Schlag doch zu! Autobiografie

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Für uns war es in Braunschweig recht angenehm, weil dort tatsächlich viel seltener Flieger- oder Bombenalarm zu hören war, so dass ich mich ein wenig erholte, weil ich nun häufiger durchschlafen konnte, obwohl ich eigentlich nie richtig gemerkt hatte, dass ich überhaupt erholungsbedürftig war.

Auch Mutti und Ursel genossen die Ruhe, die hier herrschte, wobei ich davon weniger mitbekam, weil ich reichlich damit beschäftig war, an Muttis Rockzipfel zu hängen und ständig Muttis Schoß zu belagern, wann immer das möglich war.

Mutti war auch selten abgeneigt mich mit Liebkosungen zu verwöhnen, so dass ich die Existenz meiner Schwester nur dadurch überhaupt wahrnahm, weil auch diese ihrem kleinen, süßen Brüderchen ständig mit Umarmungen und Küssen ihre Zuneigung demonstrieren wollte. Das war keineswegs mir in jedem Fall angenehm, weil ich ihre stürmischen Liebesbeweise oft als störend und zu heftig empfand.

Bei all dieser familiären Harmonie fiel es schwer, auch für Mutti, Nachrichten mitzubekommen, dass am dritten November 1943 auf Anordnung Himmlers siebzehntausend jüdische Frauen und Männer bestialisch ermordet wurden. Obwohl näher dran, spürten wir in dem Braunschweiger Vorort auch nicht, dass britische Bomben schwerste Zerstörungen in Berlin verursachten.

Ganz sicher aber wusste in unserer Familie niemand, dass am 28, November 1943 in der Konferenz von Teheran ganz Europa aufgeteilt wurde in einer Form nach Beendigung des Weltkrieges. Am 29. November wurde Tito für lange Zeit Regierungs-Chef in Jugoslawien.

Allerdings mussten alle Bürger des deutschen Reiches mitbekommen, dass die deutsche Fußballmannschaft am vierten Dezember in Tokio eine japanische Mannschaft mit 3 : 0 besiegte, was immerhin eine gewisse Normalität demonstrieren sollte.

Genau am 24. Dezember , am heiligen Abend, erhielt Eisenhower den Oberbefehl für die Invasion in Frankreich, die im Jahre 1944 die endgültige Niederlage des Nazi-Regimes einleitete.

Am 30. Dezember 1943 brach die Rote Armee in der Ukraine durch, am 28. Januar war Leningrad nach neunhundert Tagen Belagerung und blutigster Kämpfe frei.

Am gleichen Tag wurde mit dem Film „Feuerzangenbowle“ mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle nachhaltig zur Schau gestellt, dass außer Krieg auch normale, lustige Dinge in Deutschland produziert werden konnten.

Wenn Reichsminister Martin Bormann angesichts des starken Geburtenrückgangs offiziell die Bigamie für die Zeugung außerehelicher Kinder forderte, konnte es schon vorkommen, dass sich auch Mutti ganz energisch entrüstete, auch wenn sie sonst grundsätzlich weder Kommentare zur Politik abgab geschweige denn, sich in irgendeiner Form politisch betätigte oder äußerte.

Das wichtigste Ereignis an meinem dritten Geburtstag, am Mittwoch, dem zweiten Februar 1944, war zweifelsohne mein Versprechen, das ich Mutti, hochheilig beschworen, geben musste. Ich versprach, mit dem festen Willen, dieses Versprechen zu halten, ganz feierlich, dass ich von diesem Tage an nie mehr Windeln benötige und auch nicht mehr in mein Bettchen machen würde. Dagegen verblasste natürlich in unserer Familie ein weiterer Beweis deutscher Kultur in Krisenzeiten, die Erstaufführung in szenischer Form, die die bayrische Staatsoper auf die Bühne brachte, nämlich Carl Orffs „Carmina Burana“

Da ich ein gegebenes Versprechen grundsätzlich hielt und niemals brechen wollte, blieb ich tatsächlich nachts trocken. Nur ganz selten hatte ich geträumt, irgendwo auf einer Toilette zu sitzen oder zu stehen, dann war mein Bettchen leider wieder mal nass geworden, was ich Mutti dann am nächsten Morgen unter heftigen Tränen beichtete. Das brachte mir zwar keine Schelte schon gar keine Strafe ein, aber ich selbst war so fürchterlich unglücklich darüber, dass ich ein Versprechen nicht eingehalten hatte, wenn ich auch eigentlich nichts dazu konnte.

Fast grotesk mochte es anmuten, dass ab dem 20. Februar 1944 Blinker an Autos oder anderen Motorfahrzeugen im Straßenverkehr keine Pflicht mehr waren, weil die deutsche Industrie kriegsbedingt solche Teile nicht mehr herstellen konnte.

Unter dem Begriff „Big Week“ begann am 20. Februar 1944 eine Bomberoffensive der alliierten Luftwaffe, die außer gegen Hamburg, Leipzig und Posen auch gegen Braunschweig gerichtet war, so dass ebenfalls in unserem sicheren Evakuierungsquartier die Nächte nicht mehr so ruhig waren, wie bisher genossen.

So kam es, dass wir allmählich uns mit dem Gedanken vertraut machen mussten, die Stadt Braunschweig wieder zu verlassen, was nach den Osterzeugnissen, die Ursel noch abwarten musste, zum endgültigen Abschied von dieser Stadt führte.

Vati war nicht untätig geblieben während dieser Zeit und hatte bei seiner Mutter sich dafür eingesetzt, dass seine Familie doch vorübergehend bis zum Ende des Krieges bei ihr in ihrem Hause wohnen dürfe. Er hatte auch schon, kaum dass diese Genehmigung erteilt war, zwei Zimmer provisorisch eingerichtet, in die wir dann einziehen mochten.

Das großelterliche Haus in der Bismarckstraße 18 in Bad Godesberg gehörte zu den alten hochherrschaftlichen Großbauten mit besonders hohen Wänden und Decken und ebensolchen Fenstern.

Zum Haus gelangte man durch einen gepflegten Vorgarten, der mit einer niedrigen, leicht rissigen, grauen Mauer und darin eingelassenem schmiedeeisernen schwarz gestrichenen Zaun vom Gehweg abgeteilt war.

Die gediegene naturholzbelassene Eingangstür, erreichte man über eine hellgraue Granittreppe aus fünf Stufen, die zunächst auf einen etwa zwei mal zwei Meter großen Podest führten, dessen Boden ebenso mit hellgrauem Granit belegt war. Podest und Treppe waren überdacht und wetterfest eingerahmt.

Von dieser Treppe aus links hineinkommend wölbte sich hinter der Eingangstüre ein enorm großer, weiträumiger, sehr hoher Flur, dessen Boden mit roten Florentiner Fliesen bedeckt war. Eine riesige Holztreppe führte rechts neben der Eingangstüre in das erste Stockwerk, das uns Kindern zu betreten strengstens verboten war. Denn dort oben wohnte Frau Stephans, eine ältere Dame, die ständig Ruhe haben musste und eben deshalb auf gar keinen Fall von uns Kindern gestört werden durfte.

Unser Reich befand sich links von der Eingangstüre in dem Erkerzimmer, das zur Straße hinausschaute in den Vorgarten. Der Erker des Zimmers buchtete sich als Halbrund aus an der kürzeren der Tür gegenüberliegenden Seite und erhellte den ganzen Raum durch insgesamt vier sehr hohe Fenster, die oben mit einem Rundbogen abschlossen.

Zu meiner großen Freude thronte an der langen Wand links vom Eingang mein über alles geliebtes Büffet, das mir sofort wieder das heimatliche Gefühl der Verbundenheit vermittelte, das ich so lange während der Wohnzeiten in Behelfsquartieren vermisst hatte.

Vati hatte alle Möbel, die man zum täglichen Leben und zur Gemütlichkeit benötigte, in dieses eine Zimmer hineinstellen lassen , so dass links neben der Tür eine kleine Küche mit weiß emailliertem Herd mit einer hellen Stahlkochfläche, einem Küchenschrank aus Kiefernholz und ein Regal Raum bot für die Zubereitung von Speisen und gleichzeitig auch für die Heizung des Raumes, obwohl unter zweien der vier Fenster auch Zentralheizungskörper den Raum zu wärmen versprachen.

Vor dem Büffet lud das alte Plüschsofa zum Liegen oder Sitzen ein, ebenso der geliebte Ohrensessel und zwei weitere kleinere Plüschsessel, die sich wie alle Sitzmöbel um den großen Nussbaumtisch gruppierten.

Obwohl der Raum dadurch schon fast an gemütlicher Überfüllung litt, gab es aber noch Platz für die Einrichtung eines Kinderzimmers, bestehend aus dem kleinen Kinderstuhl-Tisch, der für Ursel zu klein geworden nun ausschließlich zu meiner Verfügung stand, und einem Stuhl mit einem weiteren kleinen Tisch, an dem Ursel ihre Schularbeiten erledigen konnte. Unter dem Kinderstuhl-Tisch durfte ich meine Spielsachen aufbewahren, die eigentlich fast nur aus zwei abgelegten Puppen meiner Schwester bestanden, aus fünf kleinen Puppenstuben, einigen kleinen Holzfiguren, die wohl früher einmal zu einer Weihnachtskrippe gehört hatten, sowie einer Hexe und den Märchenfiguren Hänsel und Gretel.

Die drei letzteren waren etwa fingerlang, die Hexe etwas größer als die beiden anderen aus hartem Material gefertigten Püppchen. Die Hexe stützte sich auf einen Stock und trug ein Kopftuch mit extrem kleinem blau-weißem Karomuster.

Ursels Spielzeug, Puppenwagen und einige Puppen lagerten im Nebenraum, in dem auch das Schlafzimmer untergebracht war. Es war noch mehr mit Möbeln vollgestopft, die nicht in den Keller konnten und auch keinen Platz mehr in unserem Wohnraum hatten.

Alle Räume waren etwa drei Meter hoch, so dass trotz der Enge im Winter ein enormer Heizbedarf notwendig wurde.

Die beiden uns zur Verfügung stehenden Zimmer lagen nebeneinander, hatten aber keine Verbindungstüre, so dass man nur über den Flur von einem ins andere Zimmer gelangen konnte.

Der Flur strahlte mit seinen fast zwei Meter hoch gefliesten grünen Wänden eine gewisse Würde aus, die man zum Beispiel sonst nur in einer Kathedrale empfindet, so dass wir in diesem Flur uns recht leise verhielten, auch wenn nicht wegen der alten Dame von oben sowieso ein Ruhegebot ausgesprochen worden wäre. Die grünen Fliesen an den Wänden rings herum glänzten immer, auch dann, wenn kaum Licht zu sehen war. Oben hatten diese Fliesen eine Verzierung wie eine Bordüre.

Auf der linken Seite unterbrach eine große, weiß lackierte Doppelschiebetüre die vornehme Kachelung. In den Schiebetüren sorgten zwei messingfarbene Metalleinlassungen dafür, dass man die Türen aufziehen oder auch zuziehen konnte, eine der beiden Mulden war mit einem Schloss versehen, für das nur Oma einen Schlüssel hatte, denn nur sie wollte die Kontrolle darüber behalten, wer den Doppelraum hinter dieser Tür zu betreten die Erlaubnis bekam.

Wenn wir Kinder wirklich einmal in diese „heiligen Hallen“ eindringen durften, dann ausschließlich zu dem Zweck, die Glastür rechts an der kurzen Wand zu durchqueren, um auf die steile Eisentreppe zu gelangen, die in den Garten führte. Das Zimmer beeindruckte mit einem sehr großen Doppelbett, einem riesigen Kleiderschrank, Waschkommode, zwei Nachtkonsolen aus besonders dunklem, glänzenden Nussbaumholz. Die Betten waren abgedeckt mit einer Brokatdecke, am oberen Ende mit einem weißen Spitzendeckchen verziert.

 

Eine Schiebetür verwehrte uns regelmäßig den Blick nach links in den zweiten Raum des Doppelzimmers.

Das eigentliche Leben von Oma und Tante Erna fand fast ausschließlich in der großen Küche statt, deren Fußboden mit einem schwarz-weißen Schachbrettmuster gekachelt war, die Wände weiß gefliest. Von den Wänden selbst blickte nur wenig in den Raum durch, da ringsherum Küchenschränke aus Kiefernholz den Raum beherrschten. Gleich rechts neben der Tür stand ein gusseiserner Herd, neben dem in einem Korbsessel fast immer Oma saß.

Auf der rechten Wand in der Ecke vor der Fensterseite gab es ein weißes viereckiges Porzellanwaschbecken. Die Mitte des Zimmers nahm ein Kiefernküchentisch ein, um den insgesamt sechs Kiefernstühle zum Sitzen einluden.

Obwohl mir gestattet war, Oma in dieser Küche ständig zu besuchen, machte ich von meinem Besuchsrecht sehr wenig Gebrauch, weil mir die kalte Atmosphäre dieses Zimmers nicht behagte.

Oma selbst war für einen kleinen Jungen auch nicht allzu unterhaltsam, sie wirkte schon immer ausgesprochen alt und gebrechlich. Sie hatte lange weiße Haare, die ihr bis zum Po reichten. Allerdings trug sie das Haar grundsätzlich geflochten zu einem Dutt gesteckt, so dass sie typisch so aussah wie die Omas in den bebilderten Kinder- oder Märchenbüchern. Sie war außerordentlich faltig und wackelte ständig mit dem Kopf hin und her, immer von links nach rechts, von links nach rechts.

Sooft ich Mutti fragte, warum denn Oma immer mit dem Kopf wackelte, erhielt ich zur Antwort, dass das eine Alterserscheinung wäre, für die Oma nichts könne.

Diese Antwort stellte meinen Wissensdurst nie zufrieden, weshalb ich immer wieder mal nachfragte, weil Mutti ja häufig ihre unvollkommenen Antworten damit begründete, dass ich noch zu klein wäre, um das genau zu verstehen. Vielleicht war ich gerade zum Zeitpunkt der erneuten Frage dann nicht mehr zu klein dazu.

Oma war auch nicht eine ausgesprochene Schmuse-Oma, zu der ich gerne ging, um wie bei Muti auf dem Schoß zu sitzen. Mutti sagte auch von ihr immer, sie wäre besonders herb.

Natürlich kam es vor, dass auch Oma mir etwas aus einem Märchenbuch vorlas, aber ich musste dann artig vor ihr auf einem Stuhl sitzen oder vor ihr auf dem Boden, wenn mir das lieber war. Beides fand ich recht ungemütlich, weil ich es doch gewohnt war, beim Vorlesen auf dem weichen Sofa zu sitzen, im Bettchen zu liegen oder im weichen Sessel.

Das Sitzen auf dem Fußboden war besonders unangenehm, weil dieser nicht nur ausgesprochen hart war, sondern auch entsetzlich kalt. Deshalb beschränkte ich Vorleseminuten bei Oma auch gerne auf ein Mindestmaß. Überhaupt war bei Oma eine ganze Menge verboten für kleine Kinder. So durfte ich niemals allein in ihren Garten, obwohl ich gerade den besonders schön fand.

Der Garten konnte erreicht werden über die eiserne Treppe durch den Raum, den wir nicht betreten durften oder durch eine schmiedeeiserne Tür, die rechts neben dem Eingangsbereich den Zugang zum Garen ständig dadurch verwehrte, weil sie immer abgeschlossen blieb. Nur Oma hatte auch dafür den Schlüssel in einem Geheimfach in ihrem großen geheimen Zimmer in Verwahrung.

Das Tor öffnete sich nur, wenn Oma oder Tante Erna die Rasenflächen hinter dem Haus gemäht hatten und das geschnittene Gras hinausbringen mussten oder gejätetes Unkraut oder abgeschnittene Äste von den Apfel- oder Birnbäumen, die im Garten für reiche Ernte sorgten.

Fein geschwungene mit weißen Kieselsteinen bedeckte Wege führten in Kurven rund um die sauber angelegten Beete. Zwei der großen Beetflächen enthielten Gras und wurden grundsätzlich als Bleichen bezeichnet. In ihren Mitten standen je zwei Birnbäume bzw. Apfelbäume. Links im Garten blühten im Frühling Erdbeerpflanzen, die im Sommer reichlich süße Früchte trugen.

Das Beet schloss sich unmittelbar an die linke Begrenzungsmauer an, die den Blick auf den Nachbargarten verwehrte. Vom Weg abgeteilt war dieses Beet mit hochkant gestellten Bruchsteinen, die verhinderten, dass eventuell Kieselsteine ins Beet geweht wurden oder Erdbeeren auf den Kies fielen.

Die beiden Bleichen waren oval und durften auf keinen Fall betreten werden, geschweige denn zum Spielen benutzt. Nur die Erwachsenen durften darauf und auch nur zum Ernten von Früchten, zum Mähen oder zum Auslegen der Wäsche.

Deshalb gab es vom Haus aus auch noch einen dritten Zugang in den Garten, nämlich von der Waschküche aus, deren Tür unmittelbar in den Garten hineinführte.

Wann jedoch große Wäsche gewaschen wurde, wurde in einem Plan genau festgelegt. Dann hatte natürlich auch Mutti freien Zugang zum Garten, und auch wir Kinder durften in ihrer Begleitung hinein. Aber wir mussten streng auf den Wegen bleiben, durften auch nichts abpflücken und fast nichts anfassen.

Die beiden Hauptwege rechts und links neben den Bleichen führten außen auf der rechten Seite an einem mit Johannis- und Stachelbeeren bepflanzten Beet vorbei zum Eingang bzw. Ausgang zum Vorgarten. Kurz vor dem Tor gab es einen üppigen Fliederbusch. Auch hinter diesem Beet versperrte eine Mauer den Blick zum Nachbargarten.

Zwischen den beiden Hauptwegen gab es noch einen geraden Verbindungsweg, der die Wiesen in zwei Bleichen aufteilte.

Beide Hauptwege aber endeten in einer kreisförmigen Kurve vor einem achteckigen Pavillon, in dem ringsherum auf Bänken für mindestens zwölf Personen Platz war. Dieser Pavillon sah mit seiner weiß gestrichenen Fassade und dem dunklen Dach anheimelnd und gemütlich aus, war aber auch für uns grundsätzlich tabu. Nur Mutti hätte ausnahmsweise dort feiern dürfen, wenn es denn in dieser Zeit großer Not etwas zu feiern gegeben hätte.

So durfte ich diesen besonders schönen Garten nur aus der Ferne lieben oder seine Wirkung genießen, wenn garantiert jemand zur Aufsicht dabei war, und somit sicher gestellt war, dass ich nicht absichtlich oder versehentlich irgend eine Pflanze berührte, die zu berühren mir absolut verboten war.

Mir war nie in den Sinn gekommen, über solche Verbote nachzudenken oder mich dagegen aufzulehnen, denn es genügte mir vollauf, dass ich von Mutti geliebt und akzeptiert wurde. Zwar hätte ich wirklich gerne häufiger in diesem Garten gespielt oder mich auch nur so ganz still dort aufgehalten, aber wenn es nicht erlaubt oder möglich war, legte ich keinerlei Ehrgeiz an den Tag, in diesem Fall meinen Willen zu bekommen.

In Bad Godesberg

Mutti hatte eine Gewohnheit, von der sie auch in Krisenzeiten niemals abwich, wenn es irgendwie möglich war, sie musste sich mittags für etwa ein bis zwei Stunden hinlegen, um ihr Mittagsschläfchen zu halten. Damit ich auf gar keinen Fall auf die Idee kam, sie möglicherweise dabei zu stören, wurde ich ebenfalls regelmäßig in mein eigenes Bettchen gelegt.

In Bad Godesberg nahm diese Angewohnheit für mich ein jähes Ende. Ich konnte einfach mittags nicht mehr schlafen, konnte auch nicht ein oder zwei Stunden lang ganz ruhig im Bett liegen bleiben, so dass ich immer häufiger Mutti durch meine Unruhe in ihrem Schlaf störte. Eines Tages meinte Mutti deshalb zu mir: „Bübchen, ich glaube, du magst gar nicht mehr schlafen mittags. Möchtest du lieber draußen ein wenig spielen, wenn Mutti schläft? Du musst dann aber ganz lieb und still sein, denn sieh mal, Mutti ist so krank und schwach, dass sie den Schlaf unbedingt braucht. Willst du mir das versprechen?“

„Ja, Mutti, ich kann ja draußen mit den Puppen spielen oder vor der Tür oder mit den Blumen im Vorgarten“, versprach ich sofort, denn ich war das mittägliche Liegen wirklich leid.

Schon am nächsten Tag um Punkt 12.30 Uhr befand ich mich also im Vorgarten unseres Hauses und betrachtete die Hortensien, die gerade die ersten Knospen ansetzten, die Gänseblümchen, die in der Wiese noch ihren Winterschlaf hielten, den Fliederbaum im schmalen Beet am eisernen Zaun, das leicht rostige schmiedeeiserne Eingangstörchen. Ein Blick fiel auch nach draußen über den Zaun auf die Straße. Aber zunächst war mir sehr wichtig, ausschließlich im Garten zu bleiben, wie Mutti das verlangt hatte.

Da ich weder eine Uhr besaß noch ein reales Zeitgefühl entwickelt hatte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen, wie lange ich bereits Blumen, andere Pflanzen und den Aufbau des Gartens betrachtet hatte. Eigentlich hätte ich gerne wieder mit dem Spielen im Garten aufgehört, aber ich hatte Mutti versprochen, erst wieder hinein zu kommen, wenn sie mich rief oder die Haustür öffnete. Ich langweilte mich entsetzlich. Darum wanderte ich zwischen den beiden Gartentoren hin und her, dem zur Straße hinausführenden schmiedeeisernen und dem in den Hausgarten hineinführenden eisernen mit dem Drahtgitter.

Viel Abwechslung brachte diese Wanderung allerdings nicht. So setzte ich mich auf die Treppenstufen, die ins Haus hineinführten, bekam aber einen kalten Po, was mir auch nicht gefiel.

Daher stellte ich mich vor die Treppe, nahm meinen rechten Daumen in den Mund und wärmte die Finger der anderen Hand an meinen Hoden. In dieser Haltung versank ich in Träumereien, die mir eine besonders schöne Märchenwelt vorgaukelten:

„Ich saß in einem außergewöhnlich schönen Garten mit tausend bunten Blumen, eine schöner als die andere. In der Mitte auf dem grünen Rasen gab es einen hübschen, runden, mit Gold verzierten Brunnen, aus dem ein grüner Frosch heraus schaute, wie im Märchen. Wie der Froschkönig hatte auch dieser eine Krone auf, aber es gab keine Prinzessin, die ihn küssen musste. Aber der Frosch konnte mir alle meine Wünsche erfüllen. Ich wünschte mir zuerst, dass es wunderbar warm wäre, dass eine ganz besonders hübsche Fee oder ein Engel mich in den Arm nähme und mich ganz lieb halten würde. Natürlich gab es dann für mich eine Menge Tiere, die ich nach Herzenslust streicheln und in den Arm nehmen durfte, alles immer gerade so, wie ich es mir vom Froschkönig wünschte, kleine Lämmer, Eichhörnchen, junge Dackel, junge Bernhardiner, bunte kleine Vögel, gurrende Tauben, kleine Zicklein, alles Tiere, die ich schon einmal irgendwo gesehen hatte.“

Aus diesen Träumereien weckte mich Muttis Stimme: „Na, Bübchen, das war aber lieb von dir, dass du so angenehm still gewesen bist. Hast du denn schön gespielt?“

In Erinnerung an meine Traumwelt sagte ich natürlich ja.

Doch nicht immer gelang es mir, in diese Traumwelt zu versinken. So bat ich dann später einmal darum, in dem Beet neben dem Flieder, mir ein eigenes kleines Gärtchen anlegen zu dürfen. Das zäunte ich liebevoll ein mit kleinen Stöcken, die ich dicht nebeneinander in den Boden steckte und wie ein Korbflechter mit anderem dünnen Reisig oder Stroh verband. In die Mitte dieses Minigärtchens von ca. dreißig mal dreißig Zentimetern setzte ich Gänseblümchen, die von Oma ausgestochen worden waren. Manchmal steckte ich auch einfach eine Blüte oder einen grünen Zweig in die Erde, in der Hoffnung, dass diese weiter wachsen würden. Natürlich pflegte ich mein Gärtchen und hielt es sauber von Laub und vor allen von Ameisen, Schnecken, Spinnen oder anderen kleinem Ungeziefer, das ich dort nicht haben wollte.

Gartenarbeit auf solch kleinem Feld befreite nicht sehr lange von gähnender Langeweile, so dass ich Mutti bat, doch auch hin und wieder vor die Tür gehen zu dürfen. Sie gestattete das, nachdem ich ihr hochheilig versprochen hatte, auf gar keinen Fall auf die Straße zu laufen, sondern immer brav auf dem Trottoir, wie sie den Bürgersteig, eingedenk ihrer bürgerlichen Bildung mit dem altmodischen Hang zum Französischen, grundsätzlich nannte, zu bleiben und auch nur bis zum nächsten Haus zu laufen.

So erkundete ich, vor unserem Vorgarten stehend, die Bismarckstraße, soweit ich sie einsehen konnte. Unserem Gartentürchen gegenüber befand sich eine Hofeinfahrt, die zu einem stattlichen, großen, dreistöckigen Haus gehörte, das ebenfalls von einem Vorgarten umgeben war. Anders als bei uns war dieser Vorgarten mit einer niedrigen, oben abgerundeten Mauer, die ursprünglich einmal weiß gewesen war, eingefasst, darauf ein ziemlich hoher Eisenzaun, mit Ornamenten verziert. Der Hauseingang lag von meinem Blickwinkel aus an der linken Hauswand; wie bei uns führte ebenfalls eine kurze Treppe hoch mit insgesamt drei Stufen.

Ein hölzernes, zweiflügeliges Tor vor der Hofeinfahrt war ständig geschlossen. An der Vorderfront des Hauses rankte wilder Wein empor. Die Fenster lagen zu hoch, als dass man in das Haus hätte hineinblicken können. Außerdem wirkten alle Fenster sehr dunkel und waren durch Gardinen dem Einblick entzogen. Hin und wieder hatte ich allerdings das Gefühl, dass sich eine Gardine in der ersten Etage leicht bewegte und jemand hinausschaute.

 

Die große Toreinfahrt führte mit einem breiten Weg in einen riesigen Garten, dessen hintere Abgrenzung ich gerade noch als graue Mauer erkennen konnte.

Das Haus war für mich sehr lange uninteressant, bis ich eines Tages einen dunkelhaarigen Knaben, ungefähr in meinem Alter, erblickte, der im Vorgarten spielte. Neugierig schaute er hinüber zu mir, nahm aber sonst keinerlei Kontakt mit mir auf. Auch ich machte keine Anstalten, mit ihm in ein Gespräch zu kommen, da ich ja sonst die Straße hätte überqueren müssen, was ich nicht durfte. Auch lautes Rufen oder Schreien war mir durch meinen außerordentlich stark ausgeprägten Hang zum Gehorsam nicht möglich, denn lautes Rufen hätte ja Mutti im gesundheitlich notwendigen Mittagsschläfchen gestört.

Der Spuk verschwand auch schnell wieder, denn der Junge von gegenüber wurde wieder hineingeholt von einer elegant gekleideten Dame, die stark geschminkt war und ein dunkelblaues Kleid trug mit einem weißen Großkragen, der einen Teil des Busens freigab. Sie trug große runde Ohrgehänge und eine Perlenkette um den Hals. Jedenfalls soviel Schmuck, wie ich bei Mutti noch nie gesehen hatte.

Selbstverständlich war meine Neugier geweckt, und ich fragte Mutti sofort, was das denn dort für Leute wären und ob ich mit dem Jungen spielen dürfe.

„Hast du die Leute gesehen?“ versuchte Mutti es mit einer Erklärung auf meine drängenden Fragen. „Wie sahen die denn aus?“

Ich beschrieb kurz, was ich behalten hatte.

„Nun, ich habe sie noch nie gesehen, weißt du, Bübchen. Wie soll ich dir das nur erklären? Das sind Parteibonzen.“

„Was ist das denn, Muti?“, drängte ich, denn ich wollte es jetzt ausnahmsweise einmal genau wissen, auch wenn Mutti es nicht so richtig erklären konnte, wie sie meinte.

„Ja, weißt du, das sind Nazis, also Leute, die ein hohes Amt in der Partei haben. Solche Leute sind mit Vorsicht zu genießen. Sie sind auch sehr reich“, begann Mutti stockend ihre Erklärungen.

So fragte ich: „Was ist denn Schlimmes an Parteibonzen? Wie meinst du das mit der Vorsicht? Sind sie denn so reich, weil sie gute Menschen sind? Was tut ein Parteibonze? Was ist denn ein Nazi? Ist der Junge dann gefährlich? Wenn sie so reich sind, warum geben sie dann armen Menschen nichts ab? Sind wir eigentlich arm?“

Mutti konnte meine vielen Fragen gar nicht so schnell beantworten, die nun auf sie einstürzten. Deshalb gebot sie mir, mit der Fragerei zuerst einmal aufzuhören, damit sie mir wenigstens einige Fragen beantworten könne:

„Hör mal, Bübchen, arm sind wir natürlich nicht. Das siehst du doch auch an unseren Möbeln und unserem Geschirr und Besteck. Aber durch den bösen Krieg haben wir eine Menge Geld und wertvolle Sachen verloren, und es ist auch sehr teuer, dass Vati und wir nicht zusammen wohnen können. Deshalb haben wir auch im Augenblick nicht ganz so viel Geld, aber man kann ja sowieso nicht alles bekommen jetzt im Krieg. Aber diese Leute dort drüben sind neureich.“

Nun wollte ich wissen: „Was bedeutet das denn, Mutti, wissen sie viel neues?“

Mutti lachte: „Aber nein. Neureich sind Leute, die eigentlich sehr ungebildet sind und plötzlich auf einmal viel Geld bekommen. Manchmal weiß man gar nicht, wo sie es her haben. Vor allen Dingen geben sie immer ganz fürchterlich mit ihrem neuen Reichtum an, und du weißt ja, dass man nicht angeben darf.“

Irgendwie erwartete ich noch weitere Erklärungen, denn der Abscheu, mit dem Mutti von diesen Leuten gesprochen hatte, war mit dieser Erläuterung keineswegs erklärt.

Mutti sprach dann auch weiter: „Weißt du, Bübchen, als Parteibonzen haben die Leute die Möglichkeit, anderen Geld wegzunehmen, was ihnen eigentlich nicht gehört.“

Das provozierte natürlich meinerseits wieder eine Frage: „Wieso denn eigentlich? Haben sie das Geld gestohlen?“

„Nein“, erzählte Mutti, „ sie haben es nicht direkt gestohlen, sondern von Leuten genommen, die es nicht haben sollten, oder von Leuten, die tot waren oder einfach auch von der Partei bekommen.“

„Wenn sie es von der Partei bekommen haben, ist das doch nicht schlimm. Dann hätte doch auch Vati nur ein Parteibonze werden können und wir wären auch reich, aber nicht neureich, weil wir ja nicht angeben und auch eigentlich sowieso nicht arm sind, wie du immer sagst“, konterte ich, denn ich fand den Jungen ganz nett und wollte die Familie in Schutz nehmen.

Nun wurde Mutti wieder verlegen: „ Vati wollte nicht in die Partei. Er hatte auch so seine eigenen Ansichten, und das ist auch gut. Denn man weiß gar nicht so genau, ob alles gut war, was die Partei machte. Aber die Leute von gegenüber sind trotzdem keine guten Menschen. Ich habe gehört, dass sie von den Nachbarn, die früher dort gewohnt hatten, einfach alles Wertvolle behalten haben, nur weil diese Juden waren, und das ist fast so schlimm wie Diebstahl. Nun weißt du, warum Mutti nicht möchte, dass wir engeren Kontakt mit diesen Leuten haben.“

So ganz zufrieden war ich mit diesen Erklärungen noch nicht, zu vieles war mir noch unklar geblieben:

„ Wieso konnten sie denn den Menschen etwas wegnehmen? Waren sie stärker? Haben sie die gehauen? Was sind Juden?“

Mutti wurde merklich verlegen, wollte mir aber geduldig Auskunft geben. Denn sie merkte schon, dass es mir Ernst war mit der Fragerei. Inzwischen war ich auf ihren Schoß gekrochen und kuschelte mich an sie, wie ich es gewohnt war, wenn sie mir etwas aus dem Struwwelpeter oder einem Märchenbuch vorlas oder erzählte:

„Also zunächst etwas zu den Juden, Bübchen, das sind Menschen, die einen anderen Glauben haben als wir und auch einer anderen Menschenrasse angehören. Jedenfalls wird das so gelehrt in der Vererbungslehre. Sie unterscheiden sich also von uns Deutschen manchmal durch ihr Aussehen und dadurch, dass sie keine Christen sind.

Sie sind auf der ganzen Welt verstreut und leben fast überall. Warum das so ist, kann man in der Bibel nachlesen. Weil sie oft nichts anderes können als Handel treiben, sind sehr viele Händler und Geldverleiher geworden. Geldverleiher sind aber keine guten Menschen, denn sie nehmen viel mehr Geld zurück als sie verliehen haben“, begann Mutti im Ton einer Märchenerzählerin ihre ausführlichen Erklärungen.

Ich hörte ihr gerne zu, wenn ich vielleicht auch nicht alles genau verstanden hatte. Aber ich wollte Mutti auch nicht andauernd unterbrechen. Nur interessierte es mich natürlich, warum Menschen sich Geld leihen mussten und dann noch mehr zurückgäben als sie bekommen hätten. Mutti erklärte mir auch das.

Verstanden hatte ich nun, dass viele Menschen nicht genug Geld hatten, um sich alles das zu kaufen, was sie dringend brauchten, und dass Geldverleiher für das Verleihen von Geld etwas bezahlt bekämen, was man Zinsen nennt. Und Juden würden eben oft viel zu viel oder zu hohe Zinsen nehmen.

Mutti sprach also weiter: „Juden haben also manchmal Geld in großen Mengen, weil sie anderen Menschen viel zu viel Geld für ihr Geliehenes abgenommen haben. Davon sind einige sehr reich geworden, und das war eben nicht recht und besonders nicht menschenfreundlich und christlich. Deshalb waren sie auch hier in Deutschland zuletzt ganz unbeliebt und wurden des Landes verwiesen.

Natürlich waren nicht alle Juden schlecht, aber man machte da keine Unterschiede, weil sie ja alle keine Christen waren.