Einleitung in das Neue Testament

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§ 4Die Logienquelle Q

1. Die Findungsgeschichte der Logienquelle Q

Die Zweiquellentheorie war das Ergebnis der Suche nach den Gründen für die großen Übereinstimmungen zwischen den ersten drei Evangelien im 19. Jahrhundert, wie wir in § 3 gesehen haben. Damit war das Markusevangelium als das älteste Evangelium und als Quelle für die Evangelisten Matthäus und Lukas erkannt, zugleich aber eine weitere Quelle postuliert, die nicht erhalten ist und deswegen nur rekonstruiert werden kann: die Logienquelle Q. Die Erkenntnis, dass Matthäus und Lukas außer dem Markusevangelium eine weitere gemeinsame Quelle benutzt haben müssen, die weitestgehend aus Worten Jesu besteht, ist fest mit den Namen K. Lachmann, Ch. H. Weiße und H. Ewald, aber auch mit dem von H. J. Holtzmann verbunden. Denn letzterer ist es gewesen, der der Erkenntnis Weißes aufgrund seiner Beobachtungen zum sprachlichen Charakter und zum Zusammenhang der einzelnen Einheiten untereinander erst zum Durchbruch und zu breiterer Anerkennung verhalf. Das Kürzel Q (für Quelle) wurde erstmals von J. Weiß benutzt und setzte sich seit 1899 durch P. Wernles Arbeit durch.

Suche nach dem Historischen Jesus

Q als bloße Ergänzung?

Forschungsgeschichte

Seit dieser Zeit erhielt die Logienquelle erhöhte Aufmerksamkeit, die sich in einer Vielzahl von Hypothesen über Umfang, Reihenfolge und literarischen Charakter niederschlug. Die leitende Perspektive der Untersuchungen stand damals häufig im Zusammenhang mit der Frage nach dem historischen, von allen dogmatischen Übermalungen befreiten Jesus. In der Logienquelle sah man die älteste Schicht der Jesusüberlieferung, in der man am ehesten noch die Worte des irdischen Jesus finden konnte. Sie wurde ähnlich wie die Evangelien nicht als eigenständiger theologischer Entwurf, sondern als Sammlung von Einzelsprüchen z. B. unter ► paränetischem Gesichtspunkt angesehen. Da die Logienquelle, wie man schon damals aufgrund fehlender Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus festgestellt hat, keine Passionsgeschichte und keine Ostererzählungen enthielt und auch sonst das Passionskerygma in ihr keine Rolle spielte, betrachtete man sie häufig nur als Ergänzung des paulinisch-antiochenischen Typs urchristlicher Theologie, die als die entscheidende Form der Theologie des sich ausbildenden Christentums angesehen wurde und bei der Jesu Sühnetod und seine Auferweckung im Vordergrund standen. Adolf von Harnack legte 1907 eine erste Rekonstruktion der Quelle vor und lehnte zugleich mit Nachdruck einen Zusammenhang zwischen Q und dem Markusevangelium ab.

Als eigenständiger theologischer Entwurf wurde Q zum ersten Mal nach dem zweiten Weltkrieg von H. E. Tödt in den Blick genommen und dabei nicht mehr einfach als Ergänzung des anderswo liegenden theologischen Zentrums angesehen. D. Lührmann fragte als erster nach den Motiven der Redaktion von Q. Seither, vor allem aber seit den 80er Jahren, ist die Forschung an der Logienquelle zu einem Hauptarbeitsfeld der neutestamentlichen Wissenschaft geworden. Das große Interesse an Q hängt sicher auch damit zusammen, dass es sich hierbei, wenn man von den wenigen Jesusworten bei Paulus absieht, um das älteste Zeugnis der Jesusüberlieferung handelt. Zuverlässige Erkenntnisse über die Geschichte dieser Sammlung wären zweifellos von sehr großem Wert für die Erforschung der Geschichte der Urgemeinde und der neutestamentlichen Literatur insgesamt. Auf diese Weise würde ein tieferer Blick nicht nur in die theologische Entwicklung der sich ausbildenden Kirche in den ersten Jahrzehnten ermöglicht.

2. Der Umfang der Logienquelle

2.1 Die Unsicherheiten bei der Bestimmung der Logienquelle

Unsicherer Umfang

Grundlage für jede Rekonstruktion dieser zweiten, von Matthäus und Lukas neben dem Markusevangelium benutzten Quelle ist der den Evangelien der beiden ► Seitenreferenten des Markus gemeinsame Stoff, der sich freilich gelegentlich einer genauen Bestimmung entzieht. Insofern ist die Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit mancher Perikopen bzw. Verse zu Q durchaus diskussionswert. Nach der Zählweise des Lukasevangeliums ergibt sich für die Logienquelle ein Umfang von ca. 200 Versen. Allerdings kann außer der bereits genannten Unsicherheit nicht ausgeschlossen werden, dass die Quelle umfangreicher war, als es uns heute aufgrund des gemeinsamen Stoffes im Matthäusund Lukasevangelium erscheint. Denn da Matthäus und vor allem Lukas sich gegenüber dem Markusstoff wenigstens teilweise selektiv verhalten haben (nach Morgenthaler 283 z. B. lässt Matthäus von den 128 Perikopen des Markusevangeliums 10, Lukas 32 aus; bei fünf Auslassungen liegen Überschneidungen zwischen Lukas und Matthäus vor), ist es durchaus wahrscheinlich, dass jeder für sich auch den Stoff der Logienquelle Q nicht zu 100 % in sein Werk aufgenommen hat. Von daher ist es gut möglich, dass Stücke, die heute nur bei Matthäus oder Lukas erhalten sind und die wir aufgrund dessen auf das Sondergut der Evangelisten zurückführen, in Wahrheit aus der Logienquelle stammen. H. Schürmann hat das z. B. für Mt 5,19 aufgrund der Verwandtschaft dieses Logions mit anderen, eindeutig Q angehörenden Worten nachzuweisen versucht. Aber wir haben keine Möglichkeit mehr, die Herkunft dieses Sondergutstoffes aus Q zu kontrollieren, da wir auf die Existenz von Q überhaupt nur aufgrund der Gemeinsamkeiten von Matthäus und Lukas gestoßen sind und die Quelle entsprechend definieren.

Bei den im Matthäus- und Lukasevangelium praktisch vollkommen übereinstimmenden Versen (z. B. Lk 3,17; 4,3–12; 13,34 f.) ist die Zuweisung an die Logienquelle naturgemäß kein Problem. Schwieriger ist die Frage bei in der Sache durchaus ähnlichen, im Wortlaut aber erheblich unterschiedlichen Logien, wie z. B. in Lk 12,51–59; 14,34 f.; 17,33 f.

Das Internationale Q-Projekt

Der Umfang der Logienquelle wird angesichts der bezeichneten Unschärfen unterschiedlich bestimmt, das internationale Q-Projekt hat in seiner Ausgabe von Q die im Folgenden genannten Texte zugrunde gelegt – allerdings nicht immer in dieser Reihenfolge – (vgl. die Lit. unter 1), was natürlich eine weitere Diskussion nicht ausschließt.


Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth
3,7–9.16b.17Die Predigt des Täufers
3,21f.Die Taufe Jesu (narrativ)
4,1–13Die Erprobung Jesu (narrativ)
6,20–23.27–49Jesu erste Rede an seine Jünger
7,1.3.6b–10Der Glaube eines Heiden an Jesu Wort (narrativ)
7,18f.22–35Jesu Worte über den Täufer
In der Nachfolge Jesu
9,57–60; 10,2–16Die Missionsunterweisung an die Jünger
10,21–24Der „Jubelruf“ (das Geheimnis des Sohnes)
11,2b–4.9–13Die Gebetsunterweisung an die Jünger
Jesus in Auseinandersetzung mit seinen Gegnern
11,14–26Dämonenaustreibungen und Beelzebul-Vorwurf
11,29–35Ablehnung der Zeichenforderung
11,39–52Androhung des Gerichts über „diese Generation“
Nachfolge Jesu in der Endzeit
12,2–12.22b–31.33f.39f. 42–46.51.53.58f.Jüngermahnungen
13,18–21.24–29.34f.; 14,16–23Königsherrschaft und Gericht
14,26f.33–35; 15,4–5a.7: 16,13.16–18; 17,1–4.6Jüngermahnungen
Die Ankündigung des bevorstehenden Endes (Endzeitrede)
17,23f.26–30.33.34f.37Der Tag des Menschensohnes
19,12f.15–24–26Das Gleichnis vom anvertrauten Geld
22,28.30Das Gericht über die zwölf Stämme Israels

2.2 Der im Vergleich zum Markusevangelium unterschiedliche Stoff der Logienquelle

Fast ausschließlich Worte

Schon die zusammenfassenden Charakterisierungen dieser Abschnitte zeigen, dass es sich bei der Logienquelle in der Tat weitgehend um Überlieferung von Worten handelt. Man hat diese in Bild-, Droh- und Vergleichsworte, Makarismen und ► apophthegmatische (= pointierte) Worte eingeteilt. Ausnahmen davon sind die Erzählungen von der Versuchung Jesu (Lk 4,1–13) und die vom heidnischen Hauptmann (Lk 7,6–10) sowie Lk 11,14. Das für das Markusevangelium charakteristische Material der Streitgespräche, Wundergeschichten und Gottesreich-Gleichnisse fehlt fast ganz. Dafür begegnen Mahnreden und Drohworte, wie überhaupt das Gerichtsthema stark hervorsticht. Der Anfang mit Worten des Täufers statt mit Worten Jesu ist in jedem Falle auffällig, auch wenn die ursprüngliche Einleitung dieser Worte des Täufers in Q vielleicht nicht mehr erhalten ist. Die Tatsache, dass die für Markus typischen Gattungen in Q nicht begegnen, ist bemerkenswert und zeugt für vielfältige und unterschiedliche Tendenzen im Urchristentum. Die Adressaten der Q-Worte sind z. T. die Jünger, z. T. die allgemeine Öffentlichkeit.

 

Die Gerichtsthematik

3. Die Redaktion von Q

Q als Komposition

Ein Blick auf die zuvor genannten Einheiten zeigt, dass es sich wenigstens z. T. um thematisch geordnete Zusammenstellungen von Einzelworten handelt, so dass auf der Ebene von Q bereits eine gewisse Komposition der Worte Jesu vorgenommen worden sein muss. Da sowohl Verbindungen zwischen Worten als auch Interpretationen älterer Worte durch (jüngere) Zusätze erkennbar sind und manche Motive und Tendenzen mehrfach begegnen, ist es möglich, nach den leitenden Prinzipien dieser Komposition und Redaktion zu fragen und die einzelnen Quellen sowie die Zusätze bestimmten Schichten zuzuweisen.

Hypothetischer Charakter

Schichtenmodell

Dies ist im Grunde derselbe Vorgang wie in der redaktionskritischen Exegese der Evangelien, nur dass die Ergebnisse dieser Arbeit an der Logienquelle schon angesichts der Tatsache, dass uns diese nur als Rekonstruktion vorliegt, noch hypothetischer sind als bei den Evangelien. Es entbehrt auch nicht einer gewissen Komik, dass die wörtliche Rekonstruktion der Quellenvorlagen der Evangelisten in der Forschung in den letzten Jahrzehnten weitgehend aufgegeben worden ist (jüngste Ausnahmen bestätigen nur die Regel!), die Frage nach verschiedenen Quellenschichten und deren Textgrundlage in der Logienquelle aber zur gleichen Zeit fröhliche Urständ feiert.

Wie problematisch die Differenzierung von Q in bestimmte Schichten im einzelnen ist, kann man sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Die Annahme, dass das Selbständigwerden der Jesusbewegung ein allmählicher Prozess war und dass diese Wachtstums-Entwicklung sich auch in der „Literatur“ dieser Bewegung niedergeschlagen hat, ist von vornherein wahrscheinlich. Insofern ist die Überlegung durchaus plausibel, dass die ursprünglich vorhandene Nebeneinanderordnung von Jesus und Johannes dem Täufer allmählich zugunsten einer Überordnung Jesu abnahm. Deswegen besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die Aussagen, die Johannes und Jesus gegeneinander profilieren und Jesus den Vorrang einräumen, später sind als die Aussagen, die beide eher auf einer Ebene sehen. Problematisch dabei ist nur, dass hier von einer einsträngigen und einheitlichen Entwicklung ausgegangen wird, genau so, wie man das bei der Trennung der Jesusbewegung vom Judentum gemacht hat. Wie aber das Verhältnis zum Judentum sich in den einzelnen Gemeinden der Jesusbewegung unterschiedlich entwickelt und die Trennung deswegen zu unterschiedlichen Zeiten stattgefunden hat, kann sich auch das Verhältnis der Jesusbewegung zum Täufer und dessen Jüngern an unterschiedlichen Orten unterschiedlich entwickelt haben. Von daher ist die zeitliche Nachordnung der kritischen Worte über den Täufer hinter die unkritischen keineswegs sicher und insofern die ganze Rekonstruktion stark hypothetisch. Damit soll keineswegs das Recht entsprechender Versuche in Frage gestellt werden, sondern nur Verständnis für den stark hypothetischen und insofern auch umstrittenen Charakter der in Frage stehenden Untersuchungen geweckt werden.

Angesichts dieser Schwierigkeiten überrascht es nicht, dass einzelne Traditionen in der Überlieferungsgeschichte der Logienquelle ganz unterschiedlich eingeschätzt werden. So wird z. B. Lk 16,17 von Kloppenburg (Formation) der jüngsten Schicht von Q zugewiesen. Diese Einschätzung ist aber keineswegs allgemein anerkannt, Lk 16,17 kann auch der ältesten Schicht von Q zugewiesen werden (vgl. Horn 347352) – die Zugehörigkeit einzelner Stücke von Q zu bestimmten Schichten ist also weiterhin im Fluss.

Sachliches Ordnungsprinzip

Diese Arbeit vermag freilich auch zu gesicherten Ergebnissen zu führen, sonst könnte nicht über die Tatsache Einigkeit bestehen, dass Q den beiden Evangelisten bereits in einer nach bestimmten Kriterien erfolgten Ordnung vorgelegen hat.

Q war also keine mehr oder weniger zufällige lose Sammlung von Einzelworten, sondern war bereits nach sachlichen Gesichtspunkten gestaltet. Diese sachliche Ordnung ist nicht, wie man vermutet hat, gattungsbedingt.

Denn beim Thomas-Evangelium, einem von der Gattung her ähnlichen Exemplar einer Sammlung von Jesusworten, konnte man eine solche Ordnung jedenfalls bislang nicht feststellen.

Gattungsfrage

Die Frage, wie die Q vorausgehenden Teilsammlungen form- und gattungskritisch einzustufen sind, hat die Forschung an Q in der letzten Zeit stark bestimmt, sie ist aber offensichtlich ebenso schwierig zu beurteilen wie deren Anzahl, die in der Literatur bis zu fünf gehen kann. In der Regel begnügen sich die Autoren mit der Annahme von drei Redaktionen: Einmal der Sammlung der Grundschrift (vielleicht noch in aramäischer Sprache), dann einer Übersetzung und ersten Ergänzung dieser Grundschrift und einer abschließenden Redaktion im judenchristlich-hellenistischen Raum. Dass Q zahlreiche ► Weisheitsworte enthält, ist unbestritten, ob aber auch von einer starken weisheitlichen Prägung der Grundschrift auszugehen ist, ist unsicher. Da neben den weisheitlichen Elementen auch prophetisch-apokalyptische in Q vorhanden sind – auch diese sind übrigens als Charaktistikum der Grundschrift angesehen worden – und der eschatologische Charakter Jesu als Lehrer wohl noch stärker betont ist als der als Weisheitslehrer, sollte man besser keinen strengen Gegensatz zwischen einer weisheitlichen und einer prophetischen Grundschicht aufbauen. Beide Strömungen haben den Sammlungs- und Bearbeitungsprozess von Q beeinflusst. Neben den weisheitlichen und prophetisch-apokalyptischen Stücken finden sich in Q darüber hinaus noch Regeln für Missionare und Märtyrerparänese sowie apologetisch-polemische Stücke.

Da Q auch mit dem ► Kynismus in Zusammenhang gebracht worden ist, nimmt es nicht wunder, dass die Gattungen der Teilsammlungen auch als von außerisraelitischer Literatur beeinflusst angesehen wurden. Zeller hat aber gezeigt, dass sowohl ein Heranziehen der altorientalischen Instruktionen als auch der griechischen ► Gnomologien unnötig ist. Die Komponenten des Weisheitsbuches oder des Buches Jesus Sirach reichen aus, um die Q zugrundeliegenden Teilsammlungen der Herrenworte zu erklären (Zeller, Grundschrift 400 f.).

Kynische Beeinflussung

4. Ursprüngliche Reihenfolge und ursprünglicher Wortlaut

Lk mit ursprünglicher Reihenfolge und besserem Wortlaut

Die Ansicht, dass Lukas in seinem Evangelium die Reihenfolge und den Wortlaut von Q besser erhalten hat als Matthäus, ist in der Q-Forschung allgemein akzeptiert. Für diese These spricht zum einen, dass das beiden Evangelien gemeinsame Material bei Lukas im wesentlichen in den beiden großen Einschaltungen in den Markuszusammenhang von 6,20–8,3 und 9,51–18,14 begegnet, während es bei Matthäus über das ganze Evangelium verstreut ist. Zum anderen bringt ein Vergleich zwischen den Evangelien nach Matthäus und Markus die Tendenz des Matthäus an den Tag, sein Material aus verschiedenen Quellen zusammenzutragen und es zu thematischen Blöcken zusammenzufassen (vgl. nur Mt 8 und 9 mit den Markusparallelen). Dies ist bei Lukas nicht in vergleichbarer Weise der Fall. Darüber hinaus spricht auch der Umstand, dass Lukas im Gegensatz zu Matthäus die Markus-Reihenfolge nur in geringem Umfang geändert hat, für die größere Ursprünglichkeit der lukanischen Reihenfolge auch beim Material der Logienquelle. Diese wird deswegen in der Q-Forschung nach der lukanischen Zählweise mit dem vorangestellten Kürzel Q zitiert.

Nicht völlig identische Versionen von Q?

Die Ursachen für die Abweichungen der beiden Evangelisten im gemeinsamen Q-Stoff werden in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Während die einen diese auf die jeweils unterschiedliche Redaktion des gemeinsamen Stoffes durch die Evangelisten zurückführen, gehen andere von zwei insgesamt nicht völlig identischen Versionen der Logienquelle aus (QMt und QLk). M. E. schließt die eine Möglichkeit die andere nicht aus. Es gibt wirklich gravierende Gründe, z. B. bei den Seligpreisungen (Q 6,20 ff) oder beim Gleichnis von den Minen (Q 19,12–26) eine jeweils unterschiedliche Gestalt der Vorlage anzunehmen. Gleichzeitig gibt es aber ebenfalls gute Gründe für die Annahme, dass Matthäus und Lukas die Worte der Logienquelle mehrfach nicht wörtlich aus der Quelle in ihr Evangelium übernommen haben. Andernfalls hätten sie sich dann diesem Stoff gegenüber ganz anders verhalten als gegenüber der Markusvorlage! Insofern dürften die Unterschiede zwischen dem Matthäus- und Lukasevangelium im gemeinsamen Q-Stoff sowohl mit einer z. T. unterschiedlichen Gestalt von Q als auch mit der Redaktionsarbeit der beiden Evangelisten zusammenhängen. Im übrigen ist damit zu rechnen, dass auch die Übernahme des Materials der Logienquelle in den größeren Zusammenhang eines Evangeliums zu Veränderungen des Materials führen musste. So werden v. a. die Einleitungen der Worte verändert worden sein, wie überhaupt zu fragen ist, wie Anfang und Ende der Sammlung ausgesehen haben. Es wird in der einschlägigen Forschung damit gerechnet, dass die Sammlung ein Präskript und evtl. auch ein Schlusswort gehabt hat, das aufgrund der Übernahme der Logiensammlung in die Evangelien nicht mehr erhalten ist.

5. Die Logienquelle als Matthäus und Lukas schriftlich vorliegende Quelle

Die Frage, ob den ► Seitenreferenten des Markus die Logienquelle schriftlich vorgelegen hat, taucht schon allein deswegen immer wieder auf, weil die Quelle nicht erhalten ist. Die neueren Arbeiten stimmen aber darin überein, dass die bereits erwähnten, ganz starken Übereinstimmungen im Wortlaut die Annahme einer schriftlichen Quelle in griechischer Sprache unbedingt notwendig machen. Denn diese wörtlichen Übereinstimmungen sind auch mit der früher häufig herangezogenen größeren Gedächtniskraft damaliger, weitgehend auf mündliche Überlieferung angewiesener Menschen nicht zu erklären.

6. Die Entstehungszeit der Logienquelle

6.1 Die Spätdatierung

Um 70?

Über die Datierung besteht keine Einigkeit. Während u. a. Hoffmann mit Hinweis auf den Spruch über Jerusalem in Q 13,34 f. die Nähe dieses Wortes und damit von Q zum Jüdischen Krieg gefordert und deswegen eine Entstehung der Logiensammlung um 70 vertreten hat und Myllykoski sogar eine Entstehung nach dem Jüdischen Krieg vertritt, wird von anderen Autoren der Bezug dieses Wortes auf den Jüdischen Krieg nicht für zwingend gehalten und daher eine frühere Abfassung vertreten. Dies geschieht häufig unter Verweis auf die im Vergleich mit dem Markusevangelium schlichtere Theologie und auf die weniger ambitionierte Form. Man setzt die Entstehung der Logienquelle dann häufig um 60 an.

6.2 Die Frühdatierung

40er Jahre?

Die Datierung besonders weit zurückverlegt hat Theißen, weil er in der Versuchungsgeschichte in Q eine Reaktion auf die glücklicherweise abgewendete, blasphemische Forderung Caligulas, sein Standbild auch im jüdischen Tempel aufzustellen, sieht. Er hält die Logienquelle deswegen für noch in den 40er oder zu Beginn der 50er Jahre verfasst. Jedoch ist die Nähe der Versuchung Jesu auf dem Berge zu der Forderung Caligulas keineswegs zwingend. Myllykoski hat gewichtige Einwände dagegen vorgetragen.

Verfolgungen und Heidenmission als Kriterien zur zeitlichen Einordnung

Des weiteren hat man für eine solche frühe Entstehung von Q auf innerjüdische Verfolgungen verwiesen, die sich in einigen Q-Worten widerspiegeln (Q 6,22 f.; 11,49–51; 12,4.11 f.). Aber aus der Tatsache, dass im Neuen Testament Verfolgungen in Palästina für das Jahr 44 (vgl. Apg 12,2) und für die Zeit der Abfassung des ersten Thessalonicherbriefes (1 Thess 2,14–16) belegt sind, wird man kaum einigermaßen zwingende Gründe für die Abfassung von Q auch in dieser Zeit ableiten können. Man sollte nicht schon in sich problematische Dinge – die Frage, worauf Paulus sich in 1 Thess 2,14 mit den Verfolgungen christusglaubender Juden in Palästina konkret bezieht, ist durchaus schwierig; die Verfolgungslogien aus Q werden oft gerade herangezogen, um 1 Thess 2,14 zu konkretisieren, weil wir außer diesen und dem Zeugnis von Apg 12,12 keinen Beleg für Verfolgungen jüdischer Jesusanhänger in Palästina in den 40er Jahren haben – zur Stütze von Argumentationen machen, die zu einigermaßen sicheren Auskünften führen sollen. Das Gleiche gilt für die positiv von Heiden sprechenden Stellen Q 7,1–10; 10,13–15; 11,29–31; 14,16–24 – dass diese in der Auseinandersetzung um die Frage der Heidenmission ihren ► Sitz im Leben haben, dürfte zweifelsfrei sein. Aber Auseinandersetzungen um die Heidenmission gab es auf der einen Seite schon zur Zeit des Apostelkonvents, auf der anderen Seite spiegelt sogar noch die Redaktion des Matthäusevangeliums ähnliche Konflikte, insofern können diese Worte früh, aber auch spät entstanden sein. Für die Abfassungszeit der Sammlung von Q besagen sie nichts.

 

6.3 Die Q-Gruppe und der Gegensatz zu Israel als Kriterium für die Entstehungszeit

Gespanntes Verhältnis zu Israel als Kriterium

M. E. kann man für die Festlegung der Abfassungszeit von Q am ehesten auf das gespannte Verhältnis zwischen der die Q-Sprüche tragenden Gemeinde / Gruppe und anderen Juden abheben. Allerdings ergibt sich auch daraus nicht ein besonders scharfes Kriterium zur Bestimmung der zeitlichen Abfassung von Q. Dieser scharfe Gegensatz dürfte aber zur Zeit des Apostelkonvents noch nicht vorhanden gewesen sein, zu der die Gemeinde sich trotz der vorangegangenen Verfolgungen (vgl. Apg 6,8–8,3; 12,1 f.) noch in Ruhe in Jerusalem hat versammeln können. Insofern weist das stark gespannte Verhältnis zwischen Q-Gemeinde und Israel frühestens in die 50er Jahre.

Dass die Verschärfung der Probleme zwischen Judentum und Jesusanhängern im Vorfeld des sich länger anbahnenden Jüdischen Krieges und der parallel einhergehenden Radikalisierung vieler jüdischer Kreise zugenommen hat und von daher eher die 60er als die 50er Jahre für die Bildung von Q in Betracht kommen, kann zumindest erwogen werden.

Sollte freilich die Entwicklung zwischen Judentum und Jesusbewegung schon damals in anderen Gegenden Palästinas anders verlaufen sein als in Jerusalem, so würde auch diese Überlegung hinfällig.

7. Der Entstehungsort der Logienquelle

Griechisch als allgemeine Kommunikationssprache

Q ist stark israelorientiert. Einige Logien nennen ausdrücklich galiläische und syrische Städte (Q 10,13–15), die Gerichtspredigt des Täufers richtet sich an Israel (Q 3,7–9), die Trägergruppe ist gesetzestreu (Q 11,42 – allerdings spielt 11,42c in der Redaktionsgeschichte von Q eine wichtige Rolle und wird z. T. ebenso wie Q 16,17 als späte ► Glosse angesehen und die Toraobservanz dann auch erst in eine späte Zeit der Logien-Sammlung als Reaktion auf die offensichtliche Missachtung der Tora in den vorangehenden Schichten verlegt, vgl. Kloppenburg, Nomos; sowie ders., Sayings). Die Pharisäer gelten als Gegner der Jesusanhänger (Q 11,42). Deswegen muss Q in einer Gemeinde entstanden sein, die in Auseinandersetzung mit anderen Juden steht. Aufgrund der Abfassung in griechischer Sprache kommt Judäa selbst trotz der dort teilweise gegebenen Zweisprachigkeit für die Abfassung nicht in Frage, weil die Abfassung in Griechisch diese Sprache als allgemeines Mittel der Kommunikation voraussetzt, was für Griechisch in Judäa trotz einer gewissen Zweisprachigkeit sicher nicht gilt. Allerdings weist der deutlich noch erkennbare aramäische Ursprung einiger Q-Logien auf ihre Entstehung in Palästina und damit zugleich auf ihr hohes Alter hin. In der Regel wird Q nach Galiläa oder Syrien verlegt.

8. Die Gattung der Logienquelle

Halbevangelium

Die bereits erwähnte formkritische Charakterisierung der Q zugrundeliegenden Teilsammlungen hat auch die Gattungsbestimmung der ganzen Sammlung beeinflusst. Sie ist sowohl als Weisheitssammlung als auch als Prophetenbuch bestimmt worden. Das Vorhandensein unterschiedlicher Teilgattungen in Q hat einige Autoren aber dazu gebracht, in Q eine Größe ganz eigener Art zu sehen, die ohne Analogie in der umgebenden Literatur ist, wie wir das ja auch schon bei der Gattung Evangelium gesehen haben (vgl. oben § 2 Nr. 2.2–2.4). Bei der Logienquelle wird das m. E. dem Charakter dieser Sammlung eher gerecht als die Bezeichnung als Halbevangelium, als zweites Hauptelement der Gattung Evangelium oder ähnliche Bezeichnungen. Der Schöpfer der Gattung Evangelium, der das Schicksal Jesu in einen Spannungsbogen von seiner Taufe bis zur Auferstehung einspannte, schuf etwas Neues. Die Logienquelle, die anderes Material enthielt, das nach Ausweis der Werke der ► Seitenreferenten zur Ergänzung des markinischen Werkes geeignet war, war nicht einfach auf dem Wege dahin. Deswegen kann dieses Werk nicht als Halbevangelium o. ä. bezeichnet werden, ohne dass dem ältesten Evangelisten und seinem Werk Unrecht geschieht, so sehr durch die Anfügung (weniger) narrativer Elemente in Q bereits ein gewisser, aber wirklich nur ein gewisser, biographischer Zusammenhang entstand. Es stellt eine Übertreibung dar, hierin bereits einen entscheidenden Schritt in Richtung Evangelienbildung zu sehen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Entwicklung automatisch in Richtung Evangelium gelaufen wäre. – Etwas anderes ist es, wenn man von Q als Evangelium / gospel spricht, da dabei der Begriff „Evangelium“ nicht als Gattungs-, sondern als Inhaltskriterium verstanden ist, und in diesem Sinne kann die Logienquelle natürlich als Evangelium bezeichnet werden. Denn für die Träger der Logienquelle war Q die Gestalt ihrer Heilspredigt von Jesus Christus, der auch als Person und nicht nur als Übermittler einer Botschaft für die Q-Tradenten von Bedeutung war.

Gospel

Die nächsten Parallelen zu Q als Sammlung von Einzelsprüchen liegen im jüdischen Traktat ► Abot und aus christlicher Tradition im ► Thomasevangelium und evtl. auch im ► Philippusevangelium vor. Zu einer exakten Beschreibung von Q als Gattung führen diese Analogien freilich nicht.

9. Die Trägerkreise der Logienquelle

Wanderradikale und Sesshafte

Einzellogien von Q setzen wandernde Prediger voraus (Q 9,57–60; 10,2–12; 12,22–31.33–34), andere Logien hinwiederum passen eindeutig nicht zu solchen Wanderpredigern und müssen deswegen aus einer sesshaften Gemeinde stammen (Q 6,30; 16,13). Die Wanderprediger sind heimat- (Q 9,58) und besitzlos (Q 6,20 f.; 12,22–31.33 f.), mit Familie haben sie nichts im Sinn (vgl. Q 9,57 f; 14,26), was für die sesshafte Gemeinde alles nicht gilt. Nur den, der etwas hat, kann man sinnvollerweise zum Geben auffordern (Q 6,30)! Hinter der Logienquelle stehen also unterschiedliche Trägerkreise, zum einen Leute, die geben können, zum anderen Leute, die auf diese Gaben angewiesen sind und gleichzeitig die Besitzenden zum Geben auffordern. Ob die Armut der Letzteren freiwillig ist und zu ihrer Berufung gehört, oder ob die Armut unfreiwillig ist, wird diskutiert. Q 10,4 spricht aber doch wohl für freiwillige Besitzlosigkeit und damit für ein Ethos der Armut.

Veränderung durch Redaktion

In welchem Verhältnis die Gruppen der sesshaften und der nicht-sesshaften Tradentenkreise von Q zueinander stehen, ist schwierig zu beurteilen, es kommt sowohl ein Nacheinander als auch ein Nebeneinander in Frage, d. h. das Q-Material kann zunächst von wandercharismatischen Gruppen tradiert (und zum Teil auch gebildet) worden sein, die dann später sesshaft geworden sind, was ihr Ethos naturgemäß beeinflusst und zur Bildung von Worten geführt hat, die die neue Situation widerspiegeln. Die wandernden Missionare können aber u. U. auch von einer sesshaften Gemeinde ausgesandt worden sein und dabei parallel zur Existenz der sesshaften Gemeinde ihr Ethos entwickelt haben. Jedenfalls bestimmen die das Ethos der wandernden Prediger widerspiegelnden Worte nicht mehr die Gesamtperspektive von Q, so dass ihr Einfluss auf die Endredaktion allenfalls begrenzt gewesen zu sein scheint. Dies würde natürlich erst recht gelten, wenn diejenigen Forscher recht hätten, die diese radikalen Worte auch schon auf der Ebene von Q nur noch bildhaft verstanden wissen wollen.

Parallelen aus dem frühen 2. Jahrhundert

Die sog. Wandercharismatiker, also die nicht-sesshaften Tradenten von in die Logienquelle aufgenommenen Worten, haben in den letzten Jahrzehnten besonderes Interesse gefunden. Dass es diese in der Urkirche gegeben hat, sagt die Logienquelle nicht ausdrücklich, aber schon die paulinische Art der Verkündigung des Evangeliums bezeugt solche Existenz, wenn auch die Wandertätigkeit der Q-Boten in Galiläa und Syrien nur partiell mit den weiten Reisen des Apostels verglichen werden kann. In der ► Didache, einer Schrift aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts, werden solche wandernden Lehrer ausdrücklich genannt, und auch in den Johannesbriefen spiegelt sich dieselbe Erscheinung (2 Joh 10; 3 Joh 5–8.10). Zeigen diese Belege die Bedeutung des Phänomens bis ins zweite Jahrhundert, so wird diese noch dadurch unterstrichen, dass der zweite Johannesbrief und die Didache Beurteilungskriterien nennen, die der Gemeinde helfen sollen, zwischen echten Predigern, die zu ihr kommen, und solchen, die nur um des eigenen Vorteils willen predigend umherziehen, zu unterscheiden. Offensichtlich waren angesichts der Vielzahl solcher Wanderprediger solche Kriterien notwendig. In der ► Didache heißt es:

„Wer nun kommt und euch dies alles bisher Gesagte lehrt, den nehmt auf. Wenn aber der Lehrende selbst sich abwendet und eine andere Lehre lehrt, um (die rechte Lehre) aufzulösen, so hört nicht auf ihn; (lehrt er) hingegen, um zu vermehren Gerechtigkeit und Erkenntnis des Herrn, so nehmt ihn auf wie den Herrn.