Hypnose und Achtsamkeit in der Psychoonkologie

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5.2Individuelle Leidenserfahrungen als Ausgangspunkt und Basis der Kooperation

Üblicherweise erklärt sich die Medizin (nur) für all das zuständig, was als krank definiert wird. Im psychischen Bereich wären das Leidenszustände, denen sich psychiatrische Diagnosen zuordnen lassen. In Ergänzung zu dieser oft als Stigmatisierung erlebten Betrachtungsweise wollen wir die Aufmerksamkeit auf das subjektive Erleben der Betroffenen lenken. Jenseits aller pathologiezentrierten Diagnosesysteme und dichotomisierenden Kategorisierungen wie pathologisch oder normal, wie krank oder gesund, wollen wir möglichst alltagssprachlich beschreiben, was Patienten erfahren, oft ohne es in Worte fassen zu können. Dies betrifft insbesondere die existenzielle Dimension im Erleben einer Krebserkrankung, die meist ausgeblendet wird, auch wenn sie im Hintergrund mitschwingt. Worte für das Erleben zu finden und es dadurch fassbarer zu machen und mit anderen Menschen teilen zu können, wirkt allein oft schon entlastend.

5.2.1Milton H. Erickson: Ein »verwundeter Heiler«

Das Menschenbild der Ericksonschen Hypnotherapie ist geformt durch den außergewöhnlichen und selbstwirksamen Umgang ihres Begründers Milton H. Erickson (1901–1980) mit seinen eigenen Krankheiten und Handicaps. Eine Episode prägte sein Leben und charakterisiert ihn und seine Besonderheit:

Als 17-Jähriger drohte eine Infektion mit dem Poliovirus (Kinderlähmung) auch Miltons Atemmuskulatur zu lähmen, was einem Todesurteil gleichkam. Bewegungsunfähig lag er in seinem Bett auf einer Farm im Mittleren Westen der USA. Er hörte mit, wie seinen Eltern vom Arzt eröffnet wurde, dass er wohl den Sonnenaufgang am nächsten Morgen nicht erleben werde – ihm sei nicht mehr zu helfen. Mit letzter Kraft bat er seine Eltern, sein Bett so zu positionieren, dass er beim Fenster hinaus nach Osten schauen konnte. Da es nicht möglich war, das Bett so weit zu drehen, richteten sie eine Kommode mit einem Spiegel so aus, dass sich darin das Fenster spiegelte, durch das er nach Osten schauen konnte. Das war dann der Fokus, den Milton die ganze Nacht hindurch bis zum Morgen im Auge hatte. Seinen Blick richtete er kontinuierlich in die gewünschte Zukunft mit dem Ziel, den Sonnenaufgang zu erleben (Klein 2010). Entgegen allen Erwartungen erlebte er den Morgen und fiel dann in einen langen, komatösen Schlaf.

Als er wieder erwachte, war er bis zum Hals gelähmt. In der folgenden Zeit setzte seine Familie ihn tagsüber in den Schaukelstuhl, in dem er stundenlang völlig bewegungslos saß. Der mit allen Fasern seines Körpers gespürte Wunsch, wenigstens aus dem Fenster schauen zu können, soll dazu geführt haben, dass sein Schaukelstuhl sich minimal bewegte. Milton Erickson begann daraufhin systematisch, mit der Erinnerung an das Spüren früherer Bewegungen mental zu arbeiten. So fokussierte er beispielsweise über Stunden seine ganze Aufmerksamkeit auf seine Hand und bemühte sich mit aller Kraft, sich so intensiv wie möglich an konkrete Empfindungen und Bewegungen zu erinnern. Beispielsweise daran, wie es ist, eine Heugabel in den Händen zu halten. Anfangs stellten sich minimale, völlig unkoordinierte, ruckartige Bewegungen ein. Mit der Zeit begannen sich seine Finger koordinierter zu bewegen, und die Kraft nahm zu.

Legendär ist die Kanutour, die er im folgenden Sommer allein auf einem Fluss mit vielen Staustufen unternahm. Zunächst war er auf Hilfe angewiesen, weil seine Beine weder sein eigenes Gewicht noch das Kanu tragen konnten. Er hatte sein Abenteuer mit Krücken begonnen, am Ende der Tour brauchte er sie nicht mehr. Er hatte wieder gelernt, ohne Unterstützung zu gehen.

Sein ganzes Leben lang übte und verfeinerte Milton Erickson seine Fähigkeit, Dinge zu nehmen, wie sie kommen, und das Beste daraus zu machen, auch bei weiteren großen gesundheitlichen und persönlichen Herausforderungen (vgl. Peter 1987). In seinen letzten Lebensjahren hielt er im Rollstuhl sitzend seine Lehrseminare trotz starker Schmerzen ab. Seine gesammelten Werke (in dt. Übersetzung: Rossi u. Erickson 2015) weisen ihn als einflussreichen Genius aus. Er hat nicht nur die zeitgenössischen Auffassungen von Hypnose geprägt, sondern trug auch zur Weiterentwicklung der Psychotherapie im Allgemeinen wesentlich bei. So gilt es beispielsweise heute in fast allen Schulen und Methoden als selbstverständlich, sich an Ressourcen zu orientieren und eine systemische Perspektive einzunehmen. Erzählungen über Erickson lassen Bilder vom Archetyp des »verwundeten Heilers« anklingen.

5.2.2Wege zur Diagnose

Wie Menschen auf die Diagnose einer Krebserkrankung reagieren, hängt von vielen Faktoren ab: welche Mythen sie über Krebs verinnerlicht haben, welche persönlichen Vorerfahrungen – insbesondere mit dem Schicksal von nahen Angehörigen – sie mit dem Thema verbinden und auch welcher Weg zur Diagnose geführt hat. In einem Extremfall fehlt ein vorbereitender Weg, nämlich dann, wenn es sich um eine Zufallsdiagnose handelt – wenn Menschen z. B. aus einem anderen Grund einen Arzt aufsuchen und bei ihnen dann völlig unerwartet eine Krebserkrankung diagnostiziert wird. In einem anderen Extremfall haben kranke Patienten eine lange Odyssee hinter sich, eine Reise durch das Medizinsystem, auf der die Suche nach einer Ursache von Symptomen lange erfolglos blieb. Diese Suche ist mit quälender Unsicherheit verbunden, nicht selten auch mit Enttäuschungen, Kränkungen oder der Angst, als Hypochonder dargestellt zu werden.

Im Fall eines Zufallsbefundes ist die Diagnose ausschließlich eine Katastrophe. Im anderen Fall oder nach Phasen langer Verunsicherung wird die Mitteilung ambivalent erlebt oder – bei allem Schlimmen – oft gar als Erleichterung empfunden, endlich zu wissen, was los ist. Es wird dadurch klarer, worauf man sich einzustellen hat und was die nächsten Schritte sind, mit denen man aktiv zur Bewältigung der Herausforderungen beitragen kann.

Der wohl häufigste Weg zur Diagnose beginnt bei der Entdeckung von Hinweisen auf eine Krebserkrankung, wie eines Knotens in der Brust oder eines wachsenden Muttermals. Die Zeit, die bis zum Aufsuchen eines Arztes verstreicht, hängt hauptsächlich vom subjektiven Krankheitskonzept des Betroffenen ab, also davon, wie er seine Symptome deutet, welche Krankheit er vermutet und was er mit ihr verbindet (S. 117 ff.). Beim Arztbesuch steht dann die Frage im Raum, ob es Krebs ist. Ob und wie diese Frage aufgegriffen wird, führt zu den ersten Weichenstellungen. Auf irgendeine Weise ist der Patient innerlich vorbereitet. Dort gilt es, ihn abzuholen.

Ein immer häufigerer Weg zur Diagnose führt über die sogenannte Krebsvorsorge, die aber in Wirklichkeit eine Maßnahme zur Früherkennung ist. Aufgrund dieser Fehleinschätzung darf es nicht verwundern, dass viele Menschen von einer Krebsdiagnose besonders überrascht werden, obwohl sie doch immer »brav« zur Krebsvorsorge gegangen sind. Wenn etwa bei einer Mammografie ein verdächtiger Befund erhoben und in dessen Folge Krebs diagnostiziert wird, ist das Erleben der Betroffenen auch wieder höchst ambivalent: einerseits der Schock, andererseits die Erleichterung, dass die Diagnose frühzeitig gestellt wurde, und die Erkrankung somit besser behandelbar ist, als wenn sie später erkannt worden wäre. Diese zweite Seite der Medaille wird häufig auch ärztlicherseits betont. Manchmal wird dabei übertrieben dargestellt, was für ein Glück es sei, die Diagnose jetzt schon gestellt zu haben. Das Leiden und die Einschränkungen, die Patienten durch die Therapie erfahren, können dabei ungehört und unverstanden bleiben.

Wie moderne Medizin gleichzeitig Fluch und Segen bedeuten kann, zeigt sich insbesondere in jenen Fällen, in denen einschneidende »therapeutische« Maßnahmen erfolgen, obwohl sich (noch) keine Krebserkrankung manifestiert hat. Auf diese Weise sind insbesondere jene Frauen betroffen, bei denen aufgrund des gehäuften Auftretens von Krebserkrankungen in der Familie genetische Untersuchungen auf ein erhöhtes Risiko hinweisen, in absehbarer Zeit an Krebs zu erkranken. Die Entscheidung von Frauen mit sehr hohem Erkrankungsrisiko, sich Brüste oder Eierstöcke entfernen zu lassen, um einer lebensbedrohlichen Krebserkrankung vorzubeugen, wird immer höchst zwiespältig bleiben.

In diesem Bereich offenbart sich auch die Problematik des medizinischen Krankheitsbegriffs, der sich durch die Zunahme der diagnostischen Möglichkeiten immer weiter ausdehnt. Die Berechtigung zur eingreifenden Behandlung speist sich aus einem – von einem genetischen Befund abgeleiteten – Konstrukt einer potenziellen Krankheit. Subjektiv fühlten sich diese Frauen bis zum Zeitpunkt der Mitteilung in der Regel gesund. Erst durch den Befund werden sie als (potenziell) krank definiert. Die therapeutischen Maßnahmen bringen Einschränkungen, und es fühlt sich eher so an, als würden die Betroffenen erst durch die Therapie krank (gemacht). Die Problematik, die sich durch das Auseinanderklaffen zwischen den immer subtileren diagnostischen Erkenntnissen der modernen Medizin und dem subjektivem Krankheitserleben ergibt, wird in diesem Beispiel besonders deutlich. Die Medizin behandelt Krankheitsbilder, aber nicht unbedingt das Leiden der Menschen und ihr unmittelbar erfahrenes Kranksein. In diesem Falle schafft sie Leiden, um ein potenzielles – als schlimmer eingeschätztes – Leiden zu verhindern.

5.2.3Sturz aus der normalen Wirklichkeit

In der im Alltag wirksamen und mit anderen Menschen geteilten »normalen« Wirklichkeitskonstruktion gilt stillschweigend die Übereinkunft, dass wir selbst morgen die gleichen sind wie heute und dass auch die Welt morgen noch die gleiche sein wird; dass wir – vielleicht etwas variierend je nach Alter – noch genügend Zeit haben werden, unsere Probleme zu lösen und unsere Wünsche zu erfüllen. Der Tod – oder genauer gesagt: der eigene Tod – hat in der normalen Wirklichkeit vieler Menschen keinen Platz. Diese sind sich der Tatsache in der Regel nicht bewusst, dass sie mit jedem Schritt, den sie tun, auf den eigenen Tod zugehen und er sie eines Tages unwiderruflich ereilen wird. Sie begegnen ihm ohne vorgegebene Handlungsanweisungen und letztlich allein. Im alltäglichen Lebensgefühl gibt man sich gerne der Illusion hin, sich selbst und die Welt einigermaßen im Griff zu haben. Man tut, was man immer tut.

 

Angesichts der Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit und dem eigenen Tod wird diese Illusion der »normalen Wirklichkeit« brüchig. Wenn eine Krebsdiagnose als mögliches Todesurteil empfunden wird, durchdringt die Realität des spürbar nahenden eigenen Todes den Schutzmantel dieser Wirklichkeitskonstruktion. Der bisher bewährten »Wirklichkeit«, die man mit anderen Menschen geteilt und gelebt hat, wird der Boden entzogen.

Oft schwindet die Todesbedrohung aus dem Bewusstsein, wenn Ärzte Hoffnung vermitteln, die Therapie anspricht oder man nach längerer rezidivfreier Zeit zuversichtlich ist, geheilt zu sein. In langen Nächten oder bei der Diagnose von Metastasen mit all den Assoziationen, die dadurch ausgelöst werden, wird die bisher erlebte Sicherheit, Geborgenheit und Planbarkeit des Lebens in vielen Fällen grundlegend erschüttert. »Der Sturz aus der normalen Wirklichkeit« (Gerdes 1984) bleibt als Erfahrung im Hintergrund, auch wenn Betroffene mit aller Kraft versuchen, die vertraute Wirklichkeit zu halten und möglichst viel Normalität wiederherzustellen.

Eine Krebsdiagnose wird oft als abrupter Schnitt oder Bruch in der Kontinuität des Lebens erfahren. Es fühlt sich so an, als ob nichts mehr so weitergehen könne wie bisher, nichts mehr im eigenen Leben normal ist (ebd., S. 22):

»Der Körper nicht, die Zukunftsaussichten nicht, das Zusammenleben oder Alleinsein nicht und auch die ungelösten Konflikte und das verborgene Unglück nicht. Auch die normale Vertröstung auf die Zukunft funktioniert nicht mehr – denn diese Zukunft wird es möglicherweise gar nicht mehr geben. Man ist plötzlich nicht mehr wie die anderen und steht deshalb allein vor dem eigenen Leben.«

Angesichts der schlagartig real gewordenen persönlichen Nähe des Todes werden wie unter einem Brennglas bislang verdeckte Konflikte und unerfüllte Sehnsüchte sichtbar. Oft wirkt die Krebsdiagnose auch wie der letzte Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt. Das Ungelöste und Unerfüllte wird deutlich und drängt in der vielleicht nur noch kurzen verbleibenden Zeit auf Lösung. Manches lässt sich klären und regeln. Oft sind konkrete Lösungen nicht möglich, etwa wenn wesentliche Träume im Leben unerfüllt geblieben sind und auch zukünftig bleiben müssen.

Das Aufwachen in der neuen Wirklichkeit kann zum Hinterfragen all dessen führen, was das bisherige Leben bestimmt hat. Angesichts der möglicherweise nur mehr beschränkten Zeit, die einem zur Verfügung steht, wirkt vieles sinnlos und leer. Das plötzliche Bewusstsein des Heideggerschen In-die-Welt-Geworfenseins, in ein Sein zum Tode, lässt Menschen ihre Grenzen erfahren. Sie fühlen sich aus der normalen Welt hinauskatapultiert. Auch wenn sie einkaufen und Straßenbahn fahren, fühlen sie sich oft nicht mehr als Teil der normalen Wirklichkeit. Sie empfinden sich als anders als die anderen, haben das Wichtigste nicht mehr mit ihnen gemeinsam: das unhinterfragte Vertrauen auf ein Morgen.

Ganz konkret sind Betroffene mit einer neuen Welt konfrontiert, in der sie sich erst zurechtfinden müssen – die Welt der Krankheit und der Medizin, mit einer neuen Sprache und mit Fachbegriffen, deren Bedeutung sie erst herausfinden müssen, mit Regeln, die sie erst lernen müssen. Die Welt engt sich ein; Entscheidungen müssen getroffen, Pläne müssen gefasst und dann auch umgesetzt werden. Der normale Ablauf des Alltags wird unterbrochen: durch die von außen vorgegebenen Termine, durch Krankenhausaufenthalte, durch all das, was plötzlich unumgänglich notwendig scheint. So ist das Umfeld der Patienten nicht nur durch die unerwartet auftauchende Bedrohung, sondern auch dadurch mitbetroffen, dass die Erkrankten ihre gewohnten Rollen nicht mehr im bisher üblichen und selbstverständlichen Maße ausfüllen können. Hohe Flexibilität bei allen ist gefragt.

5.3Werte- und Bedürfnisperspektive

Der Gesunde hat viele Wünsche, der Kranke nur einen – wird in einem Sprichwort behauptet. Das stimmt und stimmt zugleich auch nicht. In der Medizin wird häufig davon ausgegangen, dass alles dem Wunsch und dem Ziel unterzuordnen ist, die Krankheit zu besiegen und wieder gesund zu werden. So trifft es oft auf Unverständnis, wenn diagnostische Maßnahmen oder Behandlungen aufgeschoben oder unterlassen werden, weil dem Betroffenen etwas anderes wichtiger ist.

Eine resonanzbasierte Onkologie ist patientenzentriert und dadurch charakterisiert, dass sie die Werte und Bedürfnisse des individuellen Patienten in ihrem Vorgehen mitberücksichtigt. Zu einem befriedigenden Leben bedarf es der Erfüllung verschiedener unterschiedlichster Bedürfnisse. Somit geht es genauer gesagt um das Setzen von Prioritäten bei den in bestimmten Situationen und Krankheitsphasen erfüllbaren Bedürfnissen. Diese priorisierende Reihung muss letzten Endes der Patient selbst vornehmen; allerdings benötigt er dazu oft Entscheidungshilfen. So werden wir zu jeder Krankheitsphase die Werte- und Bedürfnisperspektive ergänzen, um ihre Bedeutung zu betonen und als Orientierung für die Behandler bei der Aufgabe, Patienten beim Herausfinden und Formulieren ihrer Bedürfnisse und deren Priorisierung zu unterstützen. Sich den Möglichkeiten der Realisierung von Werten und der Erfüllung von Bedürfnissen zuzuwenden entspricht wieder dem Perspektivenwechsel weg vom ausschließlichen Kampf gegen Krankheit und Symptome hin zur Förderung von Gesundheit und dessen, was Lebensqualität bedeutet und was sie erhöht (Abschn. 4.4).

5.3.1Vier emotionale Grundbedürfnisse: Bindung, Autonomie, Kompetenz und Orientierung

Ein für die Psychoonkologie gut brauchbares und überschaubares Modell ist jenes der vier emotionalen Grundbedürfnisse (Mende 2010):

•Das Bedürfnis nach Bindung erwächst aus der sozialen Einbindung von Menschen und ihrer wechselseitigen Abhängigkeit. Gerade nach dem Sturz aus der normalen Wirklichkeit bekommen Teilhabe und Gefühle von Zugehörigkeit und Verbundenheit besondere Bedeutung. Deren Abwesenheit bedeutet Ausgestoßensein, Alleinsein und Isolation. Es gilt, ein Unterstützungsnetzwerk zu aktivieren oder aufzubauen. Resonanzbasierte Kommunikation kann dieses Bedürfnis erfüllen, indem die durch Resonanz hervorgerufenen Erfahrungen ein Gefühl von Verbundenheit vermitteln. Diese Art zu kommunizieren betont den Dialog und sorgt damit auch für ein Gehört- und Verstandenwerden.

•Das Bedürfnis nach Autonomie ist neben der Bindung gleichsam der zweite Flügel, den Menschen brauchen, um fliegen zu können. Sie fühlen sich respektiert und in ihrer Würde geachtet, wenn auch ihr Bedürfnis nach Autonomie so weit wie möglich erfüllt wird. Gerade in der Onkologie fühlen sich Menschen oft dem Medizinsystem wie einer Maschinerie ausgeliefert, und vielfach sind sie es auch ganz real. So gilt es, sie bei der Ausweitung und Ausnutzung jener Spiel- und Möglichkeitsräume zu unterstützen, die ihnen bleiben – um diese autonom zu gestalten und zumindest soweit als möglich dem Grundbedürfnis nach Autonomie nachzukommen.

•Das Bedürfnis nach Kompetenz überschneidet sich mit jenem nach Selbstwirksamkeit und nach Handhabbarkeit im Sinne Antonovskys (S. 48). Zum Kompetenzerwerb trägt das Bewusstmachen, Aktivieren und Erwerben von Ressourcen bei. Kompetenz ist in Zeiten und Bereichen von besonderer Bedeutung, in denen Menschen sich von neuen Anforderungen überrollt und überfordert fühlen. Somit gilt es in der Onkologie, Patienten dabei zu unterstützen, Kompetenzen zur Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen zu erwerben. Das beginnt bei der Fähigkeit, sich jene Informationen zu besorgen, die sie brauchen, und mit der Flut von zunächst unverständlichen Informationen umzugehen und sie zu bewerten. Das ist Hilfe beim Zurechtfinden im Medizinsystem. Das ist Unterstützung beim Klären, Formulieren und Kommunizieren von Bedürfnissen und bei deren Erfüllung in allen relevanten Systemen, in die der Patient eingebunden ist.

•Das Bedürfnis nach Orientierung überschneidet sich mit den Komponenten Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit des Kohärenzsinnes (S. 48). Wenn dieses Bedürfnis unerfüllt bleibt, melden sich Gefühle von Verwirrung, Orientierungslosigkeit und Sinnlosigkeit. In der Onkologie müssen sich Menschen plötzlich in einem völlig neuen Gebiet zurechtfinden, in dem vieles unverständlich ist und bleibt. Manches von dem, was im bisherigen Lesben Sinn gab, erscheint entweder sinnlos oder ist nicht mehr möglich. Somit ist Unterstützung bei Orientierung und Neuorientierung gefragt. Diese Neuorientierung betrifft insbesondere auch Themen der Identität: Wer bin ich in dieser neuen Phase des Lebens, und wie positioniere ich mich in der Welt?

5.3.2Normalisieren

Aus dem weiter oben erläuterten Sturz aus der normalen Wirklichkeit ergibt sich das Bedürfnis, so viel Normalität wie möglich zu leben, so gut wie möglich zu funktionieren oder zumindest die Fassade von Normalität zu bewahren. Nach diesem Verständnis ermöglicht nur die Normalität Teilhabe und Zugehörigkeit zur normalen Wirklichkeit aller anderen Menschen. Insofern ist Normalisieren eine wesentliche Hilfestellung.

Wir verstehen unter Normalisieren die professionelle Rückmeldung an Patienten, dass sie sich mit ihren Reaktionen auf die Erkrankung durchaus »im grünen Bereich« befinden bzw. dass ihr Verhalten oft der Anpassung dient und eine normale Reaktion auf außergewöhnliche Belastungen darstellt. Normalisieren gibt Orientierung, zumindest dahingehend, dass man nicht noch ein zweites Problem in Form einer pathologisierenden psychiatrischen Diagnose dazubekommt. Wenn auch als pathologisch zu klassifizierende Ausprägungen von Belastungsreaktionen vorkommen, bleiben sie aber eher die Ausnahme und sind oft durch psychiatrische Vorerkrankungen mitbedingt.