Im Schatten der Flügel

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Z serii: Ein Maine-Krimi #2
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3 Zehn Minuten für Keith Richards

Die Wimpern von Jakes rechtem Auge strichen ihr über die Wange, ein Schmetterlingskuss, der sie weckte. Ohne sich zu rühren sah sie, wie der Wind Regengarben gegen die Bogenfenster trieb, hörte sie, wie Tropfen über ihren Köpfen auf das Dach von Jakes Turm prasselten, in dem sich sein Schlafzimmer und darunter seine Gitarrenwerkstatt befanden. Das Licht des frühen Morgens fiel flach und ohne Kraft über das Meer, das als undurchdringliche schwarze Fläche in der Bucht vor ihr lag. Von der Brandung war bis auf ein verschämtes Rauschen, das sie sich vielleicht bloß einbildete, nichts zu hören. Unten am Strand, der zu Jakes Grund gehörte, war das Donnern so gewaltig, dass es unmöglich war, sich in normaler Lautstärke zu unterhalten. Bei ihrem letzten Strandspaziergang hatten sie Treibholz für die Windspiele gesammelt, die sie seit einigen Wochen machte, und Muscheln aus Seetangmatten geklaubt, aus denen Wolken schwarzer Fliegen aufstiegen. Angespülte Schaumfetzen hatten in der Sonne geglitzert. Der hinterste Abschnitt des Strandes diente als Rastplatz für Zugvögel, die Felsen waren weiß von ihrem Kot.

Jake schmatzte im Schlaf, lächelnd, das Gesicht schutzlos entspannt. Sie betrachtete die Krähenfüße um seine Augen, die grauen Haare an den Schläfen und die winzige Narbe am Kinn, von der sie noch immer nicht wusste, woher sie stammte. Seine Blechgitarre stand bedenklich schräg in ihrem Gestell, und sie fragte sich, wann er zuletzt darauf gespielt hatte. Langsam wurde das Licht über der Bucht gespenstisch gelb, sie sah, wie aufgewühlt der Atlantik war und wo er aufhörte und wo der Himmel anfing. Es war kühl im Raum, fröstelnd ließ sie ihren Blick über die Tonfigur auf der Kommode, den Stapel Langspielplatten an der Wand, ihre Schuhe und Jakes Bikerstiefel auf dem weiß gestrichenen Bretterboden gleiten. Gestern Abend hatte sie auch im Southend Grocery Store keine Zitronen erhalten und darum im Hannaford vor Camden haltmachen müssen; Jake hatte kein Wort darüber verloren, dass sie beinahe eine halbe Stunde zu spät gekommen war. Gemeinsam hatten sie die Muscheln und einen Salat zubereitet und sich später auf dem Sofa im Wohnzimmer seines Cottages Mud mit Matthew McConaughey in der Hauptrolle auf DVD angesehen, in dem Sam Shepard eine seiner letzten Filmrollen spielte.

Das Laken war kühl, das Bettzeug duftete nach Jasmin. Sie spürte ihren Pulsschlag in der Schläfe, den Anflug von Kopfschmerzen; das Wetter schlug um, der Sommer war wohl vorbei. Nach dem Film hatte Jake von einem Flug von Boston nach Seattle erzählt, auf dem die unbekannte Frau, die neben ihm saß, ihn fragte, ob sie während der Landung seine Hand halten dürfte. Nachdem die Maschine sicher auf der Landebahn aufgesetzt hatte, waren sie schweigend Hand in Hand sitzen geblieben; nach einer Weile hatte sie ihren Sicherheitsgurt gelöst und war ohne sich zu verabschieden ausgestiegen.

Corinna verspürte den Wunsch, Jake über Wangen und Kinn zu streichen, wie sie es machte, wenn sie ihm das Sägemehl des Holzes, aus dem er seine Gitarren baute, aus den Bartstoppeln wischte, doch sie wollte ihn nicht wecken und stieg vorsichtig aus dem aus Eisenbahnschwellen gezimmerten Bett, schlich auf Zehenspitzen ins kleine Bad, setzte sich auf die Toilette, löste mit angehaltenem Atem Wasser, als mache das ihr Plätschern unhörbar, und sah dabei aufs Meer hinaus. Die Wellen trugen Silberkronen, weit, weit draußen glitt eine Fähre vorbei, ein Koloss im dunklen Wasser, undeutlich wie ein Geisterschiff in einem Traum.

Bevor sie sich hinlegte, warf sie einen Blick aus dem Fenster hinter dem Bett: Die Straße glänzte im Regen, sie hörte das Geräusch von Reifen auf nassem Asphalt, ohne irgendwo ein Auto zu sehen. Obschon kein Sonnenlicht die Bäume traf, schien der Wald jenseits der Straße vor lauter Farben zu explodieren. Das Rot war von unglaublicher Intensität und leuchtete, als stehe es unter Strom. Noch vor wenigen Tagen waren die Blätter grün gewesen, nun war der Wald ein endloses Meer in satten Bunttönen, Rot, Gelb und Orange, das im Wind hin und her wogte.

»Steht ihr Schweizer immer so früh auf?«

Sie hatte nicht bemerkt, dass Jake erwacht war; er lag auf dem Rücken, die Finger hinter dem Kopf verschränkt. Seine Stimme klang schläfrig, sein Silberblick war so irritierend und aufregend wie am Tag, an dem sie sich in der Buchhandlung Owl & Turtle in Camden begegnet waren. Sie kroch zu ihm unter die Decke und presste sich an ihn.

»Steht ihr Schweizer immer so früh auf?«, fragte er noch einmal.

»Nur die Frauen.«

»Genau wie bei uns.«

»Es regnet.«

»Dann ist es am gemütlichsten hier oben.«

»Wie in einem Zelt.«

»Wird der Wind stärker, ist das da unten bald ein Kessel aus brodelndem Weißwasser«, sagte er und zeigte auf die Bucht. »Die Dünung wühlt den Schlamm auf, und du siehst nicht mal mehr den Grund.«

»Futter für die Fische«, sagte sie.

Er nickte, berührte sie am Schlüsselbein und legte ihr die Hand auf den Arm; seine Finger rochen nach Zitrone, sein Silberarmband auf ihrer Haut war warm und schwer.

»Glaubst du, der Mann ist tot, Co?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber du bist dir sicher, dass er angeschossen wurde?«

»Ganz sicher. Wieso sollten sie sonst alle Wagen kontrollieren, die die Insel verließen?«

Sie hatte ihm ausführlich beschrieben, was am vergangenen Abend auf Spruce Head Island passiert war, und die Reifenspuren und das Loch im Kies erwähnt, das ziemlich sicher von einem Motorradständer stammte.

»In der Schweiz ist es bestimmt nicht so einfach, an eine Schusswaffe zu kommen wie bei uns, richtig?«

»Allzu schwierig ist es nicht. An die 800000 sind registriert, dabei gibt es geschätzte drei Millionen. Hast du eine Waffe?«

»Früher hatte ich eine, ja.«

»Und heute?«

»Nicht mehr.«

»Eine Pistole oder ein Gewehr?«

»Ist doch egal. Und du, Co?«

»Ich hab meine Pistole abgegeben, als ich den Dienst quittierte.«

Sie fragte sich, ob sie ihm erzählen solle, wie gern und gut sie geschossen hatte, war sich aber nicht sicher, was das für ein Licht auf sie warf, und verschwieg es.

»Meine Tochter Patti Lee hat uns zu Thanksgiving eingeladen.«

»Die Ärztin?«, fragte sie.

»Amy ist die Ärztin. Die Jüngere. Patti Lee ist Violinistin.«

»In welchem Orchester spielt sie noch mal?«

»Boston Symphony Orchestra.«

Er strich ihr mit dem Zeigefinger über die Nasenkuppe und die Brauen, als wolle er sich versichern, dass sie tatsächlich neben ihm in seinem Bett lag.

»Wie alt ist Patti Lee?«

»Vierunddreißig. Sie möchte dich gern kennenlernen. Begleitest du mich?«

»Gerne, Jake. Wann ist Thanksgiving?«

»Am letzten Donnerstag im November. Am 28.«

Ihr Sohn Thomas und seine schwangere Freundin Charlotte hatten im Juli zwei Wochen Ferien in Maine gemacht, und sie waren zwei Mal mit Jake zum Abendessen zusammengekommen; an einem wolkenlosen Tag waren sie frühmorgens mit dem Segelboot eines seiner Freunde in See gestochen und hatten einen unbeschwerten Tag auf der Künstlerinsel Moneghan verbracht.

»Als Kind hat Tom es geliebt, Löcher zu graben.«

»Das tun alle Jungen.«

»Er war fasziniert, wie schnell sich seine Fußspuren im Sand mit Wasser füllten, und hat mit dem Schäufelchen unermüdlich ein Loch nach dem anderen gegraben, nur um zuzusehen, wie sie volllaufen.«

»Amy hat nie Sandburgen gebaut, immer nur Türme, Türme, Türme. Je höher, desto besser. Wer weiß, vielleicht hab ich das hier«, er zeigte mit dem Zeigefinger um sich, »auch wegen ihr gebaut. Meinen Turm.«

»Tom hat mich gefragt, ob Dinge genau wie Menschen Wünsche haben.«

»Möchte Schnee schwitzen?«, fragte er lachend. »So was?«

»Genau. Wäre Salz gern süß?«

»Will eine Kugel aus der Pistole fliegen? Wie alt war er da?«

»Sieben. Will der Spiegel, dass man sich in ihm betrachtet!«

»Großartig! Soll ich Musik anmachen?«

Sie nickte und sah zu, wie er die Beine aus dem Bett schwang, auf allen vieren zu den LPs hinüberkroch, als wolle er sie auf den Arm nehmen, den Plattenstapel durchblätterte, eine herauszog und sie auflegte. Neben dem Namen Daniel Lanois war auf der Hülle das Schwarz-Weiß-Foto eines gut aussehenden, geheimnisvoll lächelnden Mannes abgebildet, der sie an einen Indianer erinnerte.

»Weißt du, was meine Frau nach ihrer letzten Affäre zu mir sagte? ›Ich habe es für uns getan!‹«

»Ich habe es für uns getan? Ernsthaft?«

Daniel Lanois Stimme löste Bilder in ihr aus, die sie ablenkten, Bilder, die sie irritierten; sie sah einen breiten dunklen Strom, der träge an ihr vorbeifloss, sah ein Floß, auf dem sie saß, dabei stand sie doch am Ufer.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jake.

»Die Musik gefällt mir. Ich habe es für uns getan? Hat sie das wirklich gesagt?«

»Ich hab die idiotische Ausrede in jedem Streit gebraucht. Wenn ich besoffen war: Ich habe es für uns getan! Wenn ich die Nerven verlor: Ich habe es für uns getan! Als ich unser Auto zu Schrott fuhr: Ich habe es für uns getan!«

»In den zwei Wochen vor seinem Unfall hat Michael die Zahnpastatube nicht mehr zugemacht, in Zimmern das Licht brennen lassen, dauernd seine Schlüssel verlegt und gelächelt, immer nur gelächelt. Als wüsste er was, was ich nicht weiß.«

»Entschuldige bitte, wenn ich das frage, Co, aber war es ganz bestimmt ein Unfall?«

»Weißt du, wie oft ich mich das gefragt habe?«

»Und? War es ein Unfall?«

»Ich denke schon, ja. Die erste Zeit danach habe ich mich gefühlt wie der Schatten, den mein toter Michael wirft.«

 

Offenbar war Ebbe, jedenfalls bemerkte sie Fels- und Sandbänke, die ihr bisher nicht aufgefallen waren, an denen sich die hereinrollenden Wellen brachen. Die aufspritzende Gischt wirkte, als sei sie in der Bewegung erstarrt und in der Luft festgefroren, so dicht folgten die Sets der Wellen aufeinander.

»Gibt es Sturm?«

Jake schüttelte den Kopf, räusperte sich und schob die Decke von sich; er roch nach Holz und ganz leicht nach Schweiß.

»Auflaufende Flut, kaum Wind, kein Grund zur Sorge. Vor einem Sturm sieht’s anders aus.«

Die Wellen bauten sich aus dem Nichts auf und krachten mit dumpfem Knallen auf die Felsbänke. Die Fähre war verschwunden, dafür kämpfte sich ein Zodiak durch die kabbelige See.

»Seit wann rauchst du eigentlich wieder?«, fragte Jake leichthin.

»Rauch ich?«

»Ach komm, Co! Für jede Zigarette, die du rauchst, nimmt Gott dir zehn Minuten weg.«

»Eine, manchmal zwei am Tag, mehr nicht, Herr Lehrer.«

»Zehn Minuten, die er Keith Richards gibt.«

»Ich glaube nicht an Gott, Jake.«

»Und an die Stones?«

»Ich bin Beatles-Fan!«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Paul McCartney raucht. Du?«

Sie schüttelte den Kopf und strich ihm mit der flachen Hand über den nackten Rücken.

»Was hast du damals eigentlich in Seattle gemacht, Jake?«

»Einen Musiker besucht, für den ich eine Zwölfsaitige baute.«

»Berühmt?«

»Ein Studiomusiker und großartiger Gitarrist, den keiner kennt. Er hat mir erklärt, was für ihn die wichtigsten Werte sind: Mut. Tapferkeit. Und Sanftheit. Mutig alles in die Hand nehmen, tapfer das Scheitern ertragen und sanft sein zu Mensch und Tier. Ein halbes Jahr später war er tot. Herzinfarkt.«

Auf einen Schlag wurde es hell im Zimmer, und sie hoben gleichzeitig die Köpfe und sahen aus dem Fenster: Die Morgensonne stand jetzt hoch genug, um das Wasser zu treffen und in eine grell blitzende Fläche zu verwandeln.

»Hungrig?«, fragte Jake.

»Allerdings.«

Sie strampelte die Decke zum Fußende des Bettes, setzte sich auf ihn und zog sich das T-Shirt über den Kopf.

Kurz nach zehn traten sie aus Jakes Cottage; sie hatten gefrühstückt, nun wollte er an die Arbeit: Die Gitarre für einen Musiker aus Boston musste fertig werden. Sie umarmten und küssten sich im dichten Nieselregen vor der Werkstatttür und vereinbarten, abends zu telefonieren.

Im knöchelhohen Gras der Wiese neben ihrem Auto lag ein Ast, geschält von Wind und Wetter, dessen eigenartige Form ihr gefiel. Als sie sich danach bückte, fing es sturzbachartig an zu regnen, und sie ließ den Ast liegen und setzte sich ins Auto, ohne den Motor zu starten, um mit dem Geräusch des Regens auf dem Dach alleine zu sein. Doch sie musste den Ast mitnehmen, er passte in eines ihrer Windspiele, die der Grasshopper Shop in Rockland zu ihrer Überraschung in sein Sortiment aufgenommen hatte. Sie fädelte papierdünne Bruchstücke von Wespennestern, Bündel von Schafgarbe, getrockneten Seetang, Zweige, Äste, Muscheln und Treibholz auf dünnen Draht.

Zwei Vögel strichen dicht über die Baumwipfel auf der anderen Seite der Straße, Schwinge an Schwinge, Saatkrähen, wie sie vermutete. Schmale, vorgeschichtliche Schatten unter dem Regenhimmel, die ohne einen Ton ins Landesinnere flogen.

4 Auge um Auge

Leah Tucker fuhr ihren El Monte vorsichtig an den äußersten Rand des Grundstückes ihres Sohnes J, machte den Motor aus und blieb am Steuer sitzen, ohne sich zu rühren. Sie war müde, denn sie hatte schlecht und nur oberflächlich geschlafen.

Sie war vor wenigen Tagen aus New Hampshire angereist, wo sie zwei Wochen im Fahrgeschäft des Vergnügungsparkes Story Land gearbeitet hatte, aber das betrunkene Gegröle ihres Sohnes und seiner Kumpel und der monotone Death-Metal, den sie hörten, gingen ihr bereits so sehr auf die Nerven, dass sie darüber nachgedacht hatte, früher aus Maine abzureisen, statt wie geplant bis Dezember auf dem Grundstück ihres Sohnes stehen zu bleiben, wo sie gratis Strom beziehen und ihre beiden Wassertanks auffüllen konnte. Im Dezember würde sie wie schon seit vier Jahren zum »Amazombie« werden und in Campellsville in Kentucky im Amazon-Warenlager arbeiten. Danach würde sie nach Quartzside in Arizona fahren, um die Wintermonate wie gewohnt im Wohnmobilpark Coyote Flat zu verbringen. In Quartzside gab es ein Kaugummimuseum mit Kaugummis aus aller Welt, vielleicht schaffte sie es diesmal endlich, es zu besuchen.

Hoffentlich konnte sie am neuen Standplatz am Rand des Grundstückes besser schlafen und brauchte nicht abzureisen; sie war ausgelaugt und auf die Erholung vor der anstrengenden Arbeit bei Amazon angewiesen. Die Erde unter der mageren Grasnarbe war fest und trocken, die Gefahr, dass ihr schweres Mobil einsank und festsaß, selbst bei heftigem Regen, gering. Sie blieb hinter dem Steuer sitzen und achtete angestrengt darauf, ob der Lärm aus dem Haus hier weniger gut zu hören war. Während sie lauschte, ertastete sie eine einzelne Eichel in der Tasche ihres Parkas, die in ihrem Becher steckte, und erinnerte sich an den Satz ihres Vaters, den er jedes Jahr zum Besten gegeben hatte: »Jede Eichel passt nur in ihren eigenen Becher, in keinen anderen, stellt euch vor, Mädels!«

Was wohl aus ihrer Schwester Roxanne geworden war? Als sie vor neun Jahren das letzte Mal in einem staubigen Kaff in New Mexico ein paar Tage zusammen verbrachten, hatten sie sich nur in den Haaren gelegen und festgestellt, dass sie sich nichts zu sagen hatten und sich eigentlich nicht mochten. Roxanne hatte in einem Striplokal an der Bar gearbeitet und jede Nacht einen anderen Mann in ihre Wohnung abgeschleppt, in der die Klimaanlage kaum für Abkühlung sorgte, abgekämpfte zynische Kerle, die sie mit misstrauischen Blicken musterten.

Sollte sie das Fenster nach unten drehen, um den Lärmpegel zu prüfen? Sie nahm die Eichel aus der Parkatasche, musste sie aber dicht vors Gesicht halten, um sie sich genau anzusehen, weil die Lesebrille auf dem Esstisch ihres Campers lag und sie zu erschöpft war, sie zu holen. Wie sie nicht anders erwartet hatte, war das Haus ihres Sohnes schmutzig und in schlechtem Zustand. Auch um den Garten hatte er sich offenbar lange nicht gekümmert: Das Gras war an mehreren Stellen von offenen Feuerstellen verbrannt und ansonsten ungemäht, die Hecken hatte er bestimmt noch nie zurechtgeschnitten. In den Büschen, die den hinteren Teil seines Landstückes begrenzten, hing Abfall, das Dachgestänge der Hollywoodschaukel war gebrochen, das Stoffdach hing schief über der Sitzfläche und war wie ein Fangnetz mit Blättern umstehender Bäume gefüllt.

Seit sie in Vermont Himbeeren gepflückt hatte, taten ihr die Kniegelenke und Unterarme weh, und sie kam nur mit Mühe aus dem hydraulischen Fahrersessel hoch. Im Wohnbereich öffnete sie den Kühlschrank, aber es war keine einzige Flasche Budweiser mehr da. Sie würde morgen früh für einen Großeinkauf zu Walmart fahren und danach in einem der vielen Lokale in Rockland einen Cappuccino trinken. Auch das Frostfutter für ihre Königspython Slash ging zur Neige; sie musste dringend Nachschub im Internet bestellen. Es war aufwendig gewesen, das große Terrarium zwischen Küchenkombination und Sitznische in die Wand einpassen zu lassen; sie hatte das sechsjährige Schlangenweibchen, mittlerweile war es beinah zwei Meter lang und annähernd drei Kilogramm schwer, vor fünf Jahren bei einem Reptilienhändler in Texas gekauft, den Ford Chevrolet El Monte besaß sie seit dreieinhalb Jahren.

Seit die Schlange ausgewachsen war, war sie ihr manchmal unheimlich, und sie war froh, schlief sie im Alkoven über der Fahrerkabine, weit weg vom Terrarium, das sie ab und zu zusätzlich mit einem Tuch verhängte, um die Python nicht sehen zu müssen.

Sie war hungrig, aber zu träge, um zu kochen, kämpfte sich aus ihrem hydraulischen Fahrersitz, riss eine Familienpackung Chips auf, stellte Mac and Cheese in die Mikrowelle und öffnete den Weißwein, den sie bei einer Party ihres Sohnes hatte mitgehen lassen. Ihr Fernseher hatte keinen Empfang, und sie ging ihre DVD-Sammlung durch, obwohl sie die meisten Filme schon so oft gesehen hatte, dass sie viele Dialoge auswendig mitsprechen konnte. Sie entschied sich für Out of The Furnace mit ihrem Lieblingsschauspieler Woody Harrelson, schaltete die neue Lavalampe an, drehte alle anderen Lichter aus und machte es sich mit den Käsemakkaroni, den Chips und dem Wein auf dem Sofa bequem und startete den Film.

5 Ein Detective mit Gipsfuß

Detective Robinson hatte einen Tick, der Corinna Holder bei seinem ersten Besuch nicht aufgefallen war: Vor jeder Frage zuckte er mit den Augen, ließ seinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen und sah dann für einen Moment abwesend in die Ferne. Damals hatte er sie befragt, weil sie Norman Dunbars Leiche gefunden hatte, heute wollte er wissen, ob sie den Schuss gehört hatte und was ihr aufgefallen war. Während er zuhörte, zeichnete er mit dem Zeigefinger Spiralen auf das rechte Bein seiner beigen Stoffhose. Seine Nase war so markant, dass sie einen Schatten auf seine Kinnpartie warf.

»Das Motorrad fuhr Richtung Norden. Richtig?«

»Wie gesagt, ja.«

»Wieso vermuten Sie, dass der Schuss von einem Gewehr und nicht von einer Pistole abgegeben worden ist?«

Seine blaue Krawatte schillerte, als bestehe sie aus lauter Schuppen wie ein Fisch, sein weißes Hemd war ungebügelt.

»Weil ich mich mit Schusswaffen auskenne.«

»Als ehemalige Polizistin, meinen Sie?«

»Ehemalige Kriminalpolizistin, Detective.«

»Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?«

Sie schüttelte den Kopf und schenkte ihm ungefragt Kaffee nach. Beim letzten Besuch hatte er ihn gerühmt, heute ging er nicht darauf ein. Sie hatte sich vom Rand des Steinbruchs ferngehalten und war auch nicht zum Hafen hinuntergefahren, wo man das Areal von Norwood Lobster ungehindert einsehen konnte. Sie wollte sich so gut als möglich aus der Sache heraushalten.

»Sportunfall?«, fragte sie und zeigte auf seinen eingegipsten rechten Fuß.

»Nicht der Rede wert«, sagte er, machte eine abschätzige Handbewegung und nickte, als wolle er sich selbst bestätigen.

Durfte sie nachhaken? War er von der Leiter gefallen? Hatte er sich den Fuß bei einem Einsatz gebrochen? Sein Blick war verhuscht und leicht verschwommen, wahrscheinlich von Schmerztabletten, die er einnahm. Sie warf einen Blick zum Bücherregal; hinter den Romanen von Albert Camus und Carlos Castaneda hatte sie früher das Xanax versteckt. Sie hatte die Bücher noch immer nicht gelesen, obwohl sie sich geschworen hatte, es zu tun, sollte sie je von der Sucht loskommen.

»Sammeln Sie Holz?«, fragte er und zeigte auf den Ast von Jakes Wiese, der auf dem Couchtischchen lag.

»Unter anderem«, sagte sie knapp und versuchte, das belustigte Grinsen auf seinem Gesicht zu ignorieren.

»Gesehen haben Sie niemanden?«

»Nein. Wie geht es dem Mann?«

»Er ist heute Nacht gestorben.«

»Wird jetzt die Maine State Police eingeschaltet?«

Er trank einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse auf den Unterteller zurück und ließ sich seufzend zurücksinken. Der Rücken seiner rechten Hand war rot, als habe er sich vor Kurzem gekratzt.

»Warum nicht gleich das FBI?«

Seine Stimme hatte jetzt einen pikierten, beinahe verärgerten Unterton, er fühlte sich in seiner Ehre gekränkt.

»Ich kenne mich nicht aus mit den amerikanischen Gepflogenheiten.«

»Wir sind hier in Maine.«

»Nicht in Amerika?«

»Ach, ihr Europäer«, sagte er spöttisch und stand auf.

Dass Robinson ihr tatrelevante Hinweise verriet, etwa welche Handys in der Nähe des Tatortes eingeloggt gewesen waren oder ob eine Patrone gefunden worden war, hatte sie nicht erwartet, doch sein unfreundliches Verhalten erstaunte sie.

»Ich bin übrigens Detective Sergeant. Nicht bloß Detective.«

Er legte die Hand ans Revers seines Jacketts, zupfte daran, als sei es ihm zu eng, und reichte ihr die Hand. Sein Atem roch nach Kaffee und nach Erdbeeren, wahrscheinlich hatte er Kaugummi gekaut, bevor er an ihre Tür geklopft hatte. Wo hatte er ihn entsorgt?

»Das wusste ich nicht, Verzeihung, Detective Sergeant.«

Bevor sie Robinson zu seinem zivilen Einsatzwagen begleitete, warf sie einen Blick auf die Küchenuhr: 15:15. In letzter Zeit sah sie auffällig oft genau dann auf Uhren, wenn sich die Ziffern deckten. 11:11. 14:14. 22:22. Zufall? Oder hatte es eine Bedeutung?

 

Der böige Wind, der das Regenwetter vertrieben hatte, war unangenehm kühl und brachte eine erste Vorahnung des Winters mit sich. Detective Sergeant Robinson nahm das Blaulicht vom Armaturenbrett, legte es auf den Beifahrersitz und setzte seinen Grand Cherokee schwungvoll auf die Rockledge Road zurück. Bevor er losfuhr, nickte er ihr mit ernster Miene zu, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zu nicken. Die untere Hälfte des Heckfensters war beschlagen, ein Draht der Scheibenheizung klar zu erkennen. Im Haus von David Byrd auf der anderen Straßenseite stand die Tür zum Deck weit offen, zu sehen war jedoch niemand. Die vom Morgenregen gewaschene Luft roch nach Salz, feuchter Erde und Fichten. Herbstlicht fiel gefiltert durch die Stämme der Bäume und legte Streifen auf die Straße.

Vor ein paar Tagen hatte sie Michaels T-Shirt, das sie lange als Pyjama getragen hatte, ohne nachzudenken in einen Abfallsack gestopft, um es endlich zu entsorgen. Aber dann hatte sie den Sack in letzter Sekunde, gerade als sich die hydraulische Presse in Bewegung setzte, wieder aus dem Container der Müllsammelstelle in South Thomaston gezerrt und das T-Shirt herausgesucht. Sie hatte es gewaschen, gebügelt und in die unterste Schublade ihrer Kleiderkommode gelegt. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, es je wieder zu tragen, aber sie brachte es auch nicht übers Herz, es wegzuwerfen.

Sie ging hinters Haus, um nach ihrem Garten zu sehen, und schaffte es zwar, sich vom Rand des Steinbruches fernzuhalten, achtete aber doch auf verdächtige Geräusche. War die Untersuchung des Tatortes bereits abgeschlossen, das Zelt der Forensiker abgebaut? Das Gras musste dieses Jahr noch mindestens einmal geschnitten werden, aber sie hatte keine Lust darauf und ging ins Haus zurück.

Die Vorstellung, den Rest des Nachmittages sowie den Abend alleine zu verbringen, machte ihr Angst, und sie beschloss, Maggie zu besuchen. Sie nahm das Gefäß mit dem Rest des Rindsgulaschs aus dem Tiefkühlfach, das sie letzte Woche für Jake gekocht hatte: Sie würde es als Geschenk mitbringen. Sie schlüpfte in eine Fleecejacke und zog sich eine Baseballkappe der Red Sox über, die ihr Sohn Thomas ihr zum Scherz aus Boston mitgebracht hatte, weil er wusste, dass sie die Regeln des Spieles nicht verstand, obwohl Michael sie ihr wieder und wieder erklärt hatte.

Wie sie es aus der Schweiz gewohnt war, ging sie am Rand der linken Fahrspur der Island Road; zwischen den Bäumen war es etwas wärmer, sie hörte das Krachen von Ästen, die vom Wind gegeneinandergeworfen wurden. Am Rand der Fahrbahn lagen ein zerfetztes Reifenstück, später eine zerknüllte Bierdose und die Kartonverpackung eines Hamburgers, noch später das blutige Fellbündel eines überfahrenen Tieres, unmöglich zu bestimmen. Das erste Auto überholte sie erst, als sie die Bufflehead Road schon beinahe erreicht hatte, an der Maggie wohnte: Der Pick-up gehörte einem Lobsterman, der als Drughead bekannt war. Er hupte und tippte, da sie nicht darauf reagierte, auf die Bremse, fuhr dann aber doch weiter, allerdings in wilden Schlangenlinien, sobald er auf der Brücke war. Etwas flog aus dem Fahrerfenster übers Geländer und klatschte ins Meer.

Sie bog auf die Bufflehead Road und fiel in leichten Laufschritt; gewisse Lobsterfischer verstanden keinen Spaß, wenn sie sich zu wenig beachtet fühlten, drehten um und verwickelten einen in unangenehme Gespräche. Der Vorplatz des Hauses mit dem besten Blick auf die Baum Bay war mit Unkraut überwachsen, im Carport stapelten sich Umzugskartons. War das Haus schon wieder verkauft worden? Nebelschwaden trieben übers Wasser, vom Wind in die Bucht gedrückt, von Rackliff Island war nur die Linie der Baumwipfel zu sehen. Die Straße lag still vor ihr, und sie ging jetzt wieder langsamer. Die Plastiktüte schnitt ihr in die Hand, das Gulasch war schwer. Ab und zu hörte sie ein Auto über die Brücke fahren; das Geräusch der Reifen auf dem gerillten Asphalt klang wie eine Spielzeugtrommel aus Blech, die jemand schnell oder langsam schlug, je nach Tempo des Autos.

Maggie saß auf der Veranda ihres hellgrün gestrichenen Hauses; als sie Corinna sah, stand sie auf und winkte, kam ihr aber nicht entgegen. Die Hühner im Drahtverhau, an dem sie vorbeiging, stoben auseinander, das Dach des Toyota Corolla vor dem Schuppen war mit Pfotenabdrücken übersät. In der Wiese lag ein zusammengerollter grüner Gartenschlauch. Corinna blieb vor dem Deck stehen und schwenkte die Tüte mit dem Gulasch hin und her.

»Ich hab dir was zum Futtern mitgebracht.«

»Gutes Mädchen!«

»Du musst jetzt für zwei essen.«

»Mach ich, glaub mir, mach ich. Eher für drei.«

Maggie sah müde aus, ihre roten ungewaschenen Haare waren strähnig.

»Morgens komm ich mir vor, als erwache ich aus einer Narkose. Groggy und völlig erledigt. Komm, setz dich.«

Corinna stieg über die Holztreppe aufs Deck, nahm Maggie in den Arm und setzte sich auf einen der zwei Gartenstühle. Der Boden des Decks war frisch gestrichen, und sie hatte die unangenehme Vorstellung, die Sohlen ihrer Schuhe lösten sich mit leisem Schmatzen.

»Die Müdigkeit gibt sich, glaub mir. Trinkst du genug?«

»Mehr als genug!«

»Und mit der Raucherei hast du aufgehört?«

»Ja!«

»Ganz?«

»Ja, Frau Polizistin! Ganz! Und du?«

»Ich bin nicht schwanger, Maggie. Ich darf rauchen.«

Auf der mit Gaffer-Tape zusammengeflickten Haube des Gasgrills lag ein aufgeschlagenes Buch neben einer Tasse, aus der es schwach dampfte.

»Seit wann kannst du lesen?«

»Ich schau mir nur die Bildchen an. Wie geht es Jake?«

»Bestens. Wie macht sich dein Ray?«

»Schlecht. Er taugt nicht fürs Leben hinter Gittern.«

»Das tut keiner. Wann kommt er noch mal raus?«

»In drei Monaten. Wenn er keinen Scheiß baut.«

»Du bist im siebten Monat, ja?«

Maggie nickte und ließ sich vorsichtig auf den anderen Stuhl sinken, den Bauch mit beiden Händen stützend.

»Dann verpasst er die Geburt von Janis.«

»So ist es.«

»Hast du ihm den Namen jetzt verraten?«

»Einem Kerl, der die Geburt seiner ersten Tochter verpasst, weil er Mist gebaut hat? Spinnst du? Kaffee?«

Sie nickte, half Maggie auf die Beine und folgte ihr ins Haus, obschon sie lieber draußen geblieben wäre; die Fliegengittertür girrte und knallte ihr in den Rücken, als sie zufiel. In der dämmrigen Küche war es warm, die Heizung wahrscheinlich schon eingeschaltet. Maggie nahm zwei Tassen aus dem Schrank, füllte sie mit Kaffee aus der Filtermaschine und stellte sie auf die Frühstückstheke.

»Meine Mutter hat mich Kürbis genannt, bis ich etwa zwölf war. Hattest du auch einen Übernamen?«

»Chnuschti«, sagte Corinna und setzte sich auf einen Barhocker.

»Und das bedeutet?«

»Schwierig zu übersetzen. Komischer Kauz. Komplizierter Mensch. So ähnlich. Hast du Milch?«

Maggie stand auf, nahm eine Plastikflasche Milch aus dem Kühlschrank, trat ans Fenster und gähnte. Die Brotbüchse auf der Ablage stand offen, aber Corinna konnte nicht sehen, ob sie voll war. Das Chillum daneben gehörte hoffentlich Ray, nicht Maggie.

»Mir ist weniger oft übel, dafür schlaf ich schlechter. Viel schlechter. Ist das normal?«

»War bei mir genauso. Meine Füße waren so geschwollen, ich musste orthopädische Schuhe tragen.«

»Sexy!«

»Fand Michael auch. Er hat mir gleich vier Paar gekauft.«

»Ich komm mir vor wie ein verstopfter Walfisch!«

Maggie zog die Gardine auf und sah ins Freie; ein Spaltbreit Licht fiel in die Küche, reichte aber nicht bis zur Theke. An der Scheibe klebte ein Thermometer an einem Saugnapf, dessen Spitze im Licht leuchtete.

»Arbeitest du noch bei Betsy im Café?«

»Sie hat nur noch Freitag und Samstag geöffnet. Der Sommer ist vorbei. Im Mai fang ich wieder bei ihr an.«

»Hast du vom Mord auf der Insel gehört?«

»Ich hab sogar den Schuss gehört, Maggie.«

»Er hieß Rick Cole, sechsunddreißig, Vater von zwei Kindern.«