Ein Wandel der Gesinnung

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Langsam lichtete sich die auf sich eingeschworene Gruppe, da sich beständig jede Woche einer von dem harten Kern verabschiedete. Um nicht vollends allein dazustehen, suchte man anfangs noch zögerlich den Kontakt zu den Neuen. Hierzu gehörten außer mir noch Peter, Bernd, Steve, Harry, Dietmar und Karl. Wir bildeten unsererseits eine eigene Interessengemeinschaft, deren Zusammenhalt bis zu meiner Entlassung bestehen blieb. Von der alten Garde stießen noch Jimmy und Henry hinzu. Es formierte sich eine neue Gruppe, die sich strukturell von der ehemaligen unterschied. Alle zogen an einem Strang und verfolgten die gleichen Ziele: Abschwören vom Alkohol, Vergangenheitsbewältigung und Planung einer Zukunftsgestaltung. Es gab Einzelgespräche untereinander, man unternahm zusammen Einkaufsfahrten und wandte sich bei ernsthaften Problemen direkt an unsere Therapeutin, die einem mit Rat und Tat zur Seite stand. Bei uns herrschte keine Hierarchie – im Gegenteil: Wir freuten uns über jeden Neuzugang, der die gleichen Interessen verfolgte.

Einige konnten wir mit unseren Ansichten nicht erreichen. Bei drei Gruppenmitgliedern war eine Partnerschaft zu Mitpatientinnen vorrangig und ließ wenig Spielraum für eine erfolgreiche Therapie. Hier möchte ich – wie schon anfangs erwähnt – etwas näher auf die „zwischenmenschliche Beziehung während einer Heilbehandlung“ eingehen. Die vorher Angesprochenen taten sich während der Bezugsgruppe meist durch Stillschweigen und Schlafen hervor, da die normalen Ruhepausen für andere Zwecke genutzt wurden … Hierbei taten mir immer die Zimmergenossen leid, die bei Wind und Wetter einige Stunden täglich einen unfreiwilligen Hofgang absolvieren mussten. Kam es zu Dauerregen oder sogar zu Schneetreiben, diente die Cafeteria als Wartesaal, wo man dann ständig die Mitpatienten nach der Uhrzeit fragte. Obwohl laut Klinikordnung ein sexueller Kontakt wie auch eine Liebschaft mit anderen Patienten untersagt wurde, grüßte man händchenhaltend den Gruppentherapeuten. Viele Pärchen agierten bewusst nach dem Motto: Habe ich schon kein Bier im Magen, fliegen wenigstens Schmetterlinge in meinem Bauch. Die dadurch entstandene Ablenkung und das Desinteresse an einer erfolgreichen Therapie waren bei jedem Betroffenen deutlich sichtbar.

Unvergessen – ich spreche jetzt von der Allgemeinheit der als Pärchen fungierenden Patienten – war der Besuch der eigentlich zuständigen Ehepartner am Wochenende. Um diese lästige Pflichtaufgabe möglichst unbeschadet zu erfüllen, wurde schon während der Woche akribisch genau jeder Ablauf des bevorstehenden Treffens einstudiert, um jeglichen Verdacht eines Seitensprungs auszuschließen. Hierzu gehörte die Sitzordnung im Speisesaal, die zwar einen entfernten Blick auf die neue Liebschaft zuließ, dem ahnungslosen Gegenüber aber keine Veranlassung zu einem Misstrauen gab. Auch die gemeinsamen, kuscheligen Raucherecken wurden gezielt verlegt, um die Sache nicht auffliegen zu lassen. Gemeinsam unternahm man Spaziergänge, die einen von der restlichen Gruppe trennten. So ging man gleichzeitig peinlichen Fragen, wie: „Was, schon wieder ein Neuer?“, sorgsam aus dem Weg.

Nicht jede Romanze war durch die Beendigung der Therapiemaßnahme aufgekündigt. Einen klassischen Fall erlebte ich beim Ehemaligentreffen, doch dazu später. Wurde die Beziehung jedoch schon während der Therapie beendet, besannen sich die Hinterbliebenen plötzlich der vorher nicht beachteten Mitpatienten und dem eigentlichen Grund des Klinikaufenthaltes. Doch dieses Bestreben wurde von vielen missbilligt. Zu groß war die zeitliche Spanne für eine Wiedereingliederung in die einzelnen, jetzt harmonisch agierenden Gruppen.

Doch zurück zu unserer Gruppe. Der Vollständigkeit halber möchte ich noch einige Spezies daraus etwas näher beschreiben. Da wäre Wilhelm, der die Klinik wegen eines Burn-out-Syndroms in Verbindung mit Alkoholmissbrauch aufsuchte. Den wahren Grund erfuhren wir erst später. In seinem als Büro umfunktionierten Zimmer betätigte er sich als Jobvermittler für arbeitslose Mitpatienten. Hierzu genügte es, sich bei jeder Neuvorstellung Notizen über den bisherigen beruflichen Werdegang der betreffenden Person zu machen, um ihr dann bei einem Einzelgespräch entsprechende Hilfe bei der Arbeitssuche anzubieten. Koordiniert wurde das Ganze von seiner Freundin, die als selbstständige Vermittlerin engen Kontakt zur Agentur für Arbeit pflegte. Da sich in seinem umfunktionierten Zimmer eine größere Anzahl an technischen Geräten wie PCs, Drucker, Fax, Laptop etc. befand, kam es durch eine Überbelastung des Stromnetzes zu einem Energieausfall, welcher den gesamten Flurbereich im ersten Stock ganz zum Entsetzen der Mitbewohner für Minuten verdunkelte. Durch seine Nebentätigkeit konnte er an dem therapeutischen Gruppenleben leider nicht teilnehmen.

Dann wäre noch Klaus, der sich durch sein Fachwissen in puncto „Rückfall“ hervortat. Bei der Teilnahme an den „Initiativegruppen“ und deren Auswahl half ihm seine langjährige Erfahrung, die er sich bei seiner jetzt dritten Therapie innerhalb von sechs Jahren angeeignet hatte. Folgende Kriterien mussten bei der Teilnahme beachtet werden: Es durfte kein größerer Aufwand – sei es vom Geistigen oder Körperlichen her – betrieben werden. Zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehörten Schwimmen, Essen und Arztbesuche mit anschließendem Stadtbummel.

Als ich Siegfried das erste Mal bettlägerig im Aufnahmezimmer zu Gesicht bekam, dachte ich, man hätte ihn mit dem Kopf in einen gelben Farbeimer getaucht. Aber nicht nur die Färbung der Haut, sondern auch seine anfängliche Verhaltensweise ließ erkennen, was Alkohol mit einem Menschen alles machen kann. In diesem Fall traf auch Peters Lieblingsspruch zu: „Der ist durch den Wind.“ Siegfried beschäftigte bis zu seiner Zwangseinweisung in das Krankenhaus die gesamte Bezugsgruppe rund um die Uhr. Da sein Gedächtnis einen schweren Schaden erlitten hatte, verwechselte er die verschiedenen Räumlichkeiten, verirrte sich in dem großen Wohnkomplex und vergaß im Speisesaal etwas zu essen. Es wurden Suchtrupps aufgestellt, Orientierungshilfen geschaffen und Botengänge für ihn erledigt. Es gehörte schon zum Alltag, von anderen Patienten zu erfahren, in welchem Gebäudeteil sich unser Siegfried gerade aufhielt. Weil sich keiner so wirklich mit ihm beschäftigte, versuchte er als Lift Boy zumindest für einen Augenblick die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu lenken. Das Objekt seiner Begierde war der Fahrstuhl in Haus 1, da dieser zentral lag und von der Mehrheit des Personals und der Patienten genutzt wurde, um schnellstmöglich ihre Ziele zu erreichen. Diesen Vorteil machte sich Siegfried zunutze und postierte sich im zweiten Stock, wohl wissend, dass dort selten jemand zustieg. So hatte er die Möglichkeit, die verdutzten und angespannten Fahrstuhlbenutzer gleich mehrmals während ihrer Fahrt aufzuhalten, um ihnen dann treu und doof mitzuteilen, dass er doch lieber die Treppen benutze. Zu diesem Zeitpunkt hat keiner von uns an eine erfolgreiche Behandlung bei Siegfried geglaubt, doch wurden wir spätestens beim Ehemaligentreffen eines Besseren belehrt …

Neben der Bezugsgruppe gehörte auch die Kunsttherapie zu den wöchentlichen therapeutischen Maßnahmen, die wir als gesamte Gruppe zu absolvieren hatten. Als Thema gab uns Frau Lä. „Das verkorkste Leben vor der Therapie und die zukunftsorientierte Zielrichtung danach“ vor. Als Hilfsmittel dienten verschiedene Farben zum Malen, man konnte Holz bearbeiten, an einem Speckstein herumfeilen, mit Gips oder Ton modellieren oder aber eine Fotocollage aus bereitliegenden älteren Zeitschriften erstellen, bei der es galt, Fotos und Wörter herauszuschneiden, um sie auf einem weißen Kartonbogen zu einer Lebensgeschichte aufzukleben. Für diese Variante entschieden sich die meisten aus unserer Gruppe, zumal es für einige die Möglichkeit bot, in den Zeitungen nachzulesen, was alles während der eigenen Trinkphase in der Welt so passiert ist. Wurden sie dann unsanft beim Lesen gestört und aufgefordert, auch einmal die Schere in die Hand zu nehmen, besaßen manche sogar die Frechheit und markierten die betreffende Seite, damit sie den Artikel in der nächsten Stunde in Ruhe zu Ende lesen konnten. Die Collage, die ich erstellte, dient noch heute als Leitfaden für meine Zukunft ohne Alkohol.

Einmal wöchentlich trafen sich die drei B-Gruppen in einem der Therapieräume zu dem sogenannten Forum. Unter Vorsitz von drei Therapeuten wurden von einem Gruppensprecher die angefallenen hausinternen Ereignisse der letzten Woche vorgetragen. Probleme wurden besprochen und es wurde nach Lösungsmöglichkeiten gesucht. So fehlte zum Beispiel bei der Damentoilette im Erdgeschoss von Haus 3 seit geraumer Zeit die Klobrille, was den weiblichen Patienten bislang nicht aufgefallen war oder als „Das muss wahrscheinlich so sein“ abgetan wurde. Am Ende stellten sich die Neuzugänge vor und man wünschte den Abgängern viel Glück für die Zukunft.

Unsere Gruppe traf sich ebenfalls einmal die Woche, um sich über verschiedene Themen zu beraten und abzustimmen, zum Beispiel über den bevorstehenden Gruppenausflug, die Zimmerbelegungen und die Aufteilung der verschiedenen Ämter und Dienste (Gruppensprecher, Stellvertreter, Schriftführer, Küchendienst oder Müllbeseitigung etc.). Man nutzte die Stunde auch für eine interne Geburtstags- oder Weihnachtsfeier. Ansonsten wurde jedem Patienten immer freitags der Plan für die kommende Woche mit den bevorstehenden Aktivitäten im eigenen Schließfach hinterlegt.

Nach circa sechs Wochen hatte man die Möglichkeit, nach Absprache mit unserer Therapeutin an zwei verschiedenen Indikationsgruppen teilzunehmen. Ich entschied mich zum einen für die Kreativgruppe und als zweites für das Schwimmen, welches im Hallenbad in Backnang stattfand. Obwohl ich schon als Schüler ein sehr guter Schwimmer war und diese Gruppe zur sportlichen Ertüchtigung auswählte, musste ich mit Erstaunen feststellen, wie viele Abwandlungen der Begriff „Schwimmen“ beinhaltet. Hier taten sich vor allem diejenigen hervor, die das Schwimmbad, ohne einen Wasserspritzer abbekommen zu haben, schon eine halbe Stunde vor Beendigung der regulären Schwimmzeit in Richtung Umkleideraum verließen, um dann das strohtrockene Haar zu föhnen. Ein anderer Kandidat übte dagegen im Nichtschwimmerbereich in aufrechter Haltung und im Gehen die ersten, nicht zu erkennenden Schwimmversuche. Mit etlichen Schwimmflügeln und Schwimmreifen bestückt, ähnelte er eher einem Michelin-Reifenmännchen als einem lernfähigen Anwärter für das erste Seepferdchen. Bei etlichen Teilnehmern bestand überhaupt kein Interesse an einer sportlichen Betätigung, sondern diente der Ausflug zum Zeitvertreib mit anschließendem Currywurstessen am Imbisstand, der sich auf dem Parkplatz vor dem Hallenbad befand.

 

Anders war der Verlauf bei der Kreativgruppe. Hier konnte jeder Teilnehmer individuell unter der tollen Anleitung von Frau Kö. unentdeckte Fähigkeiten im künstlerischen Bereich realisieren. Ich entschied mich für Zeichnungen mit Bleistift und Aquarellfarben. Man lernte neue Techniken kennen und konnte seine Ideen verwirklichen. Leider vergingen gerade diese Stunden viel zu schnell, doch hinterließen sie bleibende Erinnerungen und gaben Anlass zur Fortsetzung nach der Therapie.

In Wilhelmsheim kam für mich nie Langeweile auf, da die Vielzahl an Beschäftigungsmöglichkeiten meine Erwartungen übertraf. Außer den zwei genannten ID-Gruppen besuchte ich abends noch die PC-Basis und Aufbaukurse, um das vorher Erlernte wieder aufzufrischen. Nach den ersten vier Wochen bestand auch die Möglichkeit, am Wochenende das Klinikgelände zu verlassen. Mit einem eigens dafür vorgesehenen Shuttlebus, der einen vormittags nach Oppenweiler fuhr und auch zur Rückfahrt nachmittags im Ort selbst bereitstand, konnte man problemlos die Höhenunterschiede überwinden. Als Alternative hierzu bot sich auch ein eineinhalbstündiger Fußmarsch in die Ortschaft an. Diese Möglichkeit nahm ich während meines fünfzehnwöchigen Aufenthaltes dreimal in Anspruch. Der Hinweg, die serpentinenartige Straße hinunter, verlief zwar unschwer, doch war man gedanklich schon mit dem Rückweg beschäftigt und vergaß dabei den wahren Grund seines Gewaltmarsches.

Später bildeten wir in unserer Gruppe kleine Fahrgemeinschaften, die uns zum Einkaufen bis nach Backnang zur Verfügung standen. Überhaupt entwickelte sich das Zusammenleben innerhalb unserer Bezugsgruppe zu einer richtigen Interessengemeinschaft. Man arrangierte Treffen beim Italiener oder Mexikaner, fuhr abends zur Überbrückung des vegetarischen Tages mal schnell nach Backnang in das Kaufland, um eine Delikatess-Bockwurst für nur einen Euro zu genießen, oder setzte sich nach „Dienstschluss“ in die Cafeteria, um sich einfach zu unterhalten. Sie diente aber nicht nur als Ort, um Gespräche zu führen, sondern bot mir ein großes Spektrum für meine Beobachtungen.

In Wilhelmsheim wurden neben den Alkoholikern auch spielsüchtige Patienten in die Therapiemaßnahmen mit eingebunden. Für alle Klinikinsassen galt laut Hausordnung folgendes Verbot: Das Spiel um Geld ist in der Klinik nicht gestattet! Doch „Not kennt kein Gebot“. Diese Redewendung nahmen sich so einige zum Anlass, auf scheinbar unbemerkte Art und Weise die Cafeteria in ein Spielcasino umzufunktionieren. Anstelle von Stammtischen in verrauchten Kneipen beim alltäglichen Schafkopfklopfen oder Pokern und einer dazugehörigen Menge an Alkohol, spielte man wohl gesittet bei einer Tasse Kaffee an den kleinen Tischen jeweils zu viert das Gesellschaftsspiel „Mensch ärgere dich nicht“ mit solch einer Leidenschaft und Intensität, dass so mancher Außenstehende an ein Therapiewunder glaubte, ohne jedoch zu wissen, welchen Euro-Wert so ein einzelnes buntes Spielmännchen hatte. Damit man das von früher her gewohnte Flair nicht vermisste, wurden auch die Raucherpausen strikt eingehalten, bei denen gemeinsam, um jegliche Mogelei auszuschließen, der Tisch für einige Minuten in Richtung Terrasse verlassen wurde. Gleichzeitig wurde diese Auszeit genutzt, um angefallene Spielschulden schnell und unbürokratisch zu begleichen.

Andere wiederum versuchten ihr Glück beim Tischfußballspiel. Hier endete jeder Torjubel mit einer Grölerei und dem Verschieben des Spieltisches. Die Lautstärke übertraf sogar die Stimme des Nachrichtensprechers der Tagesschau im Fernsehraum zwei Stockwerke höher. Doch dieser lohnenswerten Freizeitbeschäftigung widmete sich nur eine Minderheit der auf Therapie befindlichen Personen. Den meisten war der Ernst der Lage klar und sie betrachteten die Hausordnung nicht als Maßregelung, sondern als wichtigen Bestandteil im Zusammenleben innerhalb einer Gruppe.

Die hauseigene Bücherei mit ihrem reichhaltigen Angebot fand auch bei mir Interesse und gab mir durch das Bücherlesen einen schon in Vergessenheit geratenen intellektuellen Zeitvertreib wieder zurück. Im sportlichen Bereich konnte ich nur mit Tischtennisspielen und Schwimmen mit den anderen einigermaßen mithalten. Etliche Patienten ereiferten sich beim Badminton, aufgebrezelt wie ein Wimbledonsieger und ausgestattet mit den teuersten am Kiosk erworbenen Sportgerätschaften. Ausgangspunkt des Schaulaufens war die Turnhalle. Sie eignete sich auch hervorragend zur Imponierung der Damenwelt. Den Endpunkt bildete für einige dann das Krankenhaus. Zu den absoluten Sportassen zählten diejenigen, die sich in die Teilnehmerliste für den „Backnanger Marathonlauf“ eintrugen. Ausgestattet mit bedruckten T-Shirts mit dem Logo „Team AHG Klinik Wilhelmsheim“ war dann für jeden Zuschauer von Weitem schon ersichtlich, dass es sich hierbei um den harten Kern der Alkoholkranken handelte. Diese Idee, sich zu outen, übernahm auch die vierköpfige Musikergruppe unserer Klinik und ließ ihrerseits T-Shirts mit ihrem Bandnamen und der Aufschrift „Wir waren dabei – Wilhelmsheim 2011“ bedrucken. Ansonsten gab sie bei besonderen Anlässen Kostproben ihres Nichtkönnens.

Ich gehörte zu der Gruppe von Patienten, die sich im Wesentlichen auf den eigenen Heilungsprozess konzentrierte, und zog mich bei den Spiel- und Discoabenden lieber auf mein mittlerweile erhaltenes Einzelzimmer zurück, um Erfahrungen und Erkenntnisse niederzuschreiben. So kam mir auch die Idee der Gegenüberstellung von Begriffen, die einerseits in Verbindung mit Alkohol standen, zum anderen mit dem Zustand der Abstinenz assoziiert werden konnten. Dies alles geschah mithilfe des Dudens von A-Z:

Abstinenz statt Alkohol

Bereitwilligkeit statt Besäufnis

Cappuccino statt Campari

Durchblick statt Depressionen

Enthaltsamkeit statt Entgiftung

Freude statt Frust

Genügsamkeit statt Gleichgültigkeit

handeln statt hadern

Impulsivität statt Ideenarmut

Kreativität statt Kapitulation

losgelöst statt lustlos

motiviert statt manipuliert

nachdenken statt nachgießen

optimistisch statt obergärig

Probleme lösen statt Probleme schaffen

richtungweisend statt resignierend

Selbstkontrolle statt Selbstzerstörung

Toleranz statt Totaleinbruch

Umwandlung statt Unbelehrbarkeit

Voraussicht statt Versager

Wiederaufbau statt Wegwerfgesellschaft

Zukunft statt Zirrhose.

Außer meiner intellektuellen Beschäftigung galt mein Hauptaugenmerk der Therapiegruppe, zu deren Sprecher ich gewählt wurde. Ich baute ein Vertrauensverhältnis innerhalb der Gruppe auf und unterhielt mich viel mit den Personen, die wie ich das gleiche Ziel verfolgten: die Therapie für einen Neuanfang im Leben zu nutzen. Die Probleme und Anliegen besprach ich dann mit Frau Q., die mittlerweile zu unserer Lieblingstherapeutin aufgestiegen war – ungeachtet der Tatsache, dass sie außer unserer auch noch andere Gruppen zu betreuen hatte.

Es kam aber auch vor, dass ich mir dabei aufgrund meiner Veranlagung, jedem alles recht machen zu wollen, ohne auf meine eigenen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, ins eigene Fleisch schnitt. Ein Beispiel soll dies belegen: Ein Gruppenmitglied kam mit seiner damaligen Unterbringung in einem Zweibettzimmer und dem dazugehörigen Zimmernachbarn nicht klar und beschrieb mir Details aus dem Zusammenleben auf engstem Raum. Da sein Nachbar eine innige Beziehung zu einer Mitpatientin pflegte, gehörte es zur Selbstverständlichkeit, das Zimmer täglich für einige Stunden dem verliebten Paar zu überlassen, zumal wir uns schon den Kältemonaten näherten und die anderen Plätze für Verliebte meist belegt waren. Wie schon beschrieben, hieß das für den Unbeteiligten, einen ausgiebigen Spaziergang zu unternehmen oder sich in der Cafeteria die Zeit totzuschlagen. Dies wurde von unserem gutmütigen Kollegen noch weitgehend toleriert, doch mit den notwendigen Aufräumarbeiten nach dem Techtelmechtel war er dann nicht mehr einverstanden. Hinzu kamen die ständigen Alptraumattacken seines Zimmergenossen während der Nacht. Gut, dachte ich mir so im Stillen, bei dieser Frau hätten mich auch so manche Ungereimtheiten während der Traumphase aufschrecken lassen. Sein sehnlichster Wunsch wäre die Verlegung in ein Einzelzimmer gewesen. Als ich ihm bekundete, mich persönlich für dieses Begehren bei Frau Q. stark zu machen, fiel ihm eine Last von den Schultern und er beschäftigte sich schon insgeheim mit einer Therapieverlängerung.

Gleich am nächsten Tag suchte ich das Büro von Frau Q. auf, um ihr von diesem Fall zu berichten. Sie zeigte volles Verständnis und versicherte mir, diese Angelegenheit in der nächsten Therapiestunde vor versammelter Gruppe zu regeln. Die Schlussfolgerung der öffentlichen Anhörung ließ selbst bei mir die letzten noch verbliebenen Haare wie elektrisiert zu Berge stehen. Plötzlich waren die vorher geschilderten Ereignisse nicht der Rede wert und man einigte sich freundschaftlich auf eine weitere gute Zimmernachbarschaft bis zum Ende der Therapie. Den Einzelzimmerzuschlag erhielt unser selbst ernannter freier Mitarbeiter des Arbeitsamtes. Nach meiner Abreise belegte er dann mein Zimmer und ich sah ihn, noch während ich im Foyer auf das Taxi wartete, wie er mühsam sein elektronisches Equipment im Aufzug verstaute. Wieder einmal wurde ich für den persönlichen Einsatz bei der Problemlösung für andere nicht belohnt.

Von nun an konzentrierte ich mich auf die Allgemeinheit und plante einen Ausflug auf den Weihnachtsmarkt nach Esslingen. Ganz bewusst fiel meine Wahl auf diese Stadt, welche ich noch aus meiner aktiven Zeit als Messeverkäufer kannte. Leider war es mir damals unmöglich gewesen, die wahre Schönheit dieses Städtchens kennenzulernen, da mir etliche Kneipen die Aussicht verwehrten. Jetzt bot sich die Möglichkeit einer Sightseeingtour in Verbindung mit einem Bummel über den historischen Weihnachtsmarkt. Die Idee fand sowohl bei unserer Therapeutin als auch bei der Gruppe selbst großen Anklang. Alsbald nahm ich Kontakt mit dem Fremdenverkehrsamt Esslingen auf und erhielt umgehend die gewünschten Broschüren und einen Überweisungsschein für eine Spende an die dortige Verwaltung. Über das Erstere habe ich mich natürlich sehr gefreut. Das Letztere war anscheinend für einen anderen Empfänger bestimmt.

Zuerst jedoch hatte meine erste und gleichzeitig letzte Heimfahrt vorrangige Priorität. Ich wählte dafür die zehnte Woche seit Ankunft in Wilhelmsheim und trat die Reise mit gemischten Gefühlen an, wohl wissend, dass sich während meiner Abwesenheit kein Meister Propper oder ein ähnlicher Putzteufel bei mir eingeschlichen hatte, um für einen Lichtblick in der chaotisch hinterlassenen Wohnung zu sorgen. Trotzdem bitzelte es mich zu erfahren, inwieweit sich das Umfeld hinsichtlich meiner Abwesenheit verändert hatte. Ein Arbeitskollege holte mich vom Bahnhof ab und fuhr mich dann zu meiner Wohnung. Dort angekommen, beseitigte ich erst einmal das zurückgelassene Leergut und begann dann zaghaft mit dem Versuch, den Lebensraum wieder wohnlich zu machen.

Am Abend traf ich mich dann mit meinem Bekannten in dessen Stammkneipe, in der ich vor der Therapie natürlich auch verkehrte. Während er wie gewohnt in hastiger Manier seine Biere runterschüttete, um sein tägliches Level zu erreichen, wurde mir bewusst, dass ich in dieses Milieu nicht mehr zurückkehren wollte. Als dann noch zwei Bekannte einem dritten das Bier verschütteten, nahm dieser sich beide zur Brust, feuerte den einen über die Stühle hinweg auf den Boden und den anderen mit dem Kopf gegen die mit Draht durchzogene Eingangsglastür. Durch die Wucht erhielt diese ein faustgroßes Loch, umrandet mit dem Blut des Leidtragenden. Er selbst muss dann wohl blutüberströmt das Weite gesucht haben. Da mir solche Abläufe aus Berlin bekannt waren und die drei Beteiligten mir immer gut gesinnt gewesen waren, nahm ich nicht allzu große Notiz von diesem Vorfall, dachte mir meinen Teil und versuchte, unser Gespräch fortzuführen, was jedoch aufgrund des steigenden Alkoholkonsums meines Freundes in einer Art „Wahlwiederholung“ endete. Ich wartete nur auf einen geeigneten Moment, um dann ebenfalls das Weite zu suchen.

 

Den Sonntag verbrachte ich dann allein, ging zum Frühstücken in ein Café, sah fern und packte den Koffer für die letzten fünf Wochen in Wilhelmsheim. Montagvormittag traf ich mich mit meinem Chef und wir planten schon für die Zeit nach meiner Rückkehr. Außerdem überschüttete er mich mit Komplimenten und wünschte mir ein frohes Weihnachtsfest. Auf der Rückfahrt hatte ich dann genügend Zeit, über das Erlebte nachzudenken, und freute mich schon auf mein Bett in meiner kurzzeitigen Wahlheimat.

Obwohl diese Wochenendheimfahrt nicht gerade der Erholung diente, sondern eher in Stress und seelischer Belastung ausartete, konnte ich trotzdem genügend Erkenntnisse mitnehmen, die sich für meine zukünftige Lebensweise als Vorteil herausstellen sollten. Ein großes Anliegen in meinen Zukunftsplänen war die Umgestaltung meiner Wohnung, in der man sich später richtig wohlfühlen sollte. Auch wollte ich mir selbst das Gefühl geben, dass dies alles aus eigenem Antrieb und der dazugehörigen Lust entstanden war. Gleichzeitig wollte ich die Wohnung nicht nur als Rückzugsort benutzen, sondern als ein fester Bestandteil in meiner neuen Lebensführung. Was den Aufenthalt in der Kneipe anging, stärkte es eher den Entschluss, den ich gefasst hatte, und fühlte auch innerlich das Nicht-mehr-Dazugehören. Es lag mir aber fern, mich in dieser Richtung den früheren Saufkumpels gegenüber zu outen. Die seelische Belastung löste ich selbst aus, indem ich gedanklich schon bei der Realisierung meiner Pläne war und mich dadurch in eine Drucksituation brachte. Rückblickend muss ich unverhohlen zugeben, dass ich alles erreicht habe, was ich mir damals vorgenommen hatte.

Der geplante Ausflug nach Esslingen musste wegen widriger Witterungsverhältnisse um eine Woche verschoben werden. Außerdem gesellte sich zu unserem Team noch eine andere B-Gruppe dazu, deren therapeutische Betreuung vertretungsweise von Frau Q. übernommen wurde. Zusammen waren wir circa zwanzig Personen, die sich dann bei Ankunft in verschiedene kleinere Interessengemeinschaften splitteten.

Anzumerken wäre noch eine Anekdote während der Zugfahrt. Als alle schon Platz genommen hatten, war Wilhelm noch auf der Suche nach einer geeigneten Sitzgelegenheit mit Klapptisch für sein mitgenommenes Notebook. Letztendlich fand er einen seinen Vorstellungen entsprechenden Sitzplatz und war schon im Begriff, die in der Klinik liegen gebliebenen Arbeiten nachzuholen. Er bemerkte dabei nicht, dass seine Vorgehensweise genau in das Blickfeld von Frau Q. und meiner Wenigkeit fiel. In diesem Moment dachte ich an den zerstreuten Professor, der morgens immer das Frühstücksei küsste und seiner Frau mit dem Löffel auf den Kopf schlug. Diesem munteren Treiben wurde jedoch von Frau Q. Einhalt geboten, indem sie Wilhelm darauf hinwies, dass es sich bei der Zugfahrt um einen Ausflug der Therapiegruppen handele.

Wir selbst bildeten eine Vierergruppe, die sich vorwiegend in Bäckereien und Cafés aufhielt, da die kalten Temperaturen keine allzu großen Anstrengungen in Sachen Laufen zuließen. Außerdem befanden sich mit Harry und Karl zwei extrem ausgehungerte Personen in unserem Kreis, die bei jedem „kulinarischen Leckerbissen“ zugreifen mussten. Es blieb trotzdem genügend Zeit, die Sehenswürdigkeiten von Esslingen kennenzulernen, und ich fühlte dabei ein unbeschreibliches Wohlbehagen. Dinge wieder realistisch zu erkennen und aus einer früher verschwommenen, doppelsichtigen Wahrnehmung befreit worden zu sein, löste bei mir ein wahres Glücksgefühl aus. Mit einem Bummel über den Weihnachtsmarkt beendeten wir unseren Tagesausflug und freuten uns während der Heimfahrt alle auf die obligatorische Kontrolle des Atemalkohols.

Eine nette Geste des Hauses war eine Nikolaustüte für jeden Patienten. Auch ein Nikolausabend wurde organisiert und man spürte, dass Weihnachten vor der Tür stand. Die Freude auf ein Geschenk in Form einer neuen jungen Patientin für unsere Eintänzer wurde jedoch getrübt, da es sich bei den neu aufgenommenen Personen eher um eine Abordnung aus einem nahe gelegenen Seniorenheim handelte. Dieses spezielle Problem hatte ich nicht, doch ging der zunehmende Altersunterschied der Neupatienten auch nicht spurlos an mir vorbei. Doch alles der Reihe nach.

Zu Beginn meiner Therapie hatte ich gerade einmal drei Patienten gezählt, die das Alter von siebzig schon überschritten hatten. Einer davon stand bei mir unter ständiger Beobachtung. Schon bei der Einweisung im Kraftraum durch den Sporttherapeuten entfernte er sich von der Gruppe und testete vorab schon einmal ein noch nicht erklärtes Sportgerät. Das war auch das letzte Mal, dass ich ihn bei einer sportlichen Betätigung sah. Anerkennenswert war seine wohl anerzogene Pünktlichkeit bei der täglichen Essensausgabe, bei der er immer zu den Ersten gehörte und auch durch seine jahrelange Erfahrung wusste, wie man die Spezialitäten vor dem Zugriff eines Mitpatienten durch Aufladen auf den eigenen Teller schützte. Zu einem Ritual gehörte das Aufsuchen des Fernsehraums um 20 : 00 Uhr für die Tagesschau. Gemeinsam saß die ältere Garde in der ersten Reihe und verließ auch nach dem Ende der Nachrichten geschlossen den Saal, um die restliche Zeit bis zur Nachtruhe durch entspanntes Gänge-auf-und-ab-Laufen zu nutzen.

Leider kam auch für diesen Senior und meine Beobachtungen die Zeit des Abschiednehmens und ich hielt mich an diesem Tag zufällig am Empfang auf. Dort bedankte er sich für die erhaltenen Hilfemaßnahmen und gab kund, dass er die Therapie aus eigener Tasche finanziert habe. Respekt, dachte ich mir. Während andere Menschen nach mehr als drei Vierteln ihres Lebens ihr Geld lieber in eine Kreuzfahrt investieren, hatte dieser gute Mann endlich den Entschluss gefasst, mit dem Trinken aufzuhören.

Nach Ablauf der Indikationsgruppe „Kreativität“ kam ich für die letzten Wochen in die von unserer Gruppentherapeutin geleitete Achtsamkeitsgruppe. Die Grundvoraussetzung bei der Anwendung dieses Phänomens im täglichen Leben ist die Selbstfindung zu seinem eigenen Körper. Von Frau Q. in einfühlsamer Weise übermittelt, lernte ich kontrollierte Umgangsformen sowohl mit meinen Sinnen als auch mit meinen Reizen kennen. Die Erfahrungswerte lassen sich in dem von mir angepeilten Lebensstil problemlos integrieren und erweisen sich als unablässiger Stabilisator bei Stresssituationen oder auftretender Problematik. Achtsamkeit überwacht gleichzeitig die eigene Wahrnehmung und ist Auslöser von Entscheidungen, die für ein stetiges Wohlbefinden des eigenen Körpers sorgen. Eine dominierende Rolle in diesem Werdegang spielt das Glücksgefühl. Waren es noch während der Trinkphase ausschließlich materielle Voraussetzungen, die zu einem kurzen Aufflammen dieses Gefühls geführt hatten, lösen jetzt selbst kleine positive Momente diesen Zustand aus. Leider fielen von den Achtsamkeitsstunden eine dem Feiertag und die andere einer Krankheit seitens Frau Q. zum Opfer, doch das, was ich aus den abgehaltenen Sitzungen an Erkenntnissen mitgenommen habe, bestimmt noch heute den positiven Wandel in meinem Leben.

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