Einleitung in das Neue Testament

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§ 5Das Evangelium nach Markus

Die Schwierigkeiten, vor die das älteste Evangelium die Forschung stellt, sind in der letzten Zeit besonders deutlich hervorgetreten. Zu Recht ist betont worden, dass kein Evangelium, auch nicht das Johannesevangelium, so viele Streitfragen hervorgerufen hat, wie das des Markus und dass die Auffassungen in der Literatur hier nicht aufeinander zulaufen, sondern immer stärker divergieren.

1. Gliederung des Evangeliums

Markus hat die Gliederungssignale offensichtlich nicht so gesetzt, dass sie uns Heutigen noch klar erkennbar wären.

Inhaltliche Gliederung

Kriterien

Darauf weist nicht nur die Uneinheitlichkeit der Gliederungsversuche hin – in der Literatur sind zweigliedrige, dreigliedrige und zahlreiche mehrgliedrige Aufteilungen vorgeschlagen worden, die bis zu sieben Abschnitten reichen, und die Einschnitte werden teilweise an ganz unterschiedlichen Stellen vorgenommen –, sondern auch der Umstand, dass der Übergang selbst an den Stellen gelegentlich sehr eng ist, wo häufig Unterteilungen vorgenommen werden, so z. B. vor 1,14.16 oder 6,29. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass zahlreiche Gliederungsversuche einen Einschnitt vor 1,14 finden und zahlreiche andere einen solchen erst vor 1,16. Diese Unsicherheit dürfte darin ihren Grund haben, dass das Gliederungsprinzip im Inhalt gefunden wird, ohne dass sich ein deutliches formales Signal finden lässt. Man kann sich insofern über die unterschiedlichen Gliederungsversuche nicht wundern. An sich könnte man aus der antiken Schreibkultur, die jedenfalls bei den Schriften des Neuen Testaments ohne Absätze und ohne Zwischenüberschriften verfährt, den Schluss ziehen, Gliederungssignale wären damals nicht so wichtig gewesen, jedoch lassen sowohl die Abhandlung des Aristoteles über die Poetik (z. B. Poetik 12; vgl. auch Rhetorik 3,13) als auch die vielfältigen Überlegungen zur dispositio in der antiken Rhetorik (vgl. nur Quintilian, inst. or. 3,3,1 ff.) eine solche Überlegung als abwegig erscheinen.

Die Uneinheitlichkeit der Gliederungsversuche hat freilich nicht nur in der markinischen Eigenart des Evangeliums mit seinen fließenden Übergängen ihren Grund, sondern auch in dem zu Recht angemahnten Fehlen einer einheitlichen Kriteriologie der Forschung. Denn als Kriterium für die Gliederung hat man so unterschiedliche Aspekte wie die geographische Aufteilung des Evangeliums, die Anlehnung an den jüdischen Festkalender oder das antike Drama, den Inhalt, die Sammelberichte, die Zeitebenen oder auch die ► Stichometrie benutzt.

Dreiteilung

Anhand inhaltlicher und geographischer Merkmale wird man von einer dreiteiligen Gliederung des Corpus des Evangeliums mit einem Prolog ausgehen. Die Möglichkeit, die Haupteinschnitte noch einmal zu unterteilen, ist dabei durchaus gegeben. Die Anwendung dieser Kriterien erscheint auch deswegen gerechtfertigt, weil die mehr auf formaler Analyse aufbauenden Gliederungsversuche m. E. ebenfalls inhaltliche Argumente enthalten.

Aufbau


1,1Überschrift (incipit)
1,2–13Der Markusprolog: Johannes der Täufer, die Taufe und die Erprobung Jesu
1,14–8,26Jesu öffentliches Wirken in Galiläa und Umgebung
1,14–3,35Beginn der Verkündigung Jesu und Berufung der ersten Jünger, erster Zyklus von Machttaten und beginnende Auseinandersetzungen, Erwählung der Zwölf
4,1–34Am See Genesareth: Die Gleichnisrede
4,35–8,26Um den See Genesareth: Zweiter Zyklus von Machttaten (auch in nichtjüdischen Gegenden) und weitere Auseinandersetzungen
8,27–10,52Jesus auf dem Weg von Caesarea Philippi nach Jerusalem
Leidensankündigungen, die Verklärung Jesu, Fragen der Nachfolge, Heilung des blinden Bartimäus
11,1–16,8Letzte Tage in Jerusalem, Tod und Auferstehung Jesu
11–12Einzug, Tempelaktion und Auseinandersetzungen mit Jerusalemer Gegnern
13Die Endzeitrede
14–15Passion, Tod und Begräbnis Jesu
16,1–8Die Auffindung des leeren Grabes
(16,9–20Sekundärer Markusschluss)

2. Der Anlass für die Abfassung des Markusevangeliums

Markus: der „Erfinder“ der Gattung Evangelium

Was Markus tat, war neu, um nicht zu sagen revolutionär, und nicht neu zugleich:

Es war neu, insofern hier erstmalig die mündlichen Einzeltraditionen und die Sammlungen von mehreren Einzelgeschichten (z. B. Wundergeschichten) in den Rahmen der öffentlichen Wirksamkeit Jesu eingepasst, unter das Schema „Von Galiläa nach Jerusalem“, oder besser „Von der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer bis zur Auferstehung in Jerusalem“ subsumiert und unter bestimmte theologische Leitgedanken gestellt wurden.

Es war nicht neu, insofern nach Ausweis seines Evangeliums vermutlich auch in seiner eigenen Gemeinde das Christusereignis mit Hilfe von solchen Geschichten aus dem Leben Jesu verkündigt wurde und insofern es auch schon vor der Abfassung seines Werkes kleinere Sammlungen von Einzelperikopen gegeben hat, die er in sein Werk integrierte.

Die Originalität der Absicht des Markus, die uns wegen unserer Vertrautheit mit der Gattung nicht besonders auffällt, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden und übersteigt z. B. die des Matthäus trotz der großartigen Konzeption des Matthäusevangeliums bei weitem. Markus verfiel als Erster auf die Idee, die überwiegend mündlich umlaufenden Jesusgeschichten nicht nur zu sammeln, sondern unter einer Gesamtperspektive als „literarisches“ Werk herauszubringen und als Evangelium zu begreifen.

Sitz im Leben: der Gottesdienst

Angesichts unserer Kenntnis von der Verlesung der Paulusbriefe im Gottesdienst der ersten Christen (vgl. Kol 4,16; auch 2 Petr 3,14–16) und der Rolle des Alten Testaments im Synagogengottesdienst ist davon auszugehen, dass der ► Sitz im Leben der Einzelgeschichten ebenfalls der Gottesdienst war.

Lesen und Vorlesen in der Antike

Man kann dafür des weiteren anführen, dass „Bücher“ selten und kostbar waren und dass die Fertigkeit des Lesens unter den damaligen Christen sicher nicht allzu weit verbreitet war.

Gleichwohl dürfte die Verlesung im Gottesdienst keinesfalls der einzige Abfassungszweck gewesen sein, weil diese atomisierende, das Ganze in kleine Abschnitte aufteilende Art, das Evangelium zur Kenntnis zu bringen, der Gesamtkomposition und den zugrunde liegenden Leitgedanken, ganz abgesehen von dem Spannungsbogen, nicht gerecht zu werden vermag. Allerdings geschah Lesen in der Antike sehr häufig als Vorlesen, und offensichtlich waren die Zuhörer in der Lage, nicht nur kompliziertere und längere, sondern auch übergreifende Zusammenhänge zu erkennen, was für uns weitgehend an eine schriftliche Kultur Gewöhnte wesentlich schwieriger ist. Von daher ist dieser Einwand gegen das Vorlesen wohl kaum durchschlagend. Im übrigen bezeugt bereits Thukydides, dass Bücher „zum dauernden Besitz, nicht als Prunkstück fürs einmalige Hören“ geschrieben wurden (I 22,4, vgl. aber auch 22,3: „Zum Zuhören wird vielleicht diese undichterische Darstellung minder ergötzlich scheinen“).

Unbeschadet der Frage, ob Markus oder die Verfasser der anderen Evangelien nun primär Leser oder Hörer im Blick gehabt haben, beweist Justin, Apol. I 67,3 für die Mitte des zweiten Jahrhunderts das Vorlesen der Evangelien im Gottesdienst:

„An dem Tage, den man Sonntag nennt, findet eine Versammlung aller statt, die in Städten oder auf dem Lande wohnen; dabei werden die Denkwürdigkeiten der Apostel oder die Schriften der Propheten vorgelesen, solange es angeht.“ (nach der Übersetzung von G. Rauschen in BKV; dass mit den „Denkwürdigkeiten der Apostel“ die Evangelien gemeint sind, geht aus Apol. I 66 eindeutig hervor).

Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Markus sein Werk für den Gottesdienst seiner Gemeinde geschaffen hat.

Das Werk und sein Anlass

Was Markus dazu veranlasst hat, die Jesusgeschichten nicht nur einfach zu sammeln, so wie etwa der Verfasser der Logienquelle die Jesusworte gesammelt hat, sondern ein Werk mit Leitgedanken und Spannungsbogen zu verfassen, wissen wir nicht, und wir sind zur Beantwortung dieser Frage ausschließlich auf sein Werk verwiesen. Es bedeutet aber nicht, aus der Not eine Tugend zu machen, wenn man überlegt, ob sich die Absicht des Markus nicht gerade aus diesem Werkcharakter des Evangeliums ergibt.

Die mündliche Tradierung der Einzelgeschichten im Gottesdienst war offensichtlich nicht in der Lage, das zu leisten, was er mit seinem Werk leisten wollte, nämlich das „Evangelium von Jesus Christus“ (1,1) adäquat zum Ausdruck zu bringen, weil die Einzelgeschichten in der Regel entweder den Christus der Herrlichkeit oder den des Leidens zur Sprache brachten, während es Markus gerade darauf ankam, beides miteinander zu verbinden und gemeinsam zur Sprache zu bringen.

 

Die Binnenperspektive des Buches

Von daher ergibt sich auch die Frage, ob die häufig genannte Zweckbestimmung, das Werk solle den Glauben wecken und stärken, ganz zutrifft und ob man beide Zwecke als gleichberechtigt nebeneinander stehend ansehen darf. Diese Zweckbestimmung nimmt ja die in der formgeschichtlichen Phase der Evangelienkritik für die Einzelperikopen angenommenen Zwecke auf und überträgt sie auf das Gesamtwerk. Muss man schon fragen, ob in einer heidnischen Umgebung die Missionspredigt einfach mit dem Christuskerygma einsetzen kann, so wird man angesichts des Ringens des Verfassers um das zutreffende Verständnis von Jesus, dem Christus, m. E. eher eine Binnen- als eine Außenperspektive für das Werk annehmen.

Markus geht mit seinem Werk erheblich über die ihm vorliegenden Sammlungen von Einzelgeschichten hinaus. Er schafft etwas völlig Neues und wendet sich vorrangig an Menschen, die schon Christen sind. Allenfalls in zweiter Hinsicht schreibt er ein Werk für die Missionspropaganda.

3. Die Frage nach dem Verfasser des Markusevangeliums

Die Überschrift

Das älteste Evangelium nennt den Namen seines Verfassers nicht. Der Name Markus, mit dem wir dieses traditionsgemäß verbinden, stammt zum einen aus der Überschrift, den dieses Werk in den neutestamentlichen ► Handschriften, die einen Titel bieten, trägt, zum anderen aus der Kirchenväterliteratur, in der Markus mehrfach als Verfasser eines Evangeliums genannt wird. Da jedoch die Überschrift jedenfalls beim Markusevangelium ohne Zweifel nicht ursprünglich ist, wie sich schon daraus ergibt, dass sie der Unterscheidung von anderen Werken / Evangelien dienen soll, die es zur Zeit der Abfassung des Markusevangeliums noch gar nicht gegeben hat und die bei der Abfassung dieses Werkes auch nicht unbedingt zu erwarten waren, müssen die Nachrichten aus der Väterliteratur genauer unter die Lupe genommen werden.

3.1 Ausgangspunkt Alte Kirche

Das Zeugnis des Papias

Das älteste Zeugnis verdanken wir Papias von Hierapolis, der um 120 oder 130 die fünf Bücher der „Erklärungen von Herrenworten“ verfasst hat, die leider nur in Auszügen erhalten sind. In diesen Büchern beruft er sich für das folgende Zeugnis über das Markusevangelium auf einen ► Presbyter Johannes, der Jünger des Herrn gewesen sei, so dass dieses Zeugnis uns vermeintlich direkt in die Urgemeinde und ihre Ansichten zu den Evangelien hineinführt.

„Auch dies lehrte der Presbyter: Markus hat die Worte und Taten des Herrn, an die er sich als Dolmetscher des Petrus erinnerte, genau, allerdings nicht der Reihe nach, aufgeschrieben. Denn er hatte den Herrn nicht gehört und begleitet; wohl aberfolgte er später, wie gesagt, dem Petrus, welcher seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete, nicht aber so, dass er eine zusammenhängende Darstellung der Reden des Herrn gegeben hätte. Es ist daher keineswegs ein Fehler des Markus, wenn er einiges so aufzeichnete, wie es ihm das Gedächtnis eingab. Denn für eines trug er Sorge: nichts von dem, was er gehört hatte, auszulassen oder sich im Berichte keiner Lüge schuldig zu machen.“ (Eusebius, Kirchengeschichte III 39,15 in der Übersetzung von Ph. Haeuser, neu durchgesehen von H. A. Gärtner. Zu der Interpretation dieses Zeugnisses durch J. Kürzinger vgl. unten § 6 Nr. 3.5.1)

Der Dolmetscher Petri?

Die Frage, wie das in dieser Übersetzung mit „Dolmetscher“ wiedergegebene griechische Wort zu verstehen ist, ist in der Literatur heftig diskutiert worden, und man hat gefragt, ob Petrus denn wirklich auf einen Übersetzer angewiesen war. Wenn man Jesus die Kenntnis des Griechischen abspricht, kann man sie Petrus freilich nicht einfach zusprechen, obwohl Petrus sich das Griechische auch noch während seiner Missionstätigkeit angeeignet haben kann.

Der apologetische Charakter des Papiaszeugnisses

Unbeschadet der Auslegungsschwierigkeiten dieses Textes ist der apologetische Charakter dieses Zeugnisses doch offensichtlich. Der Verfasser dieser Nachricht verspürt für jeden Leser deutlich erkennbar die Notwendigkeit, die Zuverlässigkeit des Markusevangeliums gegen Angriffe zu verteidigen, kann dabei aber gleichzeitig den Tatbestand einer gewissen Unordnung nicht bestreiten.

Er wählt deswegen eine andere Strategie zur Verteidigung des Markusevangeliums: Diese Unordnung ist, anders als die Kritiker meinen, nach Ansicht des Papias eher als Zeugnis für die Authentizität des Evangeliums als gegen diese zu werten, wenn man sich nur die Entstehungsverhältnisse klar macht! Es handelt sich eben nicht um den Bericht eines Augenzeugen, sondern um Erinnerungen an die Predigten des Petrus, und diese waren nicht systematisch oder historisch geordnet, sondern waren nach den Bedürfnissen der Zuhörer gestaltet.

Auf diese Weise leistet der Hinweis des Papias ein Doppeltes: Er kommt den schon damals offensichtlich vorhandenen Kritikern entgegen, räumt ihnen teilweise die Berechtigung ihrer Kritik ein und ist gleichwohl in der Lage, das Werk des Markus und dessen Authentizität zu verteidigen.

Wenn man nicht davon ausgehen will, dass es im zweiten Jahrhundert, also zur Zeit des Papias, noch Menschen gegeben hat, die für sich eine unmittelbare Kenntnis der Jesusgeschichte beanspruchten, worauf im übrigen nichts hinweist, dann muss man fragen, auf welchem Hintergrund diese Kritik am Werk des Markus, die sich auf dessen (Un-)Ordnung bezieht, vorgetragen wird. Was war der Maßstab der Kritiker, von woher konnten sie sagen, das Markusevangelium entspreche nicht der richtigen Reihenfolge? Wahrscheinlich spielen die nicht geringen Divergenzen zwischen den Evangelien des Matthäus und Markus hier hinein, und das „kirchliche“, weil in der Kirche von Anfang an besonders beliebte Matthäusevangelium gibt den Maßstab ab, an Hand dessen das Markusevangelium, das im übrigen in der Alten Kirche immer nur auf geringes Interesse gestoßen ist, als weniger der Ordnung entsprechend angesehen wird.

Die Lösung des Presbyters

Mit dem Hinweis auf die Predigten des Petrus unterläuft der ► Presbyter geschickt den Vorwurf der Unordnung und setzt das Markus- wie das Matthäusevangelium gleichermaßen als zuverlässig ins Recht. Das Matthäusevangelium biete die zutreffende Ordnung der Worte und Taten Jesu, während das Markusevangelium ein Erinnerungswerk sei, das auf den Predigten des Petrus basiert und schon von daher – eine freilich andere – Authentizität atmet.

3.2 Moderne Versuche, das Zeugnis des Papias zu kontrollieren

Das Zeugnis des Papias ist in der Forschung nun immer wieder in der Hoffnung einer intensiven Nachprüfung unterzogen worden, dieses kontrollieren und die Identität des von Papias genannten Markus feststellen zu können.

Das Ergebnis dieser Bemühungen ist freilich sehr unterschiedlich. Ist das Papiaszeugnis nach Meinung der einen praktisch wertlos und verdankt es seine Existenz überhaupt nur dogmatisch-ideologischen Interessen, so ist nach anderen dieses Zeugnis zuverlässig. Das Überleben des Markusevangeliums nach der Abfassung des Matthäusevangeliums ist nach diesen Autoren nur verständlich, wenn es von Anfang an mit der Autorität des Petrus in Verbindung stand. Diese Nähe des zweiten Evangeliums zu Petrus findet sich übrigens nicht nur bei Papias, sondern auch in anderen Zeugnissen der Kirchenväter.

3.2.1 Der (Johannes) Markus des Neuen Testaments

Markus: Ein Jerusalemer Judenchrist?

Bei der Auswertung des Papiaszeugnisses spielt eine erhebliche Rolle, dass im Neuen Testament selbst an verschiedenen Stellen ein Markus genannt wird, und an einer Stelle sogar ein Markus in enge Beziehung zu Petrus gebracht ist: 1 Petr 5,13 (eine Stelle übrigens, die Papias gekannt haben dürfte, vgl. Eusebius, Kirchengeschichte III 39,17). Der dort genannte „Sohn“ des Petrus wird in der Literatur – ob zu Recht oder zu Unrecht, kann hier zunächst einmal dahingestellt bleiben – sowohl mit dem in einigen (z. T. sekundär unter dem Namen des Paulus verfassten) Briefen erwähnten Markus (Kol 4,10;2 Tim 4,11;Philm 24) als auch mit dem in Apg 12,12.25;15,37.39 mehrfach genannten, aus Jerusalem stammenden und mit Paulus und Barnabas in Zusammenhang stehenden Johannes Markus identifiziert, obwohl diese Identifikation des Verfassers des Markusevangeliums mit dieser Person gleichen Namens in der altkirchlichen Literatur nirgendwo vorgenommen wird. Setzt man diese Identifikation voraus, kann man trefflich die Korrektur-Frage stellen, ob der Verfasser des zweiten Evangeliums ein aus Jerusalem stammender Jude sein kann.

3.2.2 Die geographischen Angaben im Markusevangelium und der Autor des zweiten Evangeliums

Kenntnis der Geographie Palästinas?

Die Klärung dieser Frage wird mit Hilfe verschiedener Überlegungen versucht, z. B. wird gefragt, ob der Verfasser des zweiten Evangeliums sich in der Geographie Palästinas und Galiläas auskennt, ob er die jüdischen Bräuche einwandfrei beschreibt und ob er noch eine Kenntnis der aramäischen Sprache erkennen läßt – all das wäre ja von einem Jerusalemer Judenchristen zu erwarten. Die Geographie-Kenntnisse Galiläas und Jerusalems auf seiten des Markus werden dabei häufig recht kritisch betrachtet, weil Markus in der Tat an einigen Stellen Jesus eine zumindest merkwürdige Wegstrecke zurücklegen lässt.

In dieser Hinsicht berühmt ist z. B. die Stelle Mk 7,31, die wirklich eine auffällige Zickzacklinie beschreibt, die man für die deutsche Geographie mit der Übersetzung verdeutlicht hat: „von Darmstadt über Frankfurt nach Mannheim mitten durchs Neckartal“ bzw., wenn man es lieber in europäischem Maßstab will: „von Madrid über Paris und Wien nach Rom“. Oder man hat auf Mk 5,1 hingewiesen, wonach Gerasa direkt am See Genesareth gelegen haben soll, was aber mitnichten der Fall war. Führen so eine Reihe von Angaben im Evangelium dazu, dem Verfasser eine gute Kenntnis der Geographie Galiläas abzusprechen, so traut man ihm aufgrund der falschen Reihenfolge in 11,1 – auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem kommt man erst nach Bethanien und dann nach Bethphage – trotz der zutreffenden Angabe von dem dem Ölberg gegenüberliegenden Tempel in 13,2 – auch keine Kenntnis der Geographie Jerusalems zu, so dass von daher gewichtige Argumente gegen den aus Jerusalem stammenden Johannes Markus als Verfasser unseres Evangeliums angeführt werden können.

Aber so eindeutig sind die aus diesen Stellen sich ergebenden Konsequenzen durchaus nicht, da wir kaum davon ausgehen können, dass auch die gebildetsten Menschen – und dass der Autor des zweiten Evangeliums zu diesen gerechnet werden muss, unterliegt keinem Zweifel! Es war nicht der schon in der Alten Kirche hochgeschätzte Matthäus, der die Literaturgattung Evangelium geschaffen hat, sondern Markus – damals alle zureichende geographische Kenntnisse hatten. Ein Einwohner Jerusalems muss nicht notwendig exakte Kenntnisse der Örtlichkeiten Galiläas gehabt haben, und aus der angeblich falschen Reihenfolge in Mk 11,1 kann man m. E. nicht einfach auf eine Unkenntnis der Örtlichkeiten Jerusalems schließen, da diese Stelle auch als bloße Aufzählung und nicht als exakte Reihenfolge gemeint sein kann. Wenn es noch eines weiteren Beweises bedarf, so kann darauf hingewiesen werden, dass sich ähnliche Rundstrecken wie in 7,31 auch sonst in der antiken Literatur finden, obwohl die Verfasser häufig weitgereist waren, um sich kundig zu machen und die genaue Kenntnis der Örtlichkeiten und Traditionen als wichtige Voraussetzung für ihre Arbeit nennen.

3.2.3 Die Beschreibung jüdischer Bräuche im Markusevangelium und der Autor des zweiten Evangeliums

Intime Kenntnis des Judentums?

Ob das gleiche Urteil auch für den Hinweis gelten kann, Markus lasse ein gewisses Unverständnis für jüdische Bräuche erkennen, z. B. wenn er in 7,3 alle Juden nur mit rituell gewaschenen Händen zum Essen gehen lässt, ist schwierig, weil sich hier zugleich die Frage nach dem Verhältnis des Markus zu seinem Material stellt. Fühlte der Verfasser des zweiten Evangeliums sich verpflichtet, alle Unschärfen, die seine Quellen enthielten, zu verbessern, wenn er sie erkannte? Steht hinter einer solchen Ansicht nicht eher das moderne, vor allem auf historische Exaktheit bedachte, der Antike bzw. zumindest den Evangelisten so aber gar nicht geläufige Denken? Anders wäre die Stelle freilich zu beurteilen, wenn Markus an dieser Stelle die erläuternden Bemerkungen selbst eingefügt hätte. Eine solche Unschärfe wäre einem Jerusalemer Judenchristen in seinen erläuternden Bemerkungen wohl kaum unterlaufen.

 

Ähnliches gilt m. E. für 10,12, wo Markus Jesus eine Scheidungsmöglichkeit auch für die Frau in den Mund legt, was damals im palästinischen Judentum nach unserer gegenwärtigen Kenntnis kaum möglich gewesen ist. Jedenfalls hat Josephus entsprechende Fälle deutlich als unjüdisch charakterisiert, und die in der Literatur angeführten Gegenbeispiele sind entweder spät oder von sehr begrenzter Aussagekraft. Auch im Blick hierauf wird man freilich nicht ohne weiteres die Verfasserschaft eines palästinischen Judenchristen ausschließen können, weil der Verfasser einfach die Praxis seiner Gemeinde wiedergeben kann, ohne auf ein historisches Wort Jesu und dessen jüdischen Kontext zu reflektieren. Der Verfasser hätte sich dann in dieser Hinsicht nicht anders verhalten als Matthäus, der in dieselbe Perikope eine Ausnahmeklausel einfügt, die sicher nicht von Jesus stammt.

Aber kann man sich in allen Fällen mit der Rückführung der Unschärfe auf die Tradition, die den Verfasser nicht besonders interessiert haben soll, helfen? Hätte ein jüdischer Autor z. B. Mk 14,12 schreiben können, wo der erste Tag (= 15. ► Nisan) des Festes der ungesäuerten Brote, das auch Juden mit dem Pascha gleichsetzen konnten, mit dem Rüsttag auf Pascha gleichgesetzt wird, zumal durch eine kleine Korrektur die Sache hätte richtig gestellt werden können? So sehr man für das einzelne Versehen gute Entschuldigungsgründe anführen kann, so sehr spricht deren Menge doch entschieden gegen einen palästinischen Judenchristen, wenn man nicht zu Konstruktionen greifen will, die etwa lauten: die große zeitliche und räumliche Distanz des Markus zum Judentum im Jahre 70 n. Chr. mache diese Ungenauigkeiten erklärbar.

3.2.4 Übersetzungen und ► Semitismen im Markusevangelium

Ermöglichen es so die geographischen Angaben und die Schilderung jüdischer Bräuche nicht, die Verfasserschaft des Markusevangeliums durch einen palästinischen Judenchristen definitiv zu kontrollieren und zu einer völlig eindeutigen Entscheidung zu gelangen, so sprechen alle Merkmale zusammen genommen doch eher gegen als für die Verfasserschaft eines palästinischen Judenchristen. Eine Kontrollmöglichkeit dieses Befundes könnte evtl. in den Semitismen (9,5;11,21;14,45: Rabbi; 10,51: Rabbuni; 11,9.10: Hosanna) und den Übersetzungen (3,17;5,41;7,11.34;15,22.34, vgl. auch die Erklärung des Rüsttages in 15,42) liegen – wenn diese, wie häufig angenommen wird, vom Evangelisten stammen, dann war er des Hebräischen und Aramäischen mächtig, dürfte also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus Palästina stammen. Aber auch hier ist vor voreiligen Schlüssen zu warnen. Besagt der in der Tat beobachtbare Rückgang der Semitismen vom Markus- zum Matthäusevangelium etwas über die Sprachkenntnisse des ersten und zweiten Evangelisten, oder geht dieser Rückgang einfach auf das Fortschreiten der Tradition und die zurückgehende Bedeutung des palästinischen Raumes für die Urchristenheit zurück?

Semitismen

Das Vorkommen der Semitismen stellt vor allem ein Problem dar, wenn man für die mündliche Phase der Überlieferung „die Vorstellung einer festen Ausdrucksebene“ nicht annehmen will. Dann muss man nämlich die Frage stellen, warum Markus, der offensichtlich damit rechnet, dass ein zumindest wesentlicher Teil seiner Leser / Hörer das entsprechende Wort nicht versteht, dieses Wort überhaupt bringt und es anschließend übersetzt, wenn er die ihm mündlich überlieferten Traditionen in der Regel so frei wiedergibt, dass man seine Vorlagen nicht mehr erkennen kann. So sehr man Letzteres (vielleicht schon angesichts der Divergenz der Urteile über die zugrundeliegenden Quellen) zugeben muss, so wenig lässt sich das Problem der Semitismen mit der Annahme eines sehr freien Wortlauts der Quellen lösen.

Man wird mit dem Hinweis auf die Semitismen umso vorsichtiger umgehen, als wir unglücklicherweise fast nichts über den Wechsel des Traditionsstoffes vom ursprünglich Aramäischen zum Griechischen wissen und diese Frage unberechtigterweise in der Forschung auch keine größere Rolle spielt. Der deutlich feststellbare Rückgang der semitischen Wendungen vom Markusevangelium über das des Matthäus und des Johannes zu dem des Lukas, welch letzterer solche überhaupt nicht mehr kennt, ist auch als Zeichen der Entfernung von der ursprünglich aramäischen Tradition zu verstehen, so dass die Tatsache, dass das älteste Evangelium sowohl absolut als auch im Verhältnis zu seiner Länge die meisten Semitismen enthält, in keiner Weise überraschen und keineswegs als Hinweis für eine semitische Muttersprache des Autors dieses Werkes interpretiert werden kann.

Übersetzungen

So bleiben allein noch die Übersetzungen – können sie Johannes Markus oder einen anderen Markus aus Palästina als Verfasser des Evangeliums retten? Aufgrund der gleichartigen Form ihrer Einleitung (3,17;7,11.34;15,42, vgl. auch 5,41 und 15,34), die auffälligerweise bei dem aus Palästina stammenden Juden Josephus nur ein einziges Mal begegnet und auch dort noch textlich unsicher ist (Ant. VII 3,2 § 67), kann man zu der Annahme neigen, diese müssten vom Endredaktor des Evangeliums stammen – aber eine über viele Zweifel erhabene Annahme haben wir damit nicht erreicht, da die Notwendigkeit, die in den zugrundeliegenden Traditionsstücken gebrauchten semitischen Termini den Zuhörern zu erläutern, auch schon vor der Integration dieser Stücke in das Evangelium bestand. Markus erhielt diese Traditionen bereits in griechischer Sprache und es spricht auch nichts dafür, dass er sie erstmalig aus einer judenchristlichen Umgebung in eine heidenchristliche übertrug. Angesichts der Tatsache, dass die Texte mit Sicherheit nicht erst von Markus ins Griechische übertragen, sondern schon längere Zeit in Griechisch überliefert wurden, ist es in keiner Weise einzusehen, wieso erst Markus die Notwendigkeit einer solchen Übersetzung empfunden haben soll, während in der Überlieferung vorher diese fremdsprachigen Termini unübersetzt geblieben sein sollen. Genau die gegenteilige Annahme ist wahrscheinlich. Die gleiche sprachliche Einleitung dieser Übersetzungen im Werk des Markus mag dann durchaus auf Markus zurückgehen, die eigentliche Übersetzung des Textes wird aber nicht von ihm stammen.

Das Ergebnis unserer Überlegungen ist nicht zwingend. Die Gesamtheit der vorgetragenen Argumente weist aber in dieselbe Richtung: Der Verfasser des zweiten Evangeliums ist kein aus Palästina gebürtiger Judenchrist gewesen. Deshalb kommt der gelegentlich als Verfasser in Aussicht genommene Johannes Markus der Apostelgeschichte nicht in Frage.

3.3 Die Bedeutung einer evtl. Augenzeugenschaft des Verfassers für das Verständnis des Markusevangeliums

Augenzeugenschaft und die li terarische Eigenheit der Evangelien

So schön es im übrigen wäre, wenn wir den Verfasser des Markusevangeliums genauer bestimmen könnten, so sehr muss doch auch darauf hingewiesen werden, dass selbst dann, wenn der Jerusalemer Zeuge der ersten Stunde, Johannes Markus, mit Sicherheit als Verfasser erwiesen werden könnte, damit unsere Erkenntnisse über die Evangelien und die Einsicht in ihren literarischen Charakter nicht verändert würden.

Wir hätten auch dann weiterhin davon auszugehen, dass unsere Evangelien, also auch das des Markus, auf Tradition beruhen, die lange Zeit mündlich überliefert wurde und an den Gesetzmäßigkeiten solcher Überlieferung teilhatte, und dass das Ziel der Evangelien nicht historische Belehrung, sondern Stärkung und sekundär auch Weckung des Glaubens war.

Die historische Glaubwürdigkeit des zweiten Evangeliums würde durch eine Zuweisung an den aus Jerusalem stammenden Johannes Markus keineswegs verstärkt.

3.4 Ein unbekannter Markus als Verfasser des zweiten Evangeliums?

Gründe für die Entstehung des Papiaszeugnisses

So überzeugend die Hinweise aus dem zweiten Evangelium gegen die Verfasserschaft des Johannes Markus aus Jerusalem insgesamt sind, so sehr leiden diese Einwände daran, dass sie die Entstehung der Zuweisung dieses Evangeliums an Markus, den Dolmetscher des Petrus, in der Alten Kirche nicht erklären können. Diese Tradition muss ja ihren Grund haben. Angesichts dieses Mangels muss die Frage gestellt werden, ob sich nicht wenigstens noch ansatzweise Gründe finden lassen, die zum Zeugnis des von Papias überlieferten ► Presbyters Johannes geführt haben und die dessen Entstehung verständlich machen können.

Petrus und Markus (zu IPetr 5,13)

Wir können diese Frage nicht im Detail beantworten, aber wir stehen auch nicht völlig ratlos vor ihr. Denn Petrus, Rom und Markus werden auch schon in dem zweifellos nicht von Petrus stammenden Ersten Petrusbrief zusammengebracht. Da dieser Brief ► pseudepigraphisch (d. h. unter falschen Namen) geschrieben ist, der Verfasser sich also die Autorität des Petrus leiht, um seinem Schreiben größere Durchsetzungskraft zu verleihen, muss hinter der Erwähnung in 1 Petr 5,13 die Kenntnis eines engen Verhältnisses zwischen Petrus und seinem „Sohn“ Markus stehen. Dieser Markus muss der Gemeinde des anonymen Verfassers des Ersten Petrusbriefes und den Gemeinden der Empfänger dieses Briefes nicht notwendig bekannt gewesen sein, aber dass Petrus einen „Sohn“ – in welchem Sinne auch immer – mit Namen Markus gehabt hat, setzt dieser Text als weithin verbreitete Tatsache voraus. Alles andere würde dem gewählten pseudepigraphischen Charakter des Schreibens widersprechen und wäre insofern kontraproduktiv.