Wirtschaftsgeographie

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1.3Aufbau des Buchs

Um politische Blaupausen zu vermeiden und angemessene Strategien zur Entwicklung und Entwicklungsförderung entwerfen zu können, bedarf es eines grundsätzlichen Verständnisses der Kontextualität und der Interdependenzen empirischer Entwicklungszusammenhänge. Dieses Buch plädiert deshalb für eine relationale Perspektive auf die konkreten geographischen Ausprägungen der Wirtschaft, die der Kontextualität von Strukturen und der Evolution spezifischer Entwicklungen Rechnung tragen. Die Grundlagen einer derartigen relationalen Perspektive sowie die Grundbegriffe der ökonomischen und geographischen Analyse werden in Teil 1 des Buchs entwickelt und vorgestellt. Kapitel 2 entwirft die Rahmenkonzeption für eine relationale Wirtschaftsgeographie. Das Argument der zweiten Transition plädiert dafür, Interaktion, Organisation, Evolution und Innovation als zentrale Konzepte der wirtschaftsgeographischen Analyse zu verstehen, um soziale und ökonomische Prozesse aus einer spezifisch räumlichen Perspektive zu analysieren und zu interpretieren. Darauf aufbauend erläutert Kapitel 3 wichtige ökonomische Grundbegriffe, die sich auf wirtschaftliche Bedürfnisse, Güter und die Rolle von Produktionsfaktoren bei der Bedürfnisbefriedigung beziehen. Kapitel 4 stellt geographische Konzepte vor, darunter verschiedene positionale und relationale Raumkonzepte. Außerdem werden grundlegende Herausforderungen wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse aus räumlicher Perspektive formuliert.

Teil 2 des Buchs diskutiert wichtige klassische Konzepte der raumwirtschaftlichen Analyse und arbeitet die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit für heutige Problemstellungen heraus. Ziel der kritischen Würdigung ist es, Anhaltspunkte für Reinterpretationen, Weiterentwicklungen und Neupositionierungen zu entwickeln. Dies dient dazu, im dritten Teil des Buchs veränderte Perspektiven in einer relationalen Wirtschaftsgeographie zu formulieren.

Kapitel 5 befasst sich mit der ungleichen räumlichen Verteilung wirtschaftlicher Aktivitäten. Im Mittelpunkt steht die auf v. Thünen basierende landwirtschaftliche Landnutzungslehre und ihre Übertragung auf den städtischen Bodenmarkt durch Alonso. Anschließend wird die Theorie zentraler Orte nach Christaller als Standortstrukturtheorie für Versorgungseinrichtungen des tertiären Sektors behandelt. Den Ansätzen wird basierend auf einer umfassenden Kritik eine verringerte Bedeutung bei der Erklärung gegenwärtiger räumlicher Wirtschaftsstrukturen beigemessen. Unter Bezugnahme auf Städtenetze, Städteverbünde und die Initiative der Nationalen Stadtentwicklungspolitik wird gezeigt, dass in Raumordnung und Regionalpolitik inzwischen neue Ansätze entwickelt werden, um auf Veränderungen der globalen Rahmenbedingungen, wie z. B. Finanzkrise und Klimawandel, zu reagieren. Kapitel 6 beschäftigt sich mit der auf Weber zurückgehenden industriellen Standortlehre und ihren Erweiterungen durch Hoover, Hotelling, Smith und Pred. Es wird gezeigt, dass mit der Fokussierung auf Standortfaktoren in diesen Ansätzen Räume gleichsam als Akteure stilisiert werden. Industrielle Standortentscheidungen werden aus vorhandenen Raumeigenschaften abgeleitet. Die den Gründungs-, Standort- und Investitionsentscheidungen zugrunde liegenden wirtschaftlichen und sozialen Prozesse bleiben dabei zu wenig berücksichtigt. Auch der Versuch, harte, quantifizierbare Standortfaktoren um weiche, immaterielle Faktoren zu erweitern, ist nicht ausreichend, weil hierbei etwas Unmögliches angestrebt wird, nämlich komplexe Kommunikations- und Interaktionsprozesse als simple Strukturfaktoren abzubilden.

Die nachfolgenden Teile 3 bis 6 diskutieren die Komponenten einer Rahmenkonzeption der relationalen Wirtschaftsgeographie. Jeder Teil wid­met sich einer der vier grundlegenden Analysedimensionen wirtschaftsgeographischer Forschung:

Teil 3 beginnt mit der Dimension Interaktion und Institution. Hierbei leistet Kapitel 7 die Aufgabe einer sozialtheoretischen Reformulierung zentraler Annahmen des Menschenbildes für die wirtschaftsgeographische Forschung. Das Kapitel diskutiert Motive wirtschaftlichen Handelns, um im Anschluss grundlegende Konzepte ökonomischer Interaktion wie Kooperation und Wettbewerb zu entwickeln. Hierbei werden Ansätze des sozialen Kapitals und anderer in­stitutioneller Einflüsse thematisiert, die aus geographischer Perspektive den wirtschaftlichen Austausch prägen. Mit Storpers Konzeption der ­sogenannten untraded interdependencies (nicht-­handelbarer Interdependenzen) in wirt­schaft­lichen Abläufen wird darüber hinaus die Einbindung von Konventionen und Beziehungen in die Analyse regionalökonomischer Prozesse vollzogen. Darauf aufbauend widmet sich Kapitel 8 der Bedeutung von sozialen Institutionen für die Strukturierung wirtschaftlicher Interaktionen. Im Unterschied zu dem abstrakten Marktbegriff der Neoklassik führt das Kapitel eine institutionentheoretisch begründete Marktkonzeption ein, die es erfordert, von vielfältigen spezifischen empirischen Märkten anstelle von einem einzigen abstrakten Markt zu sprechen.

Teil 4 stellt Konzeptionen der Organisation technischer, betrieblicher und geographischer Arbeitsteilung in den Mittelpunkt der Analyse. Kapitel 9 erarbeitet organisationstheoretische Ansätze aus der neuen Institutionenökonomie und der neuen Wirtschaftssoziologie, um Koordinationsfragen von wirtschaftlichen Beziehungen in und zwischen Unternehmen aus räumlicher Perspektive zu untersuchen. Nach Williamson werden verschiedene institutionelle Formen von Transaktionen zwischen Produktionsstufen untersucht, wobei zwischen Märkten, Hierarchien und Netzwerken unterschieden wird. Scott folgend wird gezeigt, dass durch die Nutzung von Nähevorteilen Transaktionskosten gesenkt werden und regionale Ballungen somit zu einer Stabilisierung von Netzwerkbeziehungen beitragen. Die auf Transaktionskosten zentrierte Sicht wird durch das embeddedness-Argument von Granovetter aus der neuen Wirtschaftssoziologie entscheidend erweitert. Demnach ist ökonomisches Verhalten in sozioinstitutionelle Beziehungen eingebettet und untrennbar mit diesen verbunden. Eine Erweiterung liegt in der Einbeziehung temporärer Organisationsformen, insbesondere von Projekten, die aufgrund der zeitlichen Befristung und räumlichen Arbeitsteilung spezielle Ansprüche an die Koordination der Zusammenarbeit stellen. Kapitel 10 konkretisiert die organisationstheoretische Behandlung von Koordinationsproblemen auf regionaler Ebene und erörtert Ansätze zur Erklärung geographischer Cluster. Mit Industriedistrikten und innovativen bzw. kreativen Milieus werden zudem zwei Konzepte lokalisierter Produktionssysteme dargestellt, in denen die Einbindung regionaler Produktionsnetze in sozioinstitutionelle Zusammenhänge zum Ausdruck kommt. Dabei zeigt sich, dass beide Ansätze eine größere konzeptionelle Nähe aufweisen, als man zunächst annehmen würde. Das Kapitel stellt mit Porters Analyse der Bestimmungsfaktoren nationaler Wettbewerbsvorteile einen Ansatz vor, der Wettbewerbsvorteile aus Spezialisierungsprozessen auf nationaler Ebene ableitet und neue Wege in Richtung einer evolutionären Perspektive wirtschaftlicher Entwicklung aufzeigt. Kapitel 11 erweitert die räumliche Perspektive von lokalen Produktionssystemen hin zu Prozessen der Internationalisierung und zu globalen Formen der Unternehmensorganisation. Hierbei wird der wechselseitige Zusammenhang zwischen Standortstruktur, Organisationsstruktur und Unternehmensstrategien herausgestellt und das Verhältnis von Staaten zu Großunternehmen unter dem Aspekt von Machtprozessen diskutiert.

Teil 5 befasst sich mit der Dimension der Evolution. Zunächst rekapituliert Kapitel 12 klassische regionale Entwicklungstheorien und diskutiert die Aussagen und Ansprüche unterschied­licher, zum Teil einander entgegengesetzter Model­le. Während die neoklassische Wachstumstheorie interregionale Ausgleichstendenzen zur Herstellung eines stabilen Gleichgewichts postuliert, propagieren die empirisch geleiteten polarisationstheoretischen Ansätze eine dauerhafte Kumulation räumlicher Ungleichgewichte. Mit dem Ansatz der von Krugman entwickelten geographical economics wird ferner ein Erklärungsansatz beleuchtet, der die Entstehung regionaler Industrieballungen und kleinräumiger Industriespezialisierungen modelliert und unter bestimmten Bedingungen dauerhafte räumliche Disparitäten erklärt. In der sogenannten geographischen Ökonomik (geographical economics) werden regionalökonomische Entwicklungen als historische, pfadabhängige Prozesse modelliert, gleichzeitig aber wird die Einbindung institutioneller Kontexte vernachlässigt. Kapitel 13 führt das Konzept evolutionärer Dynamik ein und stellt organisationsökologische Ansätze der Entwicklung von Unternehmen und Industrien vor. Im Kontext der Unternehmensentwicklung werden Unternehmensgründungen auf die sozioökonomischen Kontexte der Gründer zurückgeführt. Dies führt dazu, dass Gründungsideen dort realisiert werden, wo die Gründer arbeiten und leben. Eine echte regionale Standortentscheidung findet dabei oftmals nicht statt. Durch Rückgriff auf das Modell industrieller Entwicklungspfade von Storper und Walker und andere Konzepte evolutionärer Entwicklung wird gezeigt, wie bei der Entwicklung neuer Industrien regionale Clusterprozesse entstehen. Dies wird an den Beispielen der Entwicklung von Hightechindustrien verdeutlicht. Schließlich werden neuere Ansätze einer evolutionsökonomischen Wirtschaftsgeographie diskutiert.

Teil 6 befasst sich mit der Dimension der Innovation. Kapitel 14 verknüpft die evolutionäre Perspektive mit Konzepten kollektiven Lernens. Im Unterschied zu traditionellen Ansätzen, die von gegebenen Technologien ausgehen, konzentrieren sich die Ausführungen auf den Prozess der Wissens- und Technologiegenerierung. Hierbei wird die Entstehung neuen Wissens und neuer Technologien dem evolutionsökonomischen Ansatz von Dosi folgend als kumulativer, pfadabhängiger Prozess angesehen, der auf Lernprozessen und Erfahrungswissen basiert. Innovationen sind in dieser Konzeption eine Konsequenz des Voranschreitens bestimmter technologischer Entwicklungspfade. Dabei spielen Interaktionen zwischen den beteiligten Akteuren, reflexive Verhaltensweisen sowie vielfältige Feedback-Schleifen eine zentrale Rolle. Aus diesem Grund wird der von Lundvall beschriebene Prozess des learning by interacting hervorgehoben und es wird betont, dass Innovationsprozesse in regionalen Zusammenhängen besonders effizient organisiert werden können, wenn dabei nicht-kodifiziertes, sich schnell veränderndes Wissen bedeutsam ist, das nicht beliebig an andere Akteure und Orte transferiert werden kann. Zudem werden Aspekte des Lernens durch Beobachtung (ohne direkte Interaktion) thematisiert. Kapitel 15 bindet den technologischen Wandel unter Bezugnahme auf die Theorie der langen Wellen nach Schumpeter in eine gesamtwirtschaftliche Sicht der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung ein. Da diese Konzeption problematische technologische Determinismen enthält, werden mit der neoschumpeterianischen Variante des Paradigmenwechsels nach Freeman und Perez und insbesondere mit der Regulationstheorie in Anlehnung an Boyer und Lipietz zwei Ansätze dargestellt, die die wirtschaftlich-technischen und gesellschaftlich-institutionellen Strukturen in einen Gesamtentwicklungszusammenhang zusammenführen. Davon ausgehend wird der Ansatz der varieties of capitalism nach Hall und Soskice diskutiert, der aus institutioneller Perspektive unterschiedliche nationale Spielarten marktwirtschaftlicher Systeme begründet. Diese können zu nationalspezifischen Innovationspfaden führen und ermöglichen somit eine Verbindung zum Ansatz der Innovationssysteme. Das Kapitel geht auch der Frage nach, inwiefern sich geographische Innovationssysteme auf unterschiedlichen Maßstabsebenen ausbreiten und wie diese im internationalen Vergleich entstehen und funktionieren. Hierbei werden Innovationsprozesse auf regionaler und nationaler Ebene diskutiert und anhand von Beispielen erläutert.

 

2Zu einer relationalen Wirtschaftsgeographie
2.1Geographie im Paradigmenwechsel

In diesem Kapitel legen wir die zentralen Argumente einer relationalen Sichtweise in der Wirtschaftsgeographie dar und unterscheiden ihre Grundperspektive von traditionellen wirtschaftsgeographischen Denkweisen. Hierzu werden neben der Bedeutung von Kontextualität, Pfadabhängigkeit und Kontingenz vier grundlegende Aspekte des Wirtschaftsprozesses in das Zentrum der Theoriebildung gestellt: Interaktion und Institution, Organisation, Evolution und Innovation. Damit soll ein fundiertes Verständnis der einzelnen Ansätze in einem größeren theoretischen Rahmen ermöglicht werden. Zuvor aber diskutieren wir die Idee von Paradigmenwechseln in allgemeiner Geographie und Wirtschaftsgeographie und illustrieren diese am Beispiel der Fachentwicklung in Deutschland.

Die Beobachtungen und Theorien, die Wirtschaftsgeographen formulieren, sind dabei stets geprägt von deren Fach- und Wissenschaftsverständnis. Wenngleich sich die Perspektiven einer Disziplin nicht sprunghaft ändern und sich meist auch nicht exakt datieren lassen, so ist es dennoch möglich, unterschiedliche Auffassungen, Methoden, Interessen und Vorgehensweisen charakteristisch von anderen zu unterscheiden. Auch die Theoriegeschichte der Wirtschaftsgeographie, so ein Argument dieses Buchs, kann einer solchen Unterscheidung unterzogen werden. Dies ist hilfreich, um einen kontextbewussten Zugang zu den Voraussetzungen und Inhalten ihrer Behauptungen zu schaffen und damit gleichsam eine differenzierte Kritik zu ermöglichen. Wir stellen daher zunächst das Konzept des Paradigmas vor und skizzieren anschließend eine wenn auch vereinfachte Unterscheidung der drei großen Paradigmen wissenschaftlicher Geographie. Um unsere Argumentation in Bezug auf die Paradigmen und Paradigmenwechsel in der allgemeinen Geographie und in der Wirtschaftsgeographie klar herauszuarbeiten, werden wir uns gezielt auf zentrale Aussagen ausgewählter Ansätze konzentrieren und andere nur verkürzt oder gar nicht darstellen. Dies hat vor allem didaktische Gründe.

Richtungweisend für die Konzipierung und Abbildung der Wissenschaftspraxis in Form von Paradigmen ist die Arbeit von Kuhn (1962) über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, die als Kritik aus der Idee eines linearen, kumulativen Erkenntnisfortschritts entstanden ist. Ein Paradigma kann danach definiert werden als eine Menge von wissenschaftlichen Leistungen, die ähnlichen Regeln hinsichtlich ihrer theoretischen Perspektiven, Basisbegriffe, Erklärungsansätze und Methoden unterliegen (Harvey 1969, Kap. 2). Ein Paradigma beschreibt eine sozial akzeptierte Forschungstradition, die Wissenschaftlern etabliertes Schulwissen bereitstellt (Kuhn 1962). Dabei strukturiert ein Paradigma nicht etwa nur Lösungsansätze, sondern gibt implizit in seinen Regeln auch die schulmäßigen Forschungsprobleme bzw. „Rätsel“ vor. Klassisches Beispiel eines herausragenden Paradigmas in den Naturwissenschaften ist die Newton’sche Physik, in der die Existenz kosmischer Kräfte in einem unveränderlichen, absoluten Raum angenommen wird. Im Gegensatz dazu setzte sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Relativitätstheorie Einsteins durch, in der Raum und Zeit nicht mehr absolut, sondern als veränderliche, relative Größen angesehen werden.

Die Phasen, in denen sich praktische Forschung paradigmatisch vollzieht, gelten als Phasen „normaler Wissenschaft“. Dem stehen die „wissenschaftlichen Revolutionen“ gegenüber, die bestehende Regelzusammenhänge durch neue Regeln, Bezüge und Begriffe ersetzen (Chalmers 1976). So erschütterte beispielsweise die Formulierung des kopernikanischen Weltbilds das grundlegende Verständnis des Kosmos. Die Erde wird darin nicht mehr als im Mittelpunkt der Welt stehend angesehen, sondern ist nur noch dezentraler Teil eines unendlich großen Universums. Das Selbstverständnis der Menschheit, religiöse Postulate sowie astronomische und physikalische Regeln und Interpretationsschemata wurden dadurch „revolutioniert“.

Unterschiedliche Paradigmen können hinsichtlich ihrer Forschungsperspektiven so weit auseinanderliegen, dass keine gemeinsame Kommunikation über den Sachzusammenhang mehr möglich ist. Solche Paradigmen nennt man inkommensurabel. Die Probleme und Lösungen der einen Perspektive sind dann nicht mehr in der Sprache der anderen zu formulieren. Insofern können inkommensurable Paradigmen einander nicht widerlegen und auch nicht zu einem linearen Erkenntnisfortschritt beitragen. Die Idee der Inkommensurabilität ist allerdings nicht unumstritten. So argumentiert Toulmin (1983), dass neue Paradigmen sehr wohl in einen argumentativen Diskurs mit alten Paradigmen treten können und dass Vertreter eines alten Paradigmas nicht zufällig, sondern wohlbegründet einen Paradigmenwechsel zu einem neuen Paradigma vollziehen. Die Dynamik wissenschaftlichen Denkens muss daher weder linear-kumulativ noch revolutionsartig geschehen. Vielmehr können wissenschaftliche Programme in Dialog treten, Perspektiven verhandeln und dabei gleichzeitig fortbestehen. Gerade vor diesem Hintergrund sind die nachfolgenden Diskussionen über Paradigmenwechsel in der Geographie und Wirtschaftsgeographie zu verstehen.

Die paradigmatischen Möglichkeiten der Wirtschaftsgeographie kreisen, ebenso wie die der allgemeinen Geographie überhaupt, um das Verhältnis von bestimmten Gegenstandsbereichen zum Raum. In der Wirtschaftsgeographie gilt es, eine spezifische Perspektive auf die Beziehung von ökonomischen Phänomenen zum Raum als Forschungsinteresse einzunehmen. Gerade die Auffassung des Begriffs Raum sowie der Beziehung zwischen Raum und Wirtschaft ist in der Entwicklung des Fachs verschieden definiert worden. Hier liegt der Ursprung für die Formulierung unterschiedlicher Paradigmen (wirtschafts-)geographischer Forschungsprogramme. Wir unterscheiden im Folgenden die Paradigmen der Länderkunde, der Raumwissenschaft und einer sozialtheoretisch revidierten Geographie, die fachhistorisch aufeinanderfolgen, heute jedoch zum Teil parallel weiterexistieren (Glückler 1999).

Die Details eines wissenschaftshistorischen Diskurses sowie individueller Konzepte werden in einer paradigmatischen Perspektive bewusst vernachlässigt, um stattdessen die Charakteristika einer weitgehend geteilten Grundperspektive oder einer fachspezifischen Weltsicht zu identifizieren. Paradigmen sind nicht unbedingt als solche historisch eindeutig identifizierbar, sondern sie sind ein Produkt des Wissenschaftsdiskurses. Sie werden zumeist erst im Nachhinein konstruiert, um von einer Weltsicht Abstand zu nehmen, die zuvor nicht einmal notwendigerweise bewusst reflektiert wurde (Wardenga 1996). In diesem Sinne ist unsere Unterteilung der Geographie in Paradigmen eine Konstruktion, die wir vornehmen, um den Übergang zu einer neuen Grundperspektive zu skizzieren. Paradigmen sind keineswegs „wahre Geschichte“, sondern in die Vergangenheit gerichtete Konstruktionen grundlegender Anschauungen und Überzeugungen.

Mit dieser Perspektive zielt dieses Buch darauf ab, aus einer umfassenden Kritik des Paradigmas raumwirtschaftlichen Denkens neue Positionen zu diskutieren und Argumente für eine veränderte Grundperspektive zu entwickeln. Die von uns vorgezeichnete relationale Perspektive der Wirtschaftsgeographie schließt traditionelle Positionen jedoch keineswegs aus. Vielmehr schlagen wir eine Transition des raumwirtschaftlichen Ansatzes in Richtung einer stärker sozialwissenschaftlich informierten Rahmenkonzeption vor, ohne ökonomische Positionen aufzugeben. Es handelt sich hierbei nicht um eine lineare Erweiterung traditioneller Konzepte, sondern um eine Fortentwicklung, die mit einer veränderten Grundperspektive verbunden ist.

2.1.1Die Ursprünge wissenschaftlicher Geographie: Länder- und Landschaftskunde

Die Geographie hielt als wissenschaftliches Fach erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und damit im Vergleich zu anderen Disziplinen relativ spät Einzug in die Hochschullandschaft (Wardenga 1989). Den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Geographie markiert die Länder- und Landschaftskunde. Befruchtet durch die Tradition der großen Entdeckungen und der Kolonialisierung der Erdteile seit dem späten 15. Jahrhundert befriedigten Geographen als Erdbeschreiber (griech. gaia oder ge = Erde und graphein = schreiben, malen, einritzen) ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Entdeckung und Kenntnis ferner Erdregionen und Kulturen. Aus der Tradition dieses Wissensbedürfnisses und aus dem tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Diskurs um den Nationalstaat im 19. Jahrhundert begründete Hettner (1927) in einer Auseinandersetzung mit den Fachgeschichten der Geographie und der Philosophie das Programm der wissenschaftlichen Länderkunde, das später erweitert, systematisiert und modifiziert wurde. Aufgabe der Geographie ist es demnach, die Welt gemäß ihrer Einteilung in „natürlich“ begrenzte Länder zu gliedern (Hettner 1927, IV. Buch; Werlen 1995 b) und in ihrer gesamten Komplexität zu beschreiben. Dabei hat der Landbegriff zunächst noch keine feste räumliche Größenordnung, sondern kann sich auf die ganze Erdoberfläche, Kontinente oder einzelne Orte beziehen. Erst später wird er zusehends auf nationalstaatliche Territorien angewendet.

Das länderkundliche Schema verleiht dem Verständnis Ausdruck, dass ein Land als Gesamtheit aller in ihm vorkommenden Phänomene das höchste Erkenntnisziel darstellt (Weigt 1961). Demnach sind Beschreibungskategorien wie Klima, Boden und Vegetation ebenso bedeutsam wie Bevölkerung, Siedlungen, Kultur, Religion und letztlich die Wirtschaft. Sie lassen sich als Schichten im Gesamtaufbau eines Landes denken und zunächst einzeln beschreiben. Die einzelnen Schichten, später als Geofaktoren bezeichnet, bilden in ihrer jeweiligen Einzelbetrachtung die Grundlage der allgemeinen Geographie (Uhlig 1970). Auch die Wirtschaftsgeographie ist in dieser Konzeption nur eine einzelne Disziplin im System der allgemeinen Geographie. Die Untersuchung der Geofaktoren ist der erste, manchmal sogar als propädeutisch bzw. vorwissenschaftlich bezeichnete Schritt, aus dem das komplexe Wirkungsgefüge der Landschaft erschlossen wird (→ Abb. 2.1). Die später formulierte Landschaftskunde verfolgt demgegenüber das Ziel, in der vergleichenden Betrachtung der Erdoberfläche aufgrund des Wirkungsgefüges einander ähnliche Landschaften in Gattungen zu ordnen (Bobek und Schmithüsen 1949).

Höchstes Ziel der Länderkunde ist es, über die landschaftstypischen Wirkungszusammenhänge hinaus alle Schichten der Landschaft so zu integrieren, dass ein ganzheitliches Verständnis des Landes – gleichsam dessen Totalcharakter – erschlossen wird. Diese Zusammenschau aller Schichten gleicht einer Sicht von oben auf übereinandergelegte Folien, die alle Einzelelemente gemeinsam zum Vorschein bringt. Im Gegensatz zur Landschaftskunde gilt die Länderkunde als idiographisch, d. h. sie begreift einen Erdaus­schnitt nicht als Raumtyp, sondern als einmaliges Raumindividuum mit einem einzigartigen „Schicksal“. Die idiographische und synthetische Zusammenschau der Erdoberfläche zu Ländern genießt in der Länder- und Landschaftskunde allerhöchste Priorität und steht an der Spitze einer hierarchisch gedachten Konzeption der Geographie, wie sie noch 1970 von Uhlig (1970) vorgestellt wurde (→ Abb. 2.1).

 

Abb. 2.1 Organisationsplan der länder- und landschaftskundlichen Geographie (nach Uhlig 1970, S. 28)

Wissenschaftshistorisch ist es wichtig hervorzuheben, dass dieser Organisationsplan nicht etwa den systematischen Ursprung, sondern das Ergebnis eines fast hundertjährigen Prozesses fortschreitender Konzeption, Kritik und Weiterentwicklung des Geographieverständnisses darstellt. Der Organisationsplan von Uhlig (1970) spiegelt daher nicht präzise die Hettner’sche Idee der Länderkunde wider, sondern veranschaulicht die Grundperspektive wissenschaftlicher Geographie, wie sie aus dem länderkundlichen Diskurs zahlreicher Autoren über mehrere Generationen hervorgegangen ist. Das daraus erwachsene Geographieverständnis erlangte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts große Bedeutung. Aus der Betrachtung der Anzahl von Publikationen, die den Begriff „Landschaft“ im Titel tragen, wird die sprunghaft zunehmende Verbreitung der Länder- und Landschaftskunde deutlich (→ Abb. 2.2). Die große Verbreitung des Begriffs impliziert dabei auch eine zunehmende Differenzierung der dabei verwendeten Konzepte, so z. B. des Länder- und Landschaftskonzepts (Weigt 1961; Uhlig 1970), wie dies für jede paradigmatische Denkströmung typisch ist. Selbst Hettners gesamtes akademisches Werk steht nicht widerspruchsfrei für eine einzige Fassung der Länderkunde (Wardenga 1996) und ist im Verlauf des Diskurses in mancherlei Hinsicht reduziert und sogar missverstanden worden (Wardenga 1995, Teil I und III). Insgesamt zeigt die paradigmatische Analyse, dass sich länder- und landschaftskundliche Konzepte stets im raumzentrierten, naturalistischen und beschreibenden Denken bewegt haben und nur vereinzelt, nicht jedoch systematisch darüber hinausgingen.

Der historische Anstieg der Zahl der Publikationen mit dem Titelbegriff „Landschaft“ macht außerdem deutlich, dass die Entwicklung eines Paradigmas wie der Länder- und Landschaftskunde nicht nur innerhalb eines Fachs begründet liegt, sondern oft durch allgemeine gesellschaftliche Denkströmungen mit bedingt wird. So lässt sich eine Zunahme des Landschaftsbewusstseins nicht nur in der wissenschaftlichen Geographie (→ Abb. 2.2 a), sondern auch in anderen Disziplinen für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nachweisen (→ Abb. 2.2 b). Mit dem Beginn der methodologischen Revolution setzte jedoch seit den 1940er-Jahren eine zunehmende Kritik am länderkundlichen Denken ein (Hard 1973, 2. Teil).


Abb. 2.2 Veröffentlichungen der Jahre 1900 bis 1960 mit dem Begriff „Landschaft“ im Titel (nach Hard 1969, S. 253 ff.)