Schlag doch zu! Autobiografie

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„Herr Fiori, ich habe eine Bitte, dass Sie sich in ihrer Eigenschaft als Beratungslehrer einmal mit Herrn Kraft unterhalten. Ich bin der Meinung, dass er wirklich Probleme hat im Umgang mit den Schülern. Zu oft ruft er nach der Polizei. Ich möchte das nicht, dass ständig nach außen getragen wird, wenn hier in der Schule mal etwas nicht so läuft, wie wir uns das wünschen. Würden Sie das wohl tun bei irgendeiner sich ergebenden Gelegenheit?“

Das war genau die Art, wie ich als Beratungslehrer nicht agieren sollte und es auch bestimmt nicht wollte. Wenn jemand das Bedürfnis hatte, sich mit mir über seine Probleme zu unterhalten, sollte grundsätzlich die Initiative von ihm aus gehen. Denn meine Tätigkeit als Beratungslehrer setzte voraus, dass ich seine Probleme anhörte und mich auf seine Auffassung einstellte und mich auch auf seine Seite stellte und seine Nöte verstehen würde.

Das hieß, dass ich grundsätzlich mich seiner Probleme positiv annehmen musste, um dann im Gespräch zu klären, welche Möglichkeiten er selbst finden konnte, diese Probleme zu lösen. Nur wenn der Ratsuchende selbst keine Möglichkeit sah, dann sollte ich kraft der Vernetzung der Beratung ihm eine möglichst kompetente Hilfe nennen und vielleicht auch die Verbindung dorthin aufnehmen. Und genau dieses Prinzip wurde natürlich durchbrochen, wenn ich die Initiative ergreifen musste. Dann war ich es nämlich, der im Grunde ein Problem hatte.

Trotzdem versprach ich Frau Kern, dass ich Herrn Kraft ansprechen wollte.

Inzwischen hatten wir unser Ziel erreicht und begaben uns in unsere Unterrichtsräume. Denn Frau Kern musste nicht in ihr Büro sondern ebenfalls sofort in den Unterricht.

Auch während der Religionsstunde im siebten Schuljahr kam es zu ähnlicher Unruhe wie in meiner eigenen Klasse. Auch hier musste ich mich kurz auf ein Gespräch über die gestrige Lehrerkonferenz einlassen und Herrn Kraft gegen meine eigene Überzeugung verteidigen. Ob ich besonders glaubwürdig klang, bezweifelte ich.

Es sollte am gleichen Tag noch dicker kommen.

Nach der letzten, der sechsten Stunde baten mich Katja und Melanie um ein vertrauliches Gespräch. Ich blieb deshalb gleich mit ihnen im Klassenzimmer.

Dabei fiel mir ein, dass genau davor oft gewarnt worden war. Gerade ein männlicher Lehrer mit zwei Schülerinnen im vertraulichen Gespräch wäre der Gefahr einer Verleumdung ausgesetzt. Gab es doch hinreichend Beispiele dafür, dass Schülerinnen den Lehrer anzeigten wegen angeblicher sexueller Belästigungen oder Schlimmeres. Seine Unschuld zu beweisen, fiel dann dem betroffenen Lehrer mehr als schwer. Solche Fälle waren nur dann gut ausgegangen, wenn so ein Mädel hinterher den Mut aufbrachte, die Wahrheit zu sagen, dass sie dem Lehrer eigentlich nur einen Denkzettel verpassen wollten, an der Beschuldigung selbst aber absolut kein Körnchen Wahrheit sei. Trotzdem hatten dann solche Kollegen einen guten Ruf oftmals verloren.

Obwohl mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, ließ ich mich auf das Gespräch ein. Tatsächlich hatte ich auch überhaupt keine Befürchtungen, dass die Mädchen irgendetwas anderes im Schilde führten, als mich wirklich zu bitten, ihnen bei der Lösung eines Problems behilflich zu sein. Die Mädel hatten sehr großes Vertrauen zu mir und ich vertraute ihnen ebenfalls völlig. Außerdem gehörte es sowieso zu meinem Alltag als Beratungslehrer, dass sich Jungen oder Mädchen allein ratsuchend an mich wandten, dabei strikte Vertraulichkeit erwartend.

Ich fragte infolgedessen, was sie denn auf dem Herzen hätten.

Katja kam sofort zur Sache: „Herr Fiori, wir beide möchten gerne an Ihrem Religionsunterricht teilnehmen und wollen nun fragen, ob wir das von der nächsten Stunde an dürfen.“

Das kam etwas überraschend, aber ich musste mich wohl darauf einlassen: „Nun bin ich aber wirklich sehr überrascht. Ihr wisst doch, dass ich evangelisch bin und dementsprechend evangelische Religionslehre erteile. Ihr beide aber seid katholisch und würdet bei mir also Dinge lernen, die mit eurer Kirche nicht in Einklang zu bringen wären. Warum um Himmels willen wollt ihr denn auf einmal zu mir? Auch andere Lehrer machen einen guten Unterricht. Bei mir müsst ihr viel schreiben und oft ist der Unterricht auch gähnend langweilig. Also, warum?“

Melanie antwortete dieses Mal: „Ja, wir wollen deshalb zu Ihnen, weil Sie selbst erklärt haben, dass Arbeitgeber bei der Vergabe von Lehrstellen darauf achten, dass Schüler am Reli-Unterricht teilgenommen haben und sich nicht etwa abgemeldet haben. Das aber würden wir auch machen, wenn wir nicht bei Ihnen teilnehmen können. Wir wollen auf jeden Fall eine Note in Reli auf dem Zeugnis haben!“

Ich wusste immer noch nicht, wo eigentlich die Ursache für diese Bitte lag: „Dann sagt mir doch bitte einmal, warum ihr denn nicht weiter am katholischen Religionsunterricht teilnehmen wollt. So ohne weiteres ist ein Wechsel wirklich nicht möglich! Da müssen schon schwerwiegende Gründe vorliegen.“

Beide drucksten herum, bis sich Katja ein Herz fasste: „Wir möchten gerne von Herrn Kraft weg!“

Jetzt wurde es mir langsam zu bunt: „Also, meine Lieben, wenn ihr schon wieder auf die Lehrerkonferenz anspielen wollt, und jetzt alle Schülerinnen und Schüler ankommen und den Unterricht von Herrn Kraft boykottieren wollen, dann spiele ich nicht mit! Das könnt ihr euch von der Backe kratzen!“

Beide protestierten heftig: „Nein das ist überhaupt nicht der Grund. Damit hat das absolut nichts zu tun. Wir wollen von Herrn Kraft weg, weil, na ja, weil die Jungen immer nach seinem Unterricht so blöd sind. Sie fassen uns an die Brust oder sogar an den Hintern oder vorne an. Ali hat sogar schon mal einen Besen genommen und mit dem Besenstiel versucht, einigen Mädchen vorne ins Geschlechtsteil zu stoßen!“

Ich verstand immer noch nicht: „Was hat das denn aber mit Herrn Kraft zu tun? Ich werde mir die Jungen ganz gehörig zur Brust nehmen, da könnt ihr euch drauf verlassen! Das ist ja eine Erzschweinerei. Aber ich habe, ganz ehrlich, immer noch nicht begriffen, warum ihr deshalb aus dem Religionsunterricht von Herrn Kraft herauswollt?! Kann mir das jetzt mal eine von euch so erklären, dass auch ich das begreifen kann?“

Katja fasste sich endlich ein Herz: „Also, das müssen Sie verstehen. Wir möchten nicht von Herrn Kraft geküsst werden. Das macht er nämlich mit den Mädchen aus Klasse 10.“

So fragte ich: „Wieso, versucht er denn, euch zu küssen im Unterricht? Das höre ich jetzt zum ersten Mal. Stimmt das?“

Melanie ergänzte: „Nein, das macht er natürlich noch nicht, aber wir denken, dass er das möchte. Er kommt immer so komisch nah während der Unterrichts. Dann berührt er einen von hinten mit dem Gesicht am Kopf oder er streicht, wie zufällig mit dem Arm über unsere Brust. Manchmal umarmt er einen auch ganz fest, angeblich, um beim Schreiben zu helfen. Jedenfalls ist uns sein Verhalten ganz unangenehm, und wir wollen nicht, dass es so weiter geht, oder wir eine schlechte Note bekommen, wenn wir uns seine Annäherungsversuche nicht gefallen lassen!“

Allmählich wurde mir die Sache doch unheimlich. Herr Kraft war nicht gerade der Typ Kollege, der mir besonders sympathisch war. Einerseits sollte ich ihn von der Schulleiterin her beraten und mich in seine Situation versetzen, dabei wohlwollend seine Interessen beachten, andererseits verabscheute ich von ganzem Herzen das, was mir die beiden Mädel gerade anvertraut hatten. Hinzu kam, dass ich seine Art, ständig nach Strafen oder nach Polizei zu rufen ebenso nicht verstand und nicht teilte. Wie sollte ich mich da nur verhalten?

Am liebsten würde ich öffentlich herausschreien, was für eine blöde Person er ist. Aber genau das konnte ein Bumerang werden. Denn er konnte jederzeit den Spieß umdrehen und behaupten, ich steckte mit den Schülern unter einer Decke und wollte ihn nur fertig machen. War das, was er mit den Mädchen da tat, schon als strafbare Handlung anzusehen? Hatte es Sinn, schon jetzt gegen ihn vorzugehen? Wichtiger schien mir tatsächlich, die Mädchen vor Übergriffen zu schützen. Das musste also zuallererst geschehen. Nur hatte ich noch nicht ganz verstanden, was die mehr als derben Späße der Jungen mit dem Verhalten von Herrn Kraft zu tun hatten. Wo war da irgendein logischer Zusammenhang?

Diese Frage galt es zuerst zu klären: „Wo ist denn da ein Zusammenhang zwischen dem blöden Verhalten eurer Mitschüler und den unschönen Annäherungsversuchen von Herrn Kraft? Könnt ihr mir das auch noch erklären?“

Dieses Mal ergriff wieder Katja das Wort: „Ja, haben Sie das denn nicht verstanden? Die Jungen kriegen das mit auch im Musikunterricht und machen sich lustig über diese dämlichen Berührungsspielchen von Herrn Kraft und meinen, wir hätten das gern. Dann spielen sie hinterher immer weiter und ärgern uns mit noch viel massiveren Übergriffen. Dabei fragen sie dann immer, ob uns das Spaß macht, wenn sie das machten. Oder ob wir es lieber von Herrn Kraft hätten. So, und deshalb wollen wir unbedingt von Herrn Kraft weg und wollen wenigstens nicht mehr an seinem Religionsunterricht teilnehmen! Bitte, bitte helfen Sie uns!“

Das erschien mir tatsächlich wirklich erforderlich und das allerwichtigste im Augenblick. Wir vereinbarten, dass beide Mädchen schon am nächsten Tag einen schriftlichen Antrag von den Eltern mitbrächten, auch von ihnen beiden unterschrieben, dass alle damit einverstanden wären, demnächst am evangelischen Religionsunterricht teilzunehmen und nicht mehr am katholischen. Beide Mädchen versprachen feierlich mit ihren Eltern über die wahren Gründe für diesen Wechsel zu sprechen. Andererseits baten sie mich, das nicht an die große Glocke zu hängen, weil sie befürchteten, dass sich Herr Kraft fürchterlich an ihnen rächen könnte.

Obwohl ich immer wieder danach einige Andeutungen bei der Schulleiterin machte, hatte sie nicht verstehen wollen, was die eigentlichen Gründe waren, für die mit ihrer Genehmigung durchgeführte Maßnahme eines Wechsels in meinen Religionsunterricht. Sie glaubte angeblich fest daran, dass es nur die Anhänglichkeit von Schülerinnen ihrem Klassenlehrer gegenüber war, die diese veranlasst hatten, einen Unterrichtwechsel zu beantragen.

 

Mehr als ziemlich eindeutige Anspielungen aber wollte ich nicht machen, weil auch ich fürchtete, einen solchen Prozess nicht zu überstehen. Überdies hatte ich auch in meiner Ausbildung zum Beratungslehrer gelernt, gerade im Umgang mit derartigen Sachverhalten besonders behutsam zu Werke zu gehen und nur dann eine solche Verhaltungsweise offen zu legen, wenn absolut sicher war, dass ein Mensch mit diesen Veranlagungen auch wirklich überführt werden und vor allen Dingen von den Opfern seiner Tätigkeiten getrennt werden konnte.

Ein Vorgehen gegen diesen Kollegen musste äußerst behutsam erfolgen. Doch auch eine von mir selbst initiierte Lehrerkonferenz, bei der eigentlich seine Neigung offen gelegt werden sollte, schlug ins Gegenteil aus, da ich selbst nicht genug Rückhalt im Kollegium hatte und besonders die Schulleiterin absolut nicht verstand, um was es eigentlich ging.

Einer weiterführenden Maßnahme wurde ich zum Schluss des Schuljahres enthoben, da der Kollege aus persönlichen Gründen zum Schuljahresende aus dem aktiven Schuldienst ausschied. Damit war ich natürlich meine Sorgen los, nicht aber das Gefühl, hier vielleicht doch kläglich versagt zu haben.

Aber auch so hatte ich reichlich Arbeit damit, musste auch innerlich damit fertig werden. Dazu war es hilfreich, in irgendeiner Form vernetzt zu sein, so dass ich wenigstens mit einem anderen Kollegen, auch Beratungslehrer, über mein Problem sprechen konnte, dem ich auch voll vertrauen durfte, weil auch er, wie jeder Beratungslehrer oder Berater zu besonderer Geheimhaltung verpflichtet war.

Trotzdem kam ich der Bitte meiner Schulleiterin nach und sprach Herrn Kraft an: „Herr Kraft, manchmal habe ich den Eindruck, dass Sie Probleme damit haben, im Umgang mit den Schülern den richtigen Umgangston zu treffen. Jedenfalls scheint es so, dass Sie häufiger als andere Angriffen ausgesetzt sind. Gerne bin ich bereit, mich mit Ihnen zusammen zu setzen. Dann könne wir ja mal darüber sprechen, wie solche Dinge vielleicht von uns allen oder auch von Ihnen gelöst werden können, auch ohne Gewaltandrohungen.“

Herr Kraft lief puterrot an, ließ mich fast nicht ausreden und reagierte sehr heftig:

„Wenn ich mich mit irgendjemandem darüber unterhalten möchte, dann nur mit jemandem, bei dem ich eine kleine Chance sehe, dass ich meine Ansichten überhaupt zu Gehör bringen kann. Sie aber wären der letzte, mit dem ich über so etwas sprechen möchte. Bei Ihnen hätte ich ja nicht den Deut einer Möglichkeit, meine Meinung überhaupt vorbringen zu können. Nein, ganz bestimmt möchte ich mit Ihnen niemals ein Gespräch führen über Pädagogik und über den Umgang mit jungen Menschen oder Schülern!“

Damit wandte er sich ab und ließ mich stehen wie einen Bettler.

Schon vierzehn Tage später gab es wieder eine Lehrerkonferenz, initiiert von Herrn Kraft gegen den Schüler Ahmed. Meine Kinder aus meiner Klasse hatten also Recht behalten. Ich hatte natürlich eindeutig Vorurteile gegen Herrn Kraft und glaubte nicht ein einziges Mal daran, dass der Schüler Ahmed schuldig sein könnte, an dem, was ihm nun zur Last gelegt werden würde. Dabei wusste ich überhaupt nicht, worum es ging. Ich hatte nur gerüchteweise gehört, dass Ahmed Herrn Kraft tatsächlich tätlich angegriffen hätte.

Herr Kraft trug vor, Ahmed hätte ihn völlig überraschend und ohne jeglichen Grund plötzlich auf der Straße angegriffen, als er gerade nach der letzten Unterrichtsstunde auf dem Heimweg gewesen wäre. Nur die Tatsache, dass einige Mädchen aus der zehnten Klasse ihm zu Hilfe geeilt wären, hätte Schlimmeres verhütet. Aber er hätte ja mit einer solchen Tat eigentlich rechnen müssen, nachdem was in der letzten Konferenz schon für Drohungen ausgesprochen worden wären. Nicht umsonst hätte er Anzeige bei der Polizei erstattet. Jetzt jedenfalls müsste er darauf bestehen, dass dieser Schüler der Schule verwiesen werden müsste.

Ahmed erklärte, dass Herr Kraft ihn mehrfach immer wieder aufgefordert hätte, es ihm doch endlich zu zeigen.

„Seit Tagen spricht mich Herr Kraft immer wieder an. Dann sagt er, deine Mutter ist doch Putzfrau. Sie sollte lieber zu Hause aufpassen, dass alles in Ordnung ist. Aber dazu hat eine Putzfrau wohl keine Zeit! Immer wieder habe ich ihm gesagt, er solle damit aufhören. Er solle meine Mutter nicht beleidigen. Meine Mutter wäre keine Putzfrau , sie wäre eine ordentliche Frau. Bei uns in der Familie wäre keine Putzfrau. Vielleicht wäre seine Mutter ja eine Putzfrau! Manchmal habe ich auch gar nicht geantwortet, damit er mir nichts anhängen konnte. Jedenfalls lasse ich mir nicht gefallen, dass er immer meine Mutter beleidigt“, erklärte Ahmed leidenschaftlich.

Auch an dem Tag wieder hätte er ihm leise zugerufen: „Na dann komm doch, du Bastard, wenn du dich traust. Jetzt ist doch keiner da, jetzt kannst du doch endlich beweisen, was du für ein Held bist. Komm her, ich bin ganz allein!“

Ja, und da hätte er rot gesehen und wäre auf Herrn Kraft losgegangen. Aber in dem Augenblick wären ja die blöden Weiber aus der zehnten um die Ecke gekommen. Die hätten sich dann zwischen ihn und Herrn Kraft gestellt. Sonst hätte er dieses Mal wirklich Herrn Kraft verprügelt, weil er einfach nicht mehr ertragen konnte, immer und immer wieder von Herrn Kraft in dieser Form angegangen zu werden.

Natürlich stritt Herr Kraft vehement ab, dass er den rabiaten Flegel überhaupt angesprochen hätte, er wüsste doch, wie diese ungebildeten Menschen mit dieser Mentalität aus dem Libanon reagierten. Schon deshalb hätte er alles vermieden, was den Jungen irgend wie hätte provozieren können. Alle versammelten Lehrerinnen und Lehrer glaubten ihm, nur ich nicht, ich glaubte dem Jungen.

Auch die Zeugenaussagen der Mädchen bestätigten eigentlich nicht, dass Herr Kraft nicht der Urheber des eskalierten Streites war. Die Mädchen hatten vor der Konferenz auf Wunsch von Herrn Kraft ausgesagt. Danach hatte Herr Kraft sie gebeten, in seiner Nähe zu bleiben, weil er einen Angriff von Ahmed befürchtete. Er begründete seine Angst damit, dass andere Schüler ihn gewarnt hätten. Es wurde nicht geklärt, welche Schüler das gewesen sein sollten.

Die Mädchen hatten also wenige Schritte hinter Herrn Kraft direkt hinter der Ecke aufgepasst, hätten aber nicht das geringste Wort gehört aus dem Munde von Herrn Kraft, bis er gerufen hätte: „Hilfe, der Ahmed will mich verprügeln!“

Ja, und dann wären sie halt dazwischen gegangen und hätten Mühe gehabt, den Ahmed zu beruhigen, der immer wieder versucht hätte, auf Herrn Kraft loszugehen.

Ich glaubte Ahmed immer noch jedes Wort.

Nicht so aber die versammelte Lehrerkonferenz. Ahmed wurde der Schule verwiesen und hatte keine Chance mehr, in Kürze einen Schulabschluss zu erwerben. Da half auch mein Einwand nicht, dass wir doch dem Jungen wenigstens die Möglichkeit eröffnen sollten, an einer anderen Schule den Schulabschluss zu erhalten. Ahmed war nicht mehr schulpflichtig, weshalb ihn auch eine andere Schule nicht nehmen musste.

Die Emotionen waren hoch gegangen während der Konferenz. So war es nicht verwunderlich, dass sich einige Lehrerinnen und Lehrer noch zu einem Gespräch fanden im Lehrerzimmer, obwohl es schon spät abends war.

Kopfschüttelnd diskutierten einige darüber, dass Ahmed sich so aufgeregt hätte, wenn jemand behauptete, seine Mutter wäre eine Putzfrau. Schließlich wäre es doch nicht unehrenhaft, sich mit Putzen seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich meinte, dass er vielleicht zu stolz wäre auf seine Familie und deshalb nicht haben könnte, dass ausgerechnet seine Mutter einer so niedrigen Arbeit nachginge.

Na, da hatte ich wohl wieder ins Fettnäpfchen getreten. Frau Langer regte sich auf, wie ich denn wagen könnte, das Putzen als niedrige Arbeit zu bezeichnen. Ihre eigene Mutter wäre Putzfrau gewesen und sie selbst wäre stolz darauf. Schließlich hätte der Fleiß ihrer Mutter dazu geführt, dass sie hätte studieren können!

Mich machte diese Diskussion nachdenklich. Ich überlegte, wo denn meine eigenen Wurzeln lagen und ob meine Mutter wohl jemals gewollt hätte, dass sie selber sich als Putzfrau verdingen musste.

Die Wurzeln eines Lehrers

Geboren wurde ich am Sonntagmorgen, dem 02. Februar 1941, um 04.52 Uhr. Ob und wieweit das Geburtsdatum für einen typischen Lehrer von Bedeutung ist, kann ich leider wirklich nicht genau beurteilen, weiß allerdings, dass von den vielen tausend Lehrerinnen und Lehrern bestimmt nicht sehr viele am gleichen Tage und zur gleichen Stunde Geburtstag haben.

Das lässt natürlich den Schluss zu, dass ein Geburtsdatum für das Typische eines Lehrers nicht unbedingt ausschlaggebend sein muss.

Andererseits ist nicht nur in der Astrologie bekannt, dass die Geburtsstunde eines Menschen sehr bedeutend sein kann für seinen Charakter und für seinen beruflichen und sonstigen Werdegang.

Das Sternzeichen für Menschen, die in der Zeit zwischen dem 20. Januar und dem 19. Februar geboren sind, ist der Wassermann. Unter diesem Sternzeichen wurden bekannte Persönlichkeiten geboren, deren Weisheiten und Charaktere sicher auch zu einem künftigen Lehrer passen:

August Strindberg, geb. 22. Januar 1849 „Beneide niemanden, denn du weißt nicht, ob der Beneidete im Stillen nicht etwas verbirgt, was du bei einem Tausche nicht übernehmen möchtest.“

Francis Bacon, 22. Januar 1561 „ In der Nächstenliebe gibt es kein Übermaß.“

Gotthold Ephraim Lessing, 22. Januar 1729, “Gestern liebt ich, heute leid ich, morgen sterb’ ich, dennoch denk ich heut und morgen gern an gestern.“

Johann Gottfried Seume, 29. Januar 1763, „Das Los des Menschen scheint zu sein: nicht Wahrheit, nicht Freiheit und Gerechtigkeit und Glückseligkeit, sondern Ringen danach.“

Romain Rolland, 29. Januar 1866, „Das schlimmste Übel, an dem die Welt leidet, ist nicht die Stärke der Bösen, sondern die Schwäche der Besseren."“ Emanuel Swedenborg, 29. Januar 1688, Das Gewissen ist Gottes Gegenwart im Menschen.“

Thomas Morus, 7. Februar 1478, „Viele Menschen erkaufen sich die Hölle mit so großer und schwerer Arbeit, dass sie sich mit der Hälfte den Himmel hätten erkaufen können.“

Charles Dickens, 7. Februar 1812, „Nichts in der Welt wirkt so ansteckend wie Gelächter und gute Laune.“

John Ruskin, 8. Februar 1819, „Wir können stets fühlen, was recht, aber nicht immer wissen, was möglich ist.“

Berthold Brecht, 10. Februar 1898, „Ja, renn nur nach dem Glück, doch renne nicht zu sehr, denn alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher.“

Abraham Lincoln, 12. Februar 1809, „Du kannst die Leute eine Zeitlang zum Narren halten, du kannst sie lange zum Narren halten, aber du kannst sie nicht für immer zum Narren halten.“

Talleyrand, 13. Februar 1754, „Frauen verzeihen manchmal einem Mann, der eine günstige Gelegenheit erzwingt, aber sie verzeihen niemals einem Mann, der eine solche nicht wahrnimmt.“

Zum Wassermann gehören folgende Zeichen und Elemente:

Planet: Uranus, Element: Luft, Metall: Uran, Farbe: Blau, Blume: Narzisse, Glückstag: Samstag, Glückszahl: Sieben, Edelsteine: Citrin, Saphir, Amethyst.

Zum Thema „Liebe“ gilt: Der im Wassermann-Zeichen geborene Mensch braucht Rat und Unterstützung und die Wärme eines liebenden Partners, um selbst den inneren Frieden zu finden. In der Liebe ist er sehr anspruchsvoll und kann sich deshalb vielfach erst in späteren Jahren zur Ehe entschließen, die öfters wechselnden Bedingungen unterworfen ist. Er fühlt sich vor allem hingezogen zu Widder, Waage, Schütze und Zwillinge.

Sein Charakter wird so beschrieben:

Der Wassermann-Typ ist ein Empfindungsmensch, mit einem großen Maß an Aufgeschlossenheit und Interesse für alles Zukünftige, Unbekannte und Unerforschte. Er ist hilfsbereit und zeigt ein offenes Herz für die Nöte und Sorgen seiner Mitmenschen. Gerechtigkeitsliebe und ein ausgesprochener Freiheitsdrang beherrschen sein Leben.

Für den Beruf, für seine Arbeit gilt:

Dem Wassermann-Typ verhilft seine Intelligenz, falls er sie am richtigen Ort einzusetzen versteht, zu außerordentlichen Möglichkeiten. Wenn sich auch seine genialen Ideen im beruflichen Leben nicht immer realisieren lassen, helfen ihm seine Fähigkeiten, das Bestmögliche zu leisten. Unabhängigkeit bedeutet ihm mehr als äußere Zeichen des Erfolgs.

 

Welch‘ ein Glück für Schüler, wenn sie einen Lehrer finden, der sowohl hilfsbereit ist und noch dazu ein offenes Herz für die Nöte und Sorgen seiner Mitmenschen zeigt. Ganz besonders angenehm dürfte sich auch die Gerechtigkeitsliebe auswirken. Eine Paarung mit der Eigenschaft, im Beruf lieber unabhängig zu sein als erfolgreich, machen einen solchen Menschen auch noch frei von Zwängen und Vorschriften, ein weiteres gutes Verhalten, das für optimale Betreuung von Kindern und Jugendlichen sorgen könnte.

Angelangt bei diesem Punkt einer Biographie kommt die Erkenntnis, dass bestimmt nicht nur der Zeitpunkt der Geburt entscheidend ist, sondern außerdem auch der Geburtsort, in diesem Fall die Stadt Essen im Ruhrgebiet, noch entscheidender könnte sich der Hergang der Geburt und die näheren Umstände ausgewirkt haben, aber der entscheidendste Punkt ist sehr wahrscheinlich das Elternhaus, das ganz bestimmt bei der Prägung eines Menschen die größte Rolle spielt, sogar dann, wenn ein Kind gar nicht bei den Eltern aufwächst. Das zum Beispiel ist die angeborene Prägung durch die Erbfaktoren. Bleibt nun die Frage, ob Lehrer typische Erbfaktoren haben. Diese Lebensgeschichte könnte darüber Auskunft geben.

Ein sehr wichtiges GEN hatte ich offensichtlich damit geerbt, dass ich Sprössling einer „gut bürgerlichen Familie“ war. Jedenfalls betonte meine Mutter immer wieder, dass sie aus einer gut bürgerlichen Familie stammte. So, wie sie das ausdrückte, hörte es sich für mich immer an, als wäre eine gut bürgerliche Familie gesellschaftlich etwa unmittelbar unter einem Königshaus anzusiedeln oder wenigstens fast einem Hochadel gleichzusetzen.

Was gut bürgerlich genau bedeutete, wusste ich eigentlich nie so richtig, bis ich als Lehrer einmal mit meinen Schülern die Satire „Wo kommen die Löcher im Käse her?“ von Kurt Tucholsky las.

Wer nicht mehr genau weiß, worum es in dieser Satire geht, darf die folgende kurze Inhaltsangabe lesen:

In einer gut bürgerlichen Familie wurden Gäste erwartet, Verwandte, Freunde, Bekannte. Kurz vor dem Eintreffen dieser Menschen stellte der kleine Sohn die Frage: „Wo kommen die Löcher im Käse her?“ Da niemand ihm diese Frage richtig beantworten konnte, selbst das Lexikon nicht alle Auskünfte parat hatte wegen fehlender Seite, kam es zu einem entsetzlichen Streit zwischen allen Familienmitgliedern, Verwandten und Freunden, weil niemand dieser gut bürgerlichen Menschen sich die Blöße geben wollte, etwas nicht zu wissen.

Dieses Glänzen mit einer soliden Halbbildung, ohne jedoch ein einziges Mal auch nur Unkenntnis andeutungsweise zuzugeben, sollte in dieser Satire von Tucholsky als besonderes Merkmal des sogenannten gebildeten Bürgertums dargestellt werden.

Wie in der Satire war die Familie meiner Mutter so gebildet, dass sie höchste Hochachtung verdiente.

Diesbezügliche Fragen meinerseits konnte meine Mutter auch mit Beweisen und schriftlichen Dokumenten beantworten. Dabei war natürlich ihre eigene Herkunft von ganz besonderer Bedeutung. Ihre leibliche Mutter verstarb zwar wenige Wochen nach ihrer Geburt, aber trotzdem war deren Herkunft entscheidend für den Beweis erwähnenswerter Abstammung:

Sie stammte nämlich aus dem Hause Dollheiser. Herr Dollheiser, der Vater meiner Großmutter, also, wurde von meiner Mutter mit besonderer Hochachtung erwähnt, da er in Köln stadtbekannt war als Erfinder und Fabrikant.

Dabei hatte er eine ganz bedeutende Erfindung gemacht, die meine Mutter leider nicht so genau beschreiben konnte. Angeblich handelte es sich um Lichter, die laufen können.

Meine Frage, die ich schon in sehr jungen Lebensjahren stellte, warum denn eine solch großartige Erfindung nicht zu mehr Wohlstand in unserer Familie geführt hätte, beantwortete meine Mutter grundsätzlich dahingehend, dass schließlich zwei Weltkriege der Familie alles genommen hätten.

Zum Beweis der Unsterblichkeit ihres „Erfindergroßvaters“ holte Mutti bei solchen Gesprächen oft ein in braunes Leder gebundenes altes ehrwürdig aussehendes Album hervor, auf dem mit goldenen Lettern eingraviert zu lesen war:

Liebe Erinnerungen

gesammelt von

Jean Dollheiser

Bei solcher achtunggebietender Schrift, die ich auch dann noch nicht gut lesen konnte, als ich schon lange und hervorragend ( jawohl „hervorragend“, denn damals war auch die Volksschule noch hervorragend in ihren Leistungen, wie ich später oft zu hören bekam, wenn meine eigenen Leistungen nicht ganz den Erwartungen gewisser Personen entsprach.) das Lesen und Schreiben in der Volksschule gelernt hatte, musste doch jeder Mensch glauben, dass es sich um etwas ganz Besonderes handeln müsse.

Von enorm großem Ansehen zeugte auch ein Messingverschluss, -leicht oxidiert-, mit dem man dieses Album sicher verwahren konnte vor unbefugter Einsichtnahme oder versehentlicher Öffnung.

Vom Inhalt dieses Albums wurden mir dann schon in frühen Kindergartentagen Aufzeichnungen gezeigt, die sehr gedruckt und vor allen Dingen äußerst beeindruckend aussahen.

Erst als Erwachsener habe ich dann lesen können, was dieses Album enthielt:Gleich auf der dritten Seite sind Zeitungsausschnitte eingeklebt, die Bilder von Fässern, Installationen, Leitungen und Apparaturen zeigen. Zwei größere Zeitungsartikel weisen auf den Firmennamen hin. Auf der einen kann man lesen, dass Joh. Dollheiser, in der Peterstraße 21 zu Köln als Generalvertreter Industrielle Beleuchtungen anbietet, nämlich „Doty’s Petroleum-Gas-Fackel“, die auch abgebildet ist. Dazu folgt in sehr kleiner Schrift eine Beschreibung, die mit den Worten beginnt: „Leuchtkraft von ca. 1000 Kerzen ...... . Neben dieser Anzeige sieht man eine weitere ebenso große Annonce des Inhaltes: „J. Dollheiser, Gas & Wasserleitungsanleger, Klempner & Apparatenfabrikant in ‚COELN a/Rh’, Peterstrasse 21 nebst Beschreibungen aller Arbeiten, für die er sich empfiehlt. Zwischen den Anzeigen und Bildern stehen Tagessprüche oder Kalendersprüche, wie sie möglicherweise an diesem Tag in der Zeitung gestanden hatten, fein säuberlich eingeklebt, zum Beispiel: „Genieße deine Kraft, Man lebt nur, wenn man schafft (Alter Spruch)“

oder

„Der Undank ist immer eine Art Schwäche.

Ich habe nie gesehen,

dass tüchtige Menschen undankbar gewesen wären.“

Es sind insgesamt zehn Sprüche oder Weisheiten bis zum letzten Spruch:

„ Gut gekaut, ist halb verdaut.“

Mit solcher akribischen Genauigkeit diese liebenswerten, teilweise altmodischen, doch niemals ungültig gewordenen Sprüche als „Liebe Erinnerungen“ festzuhalten in einem solch wertvollem Album, lässt ein rechtes Licht werfen auf die vornehme Herkunft unserer Familie, denke ich. Auch auf den weiteren Seiten dieser Sammlung findet man nichts Anderes als Zeitungsanzeigen, Sprüche und Kalenderblätter. Nur die Bezeichnungen für den erfindungsreichen Großvater Dollheiser ändern sich von Anzeige zu Anzeige und werden nicht nur in Schriftarten und Aufmachung sondern auch in der Orthografie immer wieder anders geschrieben und gestaltet.

So kann man auf der nächsten Seite staunend lesen:

Wichtig für Bierbrauer u. Restaurateure, welche im Besitze von Bierluftdruckpumpen sind.

Empfehle Universal-Compressions-Anstichhahn ohne Hohlraum, zum Einschlagen..................................................................usw.

Jean Dollheiser, Peterstrasse 21 zu COELLN a/Rh.

Spezialist in Bierluftdruckpumpen mit Wasserdruck oder Kohlensäure,

Köln, Peterstraße 21. Telephon-Anschluß 580.

Vollgeklebt mit Sprüchen und Gedichten, die teilweise nach Wochentagen geordnet sind, offenbart sich mir, dem zutiefst beeindruckten, staunenden Leser, unter anderem: