalls auf, sofort das Schulgelände zu verlassen. Haben Sie mich verstanden?“

Der junge Mann tobte nur: „Schreien Sie mich nicht an, sonst passiert was!“

Das brachte mich ausnahmsweise in Wut: „ Ich lasse mir doch von Ihnen nicht den Mund verbieten!“

Und noch lauter brüllte ich ihn an: „Merken Sie sich, ich bin hier zu Hause und nicht Sie. Deshalb schreie ich auch hier so laut, wie es mir passt!“ Hätte ich mich mal lieber ein wenig zurückgenommen.

Denn im gleichen Augenblick ließ der Fremde von Abdul ab und trat mir mit einem Bein recht kräftig gegen den Bauch. Mir blieb im Moment die Luft weg. Aber der junge Mann und seine Begleiter hatten es wohl mit der Angst bekommen und verschwanden wortlos durch die Eingangstür zu unserem Unterrichtspavillon. Ich war ziemlich benommen von dem Schreck und auch vor Schmerz.

Deshalb schleppte ich mich stöhnend zum Lehrerpult vor der Tafel, setzte mich und stützte den Kopf in meine Hände. Mit stockender Stimme bat ich die Kinder, sich einen Augenblick ruhig zu verhalten, bis ich mich wieder erholt hätte.

Ausgerechnet Thomas, der eigentlich immer wieder versucht hatte, mich im Unterricht zu provozieren, lief hinaus. Ich hatte nichts bemerkt, weil ich wegen des Schmerzes die Augen geschlossen hielt.

Er kam einige Minuten später mit Frau Kern zurück. Ich musste ganz schön blass ausgesehen haben.

Denn Frau Kern ließ sofort noch eine Kollegin holen, Frau Knabe, die gerade eine Springstunde hatte und im Lehrerzimmer saß. Während Frau Kern selbst in meiner Klasse blieb und den Unterricht fortsetzte, brachte mich Frau Knabe zu nächsten Krankenhaus. Dort wurde ich gründlich untersucht, wobei ich mich langsam vom Schock erholte.

Frau Knabe war zurückgefahren zur Schule. Nach allen Untersuchungen, Röntgen, Ultraschall und ähnlichem, war es schon Mittag und ich ging zu Fuß zurück zur Schule, da ich Gott sei Dank nicht wirklich ernsthaft verletzt war.

Dort hatte bereits eine für den Tag angesetzte Lehrerkonferenz begonnen. Ausnahmsweise wurde ich mit Applaus empfangen. Man unterbrach sogar kurz die Konferenz, um von mir zu hören, was genau geschehen war und wie es mir jetzt ging. Ich erklärte nach der Schilderung, dass ich Anzeige gegen Unbekannt gemacht hatte.

Allerdings konnte ich diese Anzeige sehr bald schon konkretisieren, da sich herausstellte, dass der Angreifer ein ehemaliger Schüler war, der schon vor Beginn der Konferenz durch Befragung von den Kolleginnen und Kollegen identifiziert worden war. Es handelt sich um den siebzehnjährigen Libanesen Ali Nuri, der wohl schon zur Zeit seines Schulbesuches an dieser Schule kein unbeschriebenes Blatt gewesen war.

Allein die Tatsache, dass ich so konsequent war, eine Anzeige wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu erstatten, stärkte überraschend mein lädiertes Ansehen im Kollegium.

Wie konnte es nur zu solcher Gegnerschaftshaltung gekommen sein zwischen Schülern und Lehrern? Schüler und Lehrer wollten doch wirklich das gleiche erreichen, mussten deshalb eigentlich immer an einem Strang ziehen, auch wenn manchmal natürlich die Kinder nicht sofort die Notwendigkeit einer Unterrichtung oder einer Beurteilung einsehen konnten, wenn sie nicht ihrem Wunsch entsprachen!

Zwei Tage später sprach mich ein libanesischer Schüler an, den ich noch nicht kannte: „Herr Fiori, ich möchte Ihnen sagen, dass es dem Ali Nuri sehr leid tut, dass er sie getreten hat. Er bittet Sie um Entschuldigung. Könnten Sie vielleicht die Anzeige zurückziehen?“

Zunächst war ich perplex. Wie kam der Junge dazu, sich zum Fürsprecher zu erklären. Ich fragte nach: „Wie kommst du dazu, dich für den Jungen einzusetzen? Bist du mit ihm verwandt?“

Er druckste herum: „Nein, aber wir kennen uns sehr gut. Sein Bruder ist auch an dieser Schule. Er ist in Klasse fünf. Ich bin in seiner Klasse. Bitte nehmen Sie doch die Entschuldigung an, sonst muss Ali vor Gericht und wird vielleicht abgeschoben und muss Deutschland verlassen. Vielleicht sogar die ganze Familie. Wollen Sie denn das?“

Was sollte ich dazu sagen: „Natürlich möchte ich das nicht. Aber, warum kommt der Ali nicht selbst zu mir und entschuldigt sich? So gefällt mir das überhaupt nicht, dass du für ihn die Kastanien aus dem Feuer holst. Ist der Ali zu feige? Sag ihm bitte, er soll selbst kommen und sich entschuldigen. Dann überlege ich mir die Sache vielleicht!“

Damit war die Angelegenheit für mich erledigt. Zwei Tage lang hörte ich nichts mehr davon. Dann kam das freie Wochenende, an dem ich mich mit Unterrichtsvorbereitungen und Korrekturen von den Strapazen der Unterrichtswoche erholen konnte.

Doch am Montag war der libanesische Junge schon wieder bei mir. Erst jetzt erkundigte ich mich nach seinem Namen. Er hieß Semi Elsaim und erklärte:

„ Herr Fiori, der Ali kann nicht zu Ihnen kommen. Er hat ja auch Hausverbot hier und darf die Schule nicht betreten. Aber der Polizist hat ihm gesagt, dass er sich vielleicht schriftlich entschuldigen könnte. Nehmen Sie eine schriftliche Entschuldigung an?“

Was sollte ich dazu nun sagen?

Meine erste Wut war lange verraucht. Die Verletzung am Bauch Gott sei Dank weder schwerwiegend noch nachhaltig. Ich dachte darüber nach, dass ich den Jungen mit meiner Brüllerei auch ein wenig provoziert hatte. Ganz sicher aber wollte ich nicht, dass eventuell eine ganze Familie des Landes verwiesen wurde und in ein Krisengebiet zurück musste, nur weil ich zu hart reagiert hatte. Also sagte ich zu, dass ich eine schriftliche Entschuldigung akzeptieren wollte und dann die Anzeige zurücknehmen würde. Auch hatte mich zu dieser Haltung gebracht, dass offenbar selbst ein Polizeibeamter dem Angreifer helfen wollte.

Schon am nächsten Morgen vor Unterrichtsbeginn fing mich Semi ab und überreichte mir einen kleinen Zettel von der Größe eines halben Din-A-5-Blattes, auf dem in ungelenken Buchstaben zu lesen war:

„Seher gehäehrter Heer Fiori, bite endschuldigen Sie, ich habe das nicht böse gemeint, ich wollte Sie nicht tretten!“ Darunter eine krakelige Unterschrift, die notfalls als Ali Nuri zu entziffern war.

Ich konnte mir fast ein Lachen nicht verkneifen, als ich fragte, ob jemand dem Ali beim Abfassen dieser Entschuldigung geholfen hätte. Zur Antwort, die ich eigentlich nicht erwartet hatte, bekam ich dann, dass das wohl der Polizeibeamte getan hätte.

Ich kopierte die Entschuldung und schickte sie zusammen mit der Erklärung, dass ich meine Anzeige wegen Körperverletzung zurückzöge, an die staatsanwaltliche Ermittlungsstelle, die auch die Anzeige entgegengenommen und schriftlich bestätigt hatte.

Außerdem informierte ich meine Schulleiterin davon.

Sofort hatte ich meine schlechten Ruf als Schülerfreund zurück und durfte mich der Verachtung fast aller Kolleginnen und Kollegen erfreuen. Nur einige wenige gratulierten mir zu dem Schritt und konnten nachvollziehen, warum ich dem Jungen nicht für sein ganzes Leben schaden wollte, auch wenn er etwas getan hatte, das eine Bestrafung geradezu zwingend erforderte.

Trotzdem erhielt ich einige Wochen später die Aufforderung in Sachen Ali Nuri gegen Fiori und gegen die Schule eine Zeugenaussage im Gerichtsgebäude zu machen.

Schnell wurden die erforderlichen Formalitäten erledigt, die mich sehr in Anspruch nahmen und andererseits auch außerordentlich interessierten. Denn ich war zum ersten Male in einer dienstlichen Angelegenheit als Zeuge geladen.

Zuerst musste mir die Genehmigung amtlich erteilt werden, dass ich überhaupt vor Gericht aussagen durfte. Danach wurde festgelegt, wie ich die Stunden, die ich frei nehmen musste, vor- oder nacharbeiten konnte. Denn die Vernehmung fiel auf einen Vormittag, an dem ich durch meine Abwesenheit von der Schule insgesamt zwei Unterrichtsstunden nicht erteilen konnte.

 

Und genau diese beiden Stunden mussten ja anderweitig erteil werden. Ein Sonderurlaub für diesen Fall durfte jedenfalls auf gar keinen Fall gewährt werden. Nach dem Ausfüllen der Formulare und dem erteilten Befugnisschreiben, konnte ich endlich rechtzeitig meine Zusage geben, dass ich pünktlich zur Verhandlung erscheinen würde.

Außer meinem trittkräftigen Kontrahenten warteten vor der Türe des Gerichtssaales noch ein paar Freunde von Ali und ein Jugendgerichtshelfer. An den wandte ich mich vertrauensselig, um zu erfahren, wieso es denn überhaupt zur Verhandlung käme, obwohl ich doch meine Anzeige zurückgezogen hätte.

Bereitwillig gab mir der junge Mann Auskunft, dass im Falle einer Körperverletzung die Strafverfolgung auch dann fortgeführt würde von Amts wegen, wenn ein Geschädigter selbst keine Anzeige erstattet hätte. Und ich wäre deshalb auch nicht als Kläger oder Geschädigter geladen sondern nur als Zeuge.

Etwa eine halbe Stunde später als vorgesehen, wurden wir alle in den Saal gerufen. Den Vorsitz hatte eine Richterin, die ihrem Reden nach schon häufiger mit Ali zu tun hatte.

Sie eröffnete die Verhandlung mit dem Nennen aller Personen, die offiziell geladen waren, fragte dann einige Zuschauer, warum sie anwesend wären. Einer von ihnen sagte, dass sie Freunde und Geschwister von Ali wären und zuschauen wollten. Danach wandte sich die Richterin sofort an mich und fragte:

„Sagen Sie uns doch bitte, Herr Fiori, warum Sie eigentlich Ihre Anzeige zurückgezogen haben?“

Mit einer solchen Eröffnung hatte ich bestimmt nicht gerechnet, aber ich fand meine Begründung plausibel:

„Ich hatte zwar unmittelbar nach dem Tritt erhebliche Schmerzen und stand wohl auch unter Schock. Aber im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass meine Verletzung wirklich harmlos war. Zweitens hatte sich der junge Mann schriftlich bei mir entschuldigt, die Kopie dieser Entschuldigung hatte ich dem Staatsanwalt mit der Rücknahme meiner Anzeige zugeschickt. Und drittens, und das war eigentlich der Hauptgrund für mich, die Anzeige zurückzunehmen, dachte ich daran, dass der Junge vielleicht in ein Kriegsgebiet nach Hause abgeschoben werden könnte, weil er hier wegen dieser unbedachten Tat sein Recht auf Asyl verlieren könnte. Und diese mögliche Strafe erschien mir dann doch viel zu hart für einen Moment der Unüberlegtheit!“

Die Richterin bedankte sich bei mir und wandte sich Ali zu: „Hast du das richtig verstanden, Ali? Da trittst du jemanden und der hat sogar noch Mitleid mit dir. Ist dir das eigentlich klar geworden?“

Ali erhob sich und murmelte kleinlaut: „Ja, schon. Aber warum sind wir dann überhaupt hier, wenn der doch überhaupt keine Anzeige gegen mich gemacht hat. Dann brauchen wir doch eigentlich keine Gerichtsverhandlung?“

Die Richterin schmunzelte: „Also, mein Lieber, so einfach können wir dir die Sache nun wirklich nicht machen. Du schreibst eine Entschuldigung und schon bist du aus dem Schneider. Dafür hast du erstens viel zu viel auf dem Kerbholz, und zweitens macht die Anzeige bei einer Körperverletzung, und um die handelt es sich, grundsätzlich der Herr Staatsanwalt hier. Dazu brauchen wir den Herrn Fiori gar nicht. Hast du dich eigentlich schon mal so ganz richtig bei ihm entschuldigt?“

Auf seine Verneinung hin, meinte sie lakonisch: „Na, dann aber mal schnell, ich möchte jetzt sehen und hören, wie du Herrn Fiori die Hand gibst und dich laut und deutlich bei ihm entschuldigst!“

Etwas hölzern und ungeschickt schüchtern erhob sich Ali, schlenderte zu meinem Platz herüber, reichte mir die Hand und sagte undeutlich nuschelnd: „Entschuldigung!“

Nachdem er wieder an seinem Platz saß, fuhr die Richterin fort: „Sehr überzeugend sah das ja nicht gerade aus, aber ich will es mal gelten lassen! Aber damit ist die Sache nun keineswegs erledigt. Weißt du eigentlich, wie viel Mal du mit dem heutigen Tage schon vor mir gestanden oder gesessen hast? Schau mal, wie dick deine Akte schon ist! Soviel Zeit haben wir jetzt gar nicht, um alle deine Missetaten aufzuzählen. Deshalb bin ich auch der Meinung, dass du schon deutlich merken solltest, dass du hier wirklich falsch gehandelt hast. Deshalb habe ich beschlossen, dass du ab kommenden Montag drei Wochen lang täglich im Jugendheim zu helfen hast und dort genau den Anweisungen des Heimleiters folgen musst.

Du meldest dich jeden Morgen um 7.30 Uhr im Jugendheim in Katernberg beim Heimleiter, von dem du dann deine genaue Aufgabenzuteilung erhältst. Die Anschrift bekommst du nach der Verhandlung von deinem Jugendbetreuer. Des Weiteren verbiete ich dir hiermit ausdrücklich das Betreten der Schule oder des Schulgeländes. So, nun hoffe ich, dass alles geklärt ist und ich dich so schnell nicht wieder hier sehe. Das Protokoll unterschreibe ich dann morgen, weil ich jetzt sofort losfahren muss, meine Tochter vom Kindergarten abholen. Hat noch jemand Fragen? (kurze Pause) Die Sitzung ist geschlossen!“

Auf dem Heimweg dachte ich darüber nach, dass ich doch richtig gehandelt hatte, die Anzeige zurückzuziehen. Immerhin handelte es sich bei dem trittlustigen Knaben noch um einen unreifen Jugendlichen. Er hatte lautstark darum gebeten, dass ich ihn nicht anschreien möchte. Möglicherweise war er tatsächlich schon kriegerischen Handlungen ausgesetzt gewesen und hatte deshalb gegen alles besonders Laute eine Aversion. Und ich hatte schließlich sehr laut mit ihm gesprochen. Wie war das noch, wenn man dem Wummern einschlagender Bomben ausgesetzt war? Wie fühlte man sich beim lauten und gefährlichen Einschlag von Raketen ganz in der Nähe?

War ich nicht selbst auch ziemlich lärmempfindlich? Hatte ich nicht selbst regelrecht Schmerzen im ganzen Körper, wenn bei lauter Musik besonders die Bässe dröhnten? Waren das auch bei mir Kriegsschäden? War ich nicht ein Kriegskind? Ich dachte darüber nach, was ich eigentlich vom Krieg in frühester Jugend mitbekommen hatte. Immerhin war ich noch sehr klein, als der Krieg endlich zu Ende war.