Einleitung in das Neue Testament

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§ 3Die synoptische Frage, oder: Die literarischen Beziehungen zwischen den ersten drei Evangelien

1. Der literarische Befund I

Übereinstimmungen zwischen den ersten 3 Evangelien

Die Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas weisen in vielerlei Hinsichten große Ähnlichkeiten auf. Zwar gibt es auch Übereinstimmungen zwischen ihnen und dem Johannesevangelium, aber diese sind bei weitem nicht so stark wie die zwischen den drei zuerst genannten Evangelien. Man kann das schon daran erkennen, dass nach diesen Evangelien Jesus die meiste Zeit seiner öffentlichen Wirksamkeit in Galiläa verbringt, erst gegen Ende seines Lebens nach Jerusalem aufbricht und dort auch zu Tode kommt, während Jesus nach dem vierten Evangelium schon gleich zu Anfang seines öffentlichen Wirkens nach Jerusalem geht und dort den Tempel reinigt, wie er hier überhaupt fast ständig zwischen Jerusalem und Galiläa unterwegs ist (s. unten § 9 Nr. 3.1). Die drei genannten Evangelien stimmen also hinsichtlich des Rahmens der Wirksamkeit Jesu überein, die einsträngig von Galiläa nach Jerusalem verläuft.

Mt, Mk, Lk

Sieht man einmal von den sog. Kindheitsgeschichten ab, mit denen Matthäus und Lukas im Gegensatz zu Markus, der solche Geschichten nicht kennt, ihre Evangelien beginnen, wobei Matthäus und Lukas in diesem Erzählkranz ganz stark voneinander abweichen und praktisch keine Parallelen aufweisen, so beginnen alle drei Evangelisten die öffentliche Wirksamkeit Jesu mit der Taufe durch Johannes, den Täufer, der Versuchung Jesu durch den Teufel und schildern dann seine öffentliche Wirksamkeit in Galiläa, seinen Gang nach Jerusalem und seinen Tod. Die Ähnlichkeiten zwischen diesen drei beschränken sich aber nicht auf den äußeren Rahmen der Wirksamkeit Jesu, sondern gehen noch viel weiter. Es gibt nämlich eine ganze Reihe von „Geschichten“ in diesen drei Evangelien, in denen diese fast wörtlich übereinstimmen. Man nennt diese drei Evangelien deswegen seit dem 18. Jahrhundert auch die synoptischen Evangelien. Denn man kann sie aufgrund der großen Übereinstimmungen sowohl im Rahmen als auch im Wortlaut vieler Einzelperikopen „zusammenschauen“, was am einfachsten geht, indem man in eine „Synopse“ (= griechisch für Zusammenschau) blickt.

Allerdings eignen sich nicht alle deutschen Synopsen in gleicher Weise dafür, die wörtlichen Übereinstimmungen zwischen den drei Synoptikern zu erkennen. Dazu wird man auf eine Synopse zurückgreifen, die dieselben griechischen Wörter mit denselben deutschen wiedergibt und auch die Wortfolge des Griechischen einzuhalten versucht. Dies ist am ehesten im Synoptischen Arbeitsbuch von R. Pesch und in der Synopse des Münchener Neuen Testaments der Fall.

2. Schriftliche Quellen

Mündliche Quellen genügen nicht

Gemeinsame Quelle(n)?

Literarische Abhängigkeit?

Wenn man sich von diesen Übereinstimmungen der drei Synoptiker ein Bild machen will, sollte man einmal die Perikopen Mk 1,40–45; 8,34–9,1; 11,27–33; 13,5–8 mit den Parallelen bei Matthäus und Lukas in einer dieser Synopsen vergleichen. (Dass dieser Vergleich wissenschaftlich natürlich nur am griechischen Originaltext vollzogen werden kann, sei wenigstens angemerkt. Aber einen Überblick kann man sich auch mit einem Blick in eine dafür geeignete deutsche Synopse verschaffen.) Die Übereinstimmungen in diesen Perikopen sind so stark, dass sie kaum aufgrund der gemeinsamen Teilhabe an der einen mündlichen Tradition entstanden sein können, obwohl man auch das in der Auslegungsgeschichte vermutet hat. Sie müssen vielmehr nach allem, was wir wissen, auf schriftlichem Wege entstanden sein. Als Möglichkeiten bieten sich zwei Alternativen an: Nach der ersten hätten die Evangelisten entweder auf eine gemeinsame Quelle oder auf mehrere gemeinsame Quellen zurückgegriffen. Wegen des gemeinsamen Rahmens müsste wenigstens eine dieser Quellen schon einen den heutigen Evangelien ähnlichen Charakter getragen haben. Oder aber, so die zweite Alternative, die Evangelisten hätten in Kenntnis zumindest eines der drei Evangelien ihr Werk verfasst, sie wären also in einer noch näher zu erarbeitenden Weise voneinander abhängig.

3. Das synoptische Problem in der Alten Kirche

Die Tatsache, dass sich die ersten drei Evangelien in vielem sehr ähnlich sind, ist schon früh erkannt worden, ebenso, dass es neben diesen Übereinstimmungen auch Unterschiede und sogar Widersprüche gibt. So heißt es z. B. bei Johannes Chrysostomus (349/354–407):

Johannes Chrysostomus

„Hätte es nicht genügt, wenn ein einziger Evangelist alles berichtet hätte? Ja, es hätte genügt; aber auch wenn es vier sind, die geschrieben haben, so schrieben sie weder zur gleichen Zeit noch am gleichen Ort, und sie kamen auch nicht zusammen, um sich untereinander abzusprechen; daher ist es der beste Beweis für die Wahrheit, wenn sie wie aus einem Mund sprechen. Aber, so heißt es, gerade das Gegenteil trifft doch zu; denn oftmals wird aufgedeckt, dass sie einander widersprechen. Aber auch dies ist ein sehr großer Erweis der Wahrheit. Denn wenn sie ganz genau übereinstimmen würden, und zwar bis in die Orts- und Zeitangaben und in den Wortlaut hinein, dann würde kein Gegner glauben, dass sie das, was sie schrieben, nicht nach menschlicher Absprache geschrieben haben; denn eine so weitgehende Übereinstimmung sei kein Zeichen von Ehrlichkeit. So aber befreit sie mehr der scheinbare Widerspruch in geringfügigen Punkten von jedem Misstrauen… Wenn sie aber im Hinblick auf Zeit- oder Ortsangaben widersprüchlich berichtet haben, dann beeinträchtigt dies die Wahrheit ihrer Ausführungen überhaupt nicht“ (Hom. in Matth. I 2–4 in der Übersetzung von H. Merkel, [Pluralität 139]).

Augustinus

Augustinus (354- –430) war der erste, der sich Gedanken über schriftstellerische Beziehungen zwischen den Evangelien machte. Nach seiner Meinung sind die Evangelien in der Reihenfolge abgefasst, wie sie heute im Neuen Testament stehen, und die jeweils späteren Evangelien sind in Kenntnis der früheren abgefasst worden. Das schließt eine eigenständige Gestaltung des jeweiligen Werkes durch den betreffenden Evangelisten allerdings nach Ansicht des Bischofs von Hippo nicht aus. Das Matthäusevangelium wäre danach also das älteste Evangelium. Die Tatsache, dass das Werk des Markus trotz seiner Benutzung des ersten Evangeliums als Vorlage wesentlich kürzer als dieses ist, wird von Augustinus auch bereits reflektiert und damit erklärt, dass Markus ein Exzerpt seiner Vorlage angefertigt hat. Allerdings könnten diese Ansichten Augustins leicht missverstanden werden. Er hält die Evangelisten trotz dieser Äußerungen sicher nicht für selbständige Schriftsteller, denn er schreibt:

„quidquid enim ille [sc. Christus] de suis factis et dictis nos legere voluit, hoc scribendum illis [sc. evangelistis] tamquam suis manibus imperavit.“ „Denn was auch immer jener [sc. Christus] über seine Taten und Werke uns lesen lassen wollte, das ließ er von ihnen [sc. den Evangelisten] gleichsam wie von seinen eigenen Händen niederschreiben.“ (De cons. ev. I 35,54)

Die modernen Hypothesen über die Entstehung und die Abhängigkeitsverhältnisse der Evangelien sind aber nicht einfach als eine Fortsetzung der augustinischen Überlegungen anzusehen.

4. Der literarische Befund II

Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk

Allerdings ist mit den oben erwähnten Übereinstimmungen zwischen allen drei Synoptikern der Tatbestand der vorhandenen Ähnlichkeiten noch nicht genügend beschrieben, denn neben diesen Übereinstimmungen zwischen allen drei Synoptikern gibt es auch noch ganz starke, wörtliche Übereinstimmungen über längere Passagen ausschließlich zwischen den Werken des Matthäus und Lukas – zu diesen Abschnitten findet sich also bei Markus keine Parallele. Man kann sich einen Überblick über diese Ähnlichkeiten verschaffen, indem man Mt 3,7–10; 7,7–11; 11,4–11; 24,45–51 mit der jeweiligen Lukasparallele in einer Synopse vergleicht.

Der doppelte Tatbestand

Der Tatbestand, dessen Entstehung jede Erklärung der sog. synoptischen Frage zum Verständnis bringen muss, ist also ein doppelter: einmal die Ähnlichkeit zwischen allen drei Synoptikern, zum anderen die engen Übereinstimmungen zwischen dem Matthäus- und dem Lukasevangelium.

Betrachtet man die Übereinstimmungen aller drei Synoptiker etwas näher, so fällt auf, dass das Markusevangelium immer in der Mitte zwischen dem Matthäus- und dem Lukasevangelium steht, das bedeutet: fast der gesamte Bestand des Markusevangeliums findet sich entweder im Matthäus- und im Lukasevangelium oder in einem von beiden: Das Matthäusevangelium bietet 90 % und das des Lukas 55 % des Markusstoffes.

Markinisches „Sondergut“

Statistische Betrachtung

Reihenfolge der Perikopen

Nur drei Perikopen (Mk 4,26–29 Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat; 7,31–37 Die Heilung eines Taubstummen; 8,22–26 Die Heilung des Blinden von Bethsaida) und drei kurze Texte (Mk 3,20 f. Jesu Verwandte halten ihn für verrückt; 9,49 Das Salzen mit Feuer; 14,51 f. Das Fliehen des Jünglings) finden sich in keinem von beiden.

Nach Versen gezählt bedeutet das: Von den 609 Versen des Markusevangeliums haben nur ca. 30 kein Äquivalent bei den beiden ► Seitenreferenten. Oder bezogen auf die Wörter: Von den 11 078 Wörtern des Markus begegnen bei Matthäus 8555, bei Lukas 6737. Nach einer etwas anderen Zählung der gemeinsamen Abschnitte benutzt Matthäus 7678 und Lukas 7040 Wörter von den 10 650 des Markusevangeliums, oder bezogen auf die Reihenfolge der Perikopen: Die Evangelien des Matthäus und Lukas stimmen in der Reihenfolge immer dann überein, wenn sie mit Markus übereinstimmen. Wenn sie von Markus in der Reihenfolge abweichen, stimmen sie auch untereinander nicht überein. Die Abweichungen beziehen sich im übrigen nur auf die erste Hälfte des Markusevangeliums, denn ab Mk 6,7 gibt es zwischen dem Evangelium des Matthäus, dem des Markus und dem des Lukas in der Reihenfolge praktisch keine Abweichungen. Zwar gibt es vor allem im Werk des Lukas erhebliche Auslassungen von Markus-Stoff (Mk 6,45–8,26 = sog. große Lücke) und auch große Einschübe (Lk 9,51–18,14 = sog. große Einschaltung, ohne Parallelen bei Markus oder Matthäus), aber diese Einschübe oder Auslassungen haben keine Umstellungen von Markus-Stoff zur Folge, wie man sich an den Perikopen-Übersichten in den Synopsen leicht verdeutlichen kann (vgl. z. B. Vollständige Synopse der Evangelien, 303 ff.). Insgesamt weicht das Matthäusevangelium überhaupt nur in 12 Fällen von der Reihenfolge des Markus ab, und auch bei Lukas liegen nur ganz wenige Abweichungen von der Markus-Reihenfolge vor: Die Reihenfolge von Mk 3,7–12 und 3,13–19 ist bei Lukas vertauscht, die Berufung der Zwölf, die bei Markus auf den Sammelbericht von den Heilungen folgt, geht diesem bei Lukas voraus. Ebenso verfährt Lukas mit der Geschichte von Jesu Verwandten (Mk 3,31–34). Diese geht bei Lukas nicht wie bei Markus dem Gleichniskapitel (Mk 4,1–25) voran, sondern folgt diesem. In 4,41 hat Lukas Mk 1,34 und 3,11 f. miteinander verbunden. Bei den Perikopen Mk 1,16–20 (vgl. Lk 5,1–11) und 6,1–6 (vgl. Lk 4,16–30) dürfte es sich dagegen nicht um eine Änderung der Reihenfolge handeln, da Lukas hier einer anderen Tradition folgt.

 

Zwischen den drei synoptischen Evangelien gibt es zahlreiche Übereinstimmungen im Rahmen und in der Reihenfolge der Perikopen, in zahlreichen Perikopen finden sich auch wörtliche Übereinstimmungen von unterschiedlichem Umfang. Daneben gibt es auch eine ganze Reihe von Perikopen bei Matthäus und Lukas, in denen diese weitgehend wörtlich übereinstimmen, ohne dass zu diesen Perikopen eine Parallele bei Markus vorhanden wäre. Diesen doppelten Tatbestand gilt es zu erklären, wobei angesichts der großen Menge von wörtlichen Übereinstimmungen von vornherein mit schriftlichen Vorlagen zu rechnen ist. Allein mündliche Berichte können die zahlreichen wörtlichen Übereinstimmungen nicht erklären.

5. Für und wider die Zweiquellentheorie

Die Frage des Verhältnisses der Evangelien untereinander wurde mit dem Erwachen der kritischen Bibelwissenschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts intensiv diskutiert, und an dieser Diskussion nahmen keineswegs nur neutestamentliche Exegeten teil, wie man beispielhaft an Lessings „Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Schriftsteller betrachtet“ von 1778 sehen kann. Dementsprechend wurde seit dieser Zeit auch eine Vielzahl von Hypothesen entwickelt. Von diesen seien einige kurz erläutert. Gemäß den oben bereits genannten zwei Möglichkeiten führt eine Reihe von Hypothesen die Ähnlichkeiten auf gemeinsame Vorlagen aller drei Evangelien zurück, hat dann natürlich gewisse Schwierigkeiten mit den Übereinstimmungen im Matthäus- und Lukasevangelium ohne Parallelen im Markusevangelium. Eine andere Hypothesenreihe rechnet nicht mit einer gemeinsamen Vorlage, sondern führt die Ähnlichkeiten auf direkte Kenntnis eines oder mehrerer Evangelien zurück.

5.1 Hypothesen, die die Ähnlichkeiten zwischen den synoptischen Evangelien auf eine gemeinsame Quelle zurückführen

Mündliches aramäisches Evangelium als Quelle

a) Die Traditionshypothese: Hiernach hat sich schon bald bei den Aposteln in Jerusalem ein mündliches Evangelium in aramäischer Sprache herausgebildet und dieses hat die Synoptiker beeinflusst. Der dahinter stehende Gedanke der mündlichen Tradition ist zweifelsohne berechtigt. J. G. Herder hat erstmals darauf hingewiesen.

Schriftliche Sammlungen als Quellen

b) Die Fragmentenhypothese: Hier werden (z. B. von F. Schleiermacher) statt der nur mündlich überlieferten Vorlagen in der Traditionshypothese bereits schriftlich formulierte Quellen als Vorlagen für die Synoptiker angenommen, die aber nicht schon den Charakter von Evangelien trugen, sondern Sammlungen von bestimmten Gattungen waren, z. B. eine Sammlung von Wundergeschichten, von Reden, sowie der Passions- und Auferstehungsberichte.

Übersetzungen einer Apostelschrift?

c) Die Urevangeliumshypothese: Hier werden die synoptischen Evangelien als verschiedene Übersetzungen einer sehr alten Apostelschrift angesehen. Die Urevangeliumshypothese unterscheidet sich von der unter a) erwähnten Traditionshypothese durch die Schriftlichkeit der Vorlage, sie wurde z. B. von Lessing und J. G. Eichhorn vertreten.

5.2 Hypothesen, die die Ähnlichkeiten zwischen den synoptischen Evangelien auf eine gegenseitige Kenntnis zurückführen: Benutzungshypothesen

Wir haben schon gesehen, dass Augustinus bereits eine Benutzungshypothese vorgetragen hat. Diese Hypothese wirkt teilweise bis in die Gegenwart nach.

Mt – Lk – Mk

a) Grieshach-Hypothese: Die Evangelien sind in der Reihenfolge Matthäus-, Lukas- und Markusevangelium abgefasst und der jeweils spätere Autor kannte die Werke der Vorgänger, d. h. das Matthäusevangelium ist das älteste, Lukas kannte dieses und Markus kannte beide Evangelien.

Mk und eine weitere Quelle für Mt und Lk

b) Die Zweiquellentheone: Hier wird eine Kenntnis des Markusevangeliums durch Matthäus und Lukas angenommen. Markus schrieb also als erster und Matthäus und Lukas benutzten sein Evangelium für ihre Werke. Daneben benutzten Matthäus und Lukas noch eine weitere gemeinsame Quelle.

Benutzungs-hypothesen

Die heute vor allem im europäischen Raum fast einhellig oder zumindest Bern ganz überwiegend akzeptierte Benutzungshypothese in Form der Zweiquellentheorie wurde erstmals 1838 gleichzeitig, jedoch unabhängig voneinander, von dem Leipziger Philosophen Ch. H. Weisse und von dem Schriftsteller und neutestamentlichen Exegeten Ch. G. Wilke vorgetragen und hat sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts vor allem unter dem Einfluss der 1863 erschienenen Arbeit „Die synoptischen Evangelien“ von H. J. Holtzmann durchgesetzt. Katholische Exegeten durften allerdings aufgrund zweier Dekrete der Päpstlichen Bibelkommission von 1911 und 1912 diese Hypothese nicht vertreten, und der Straßburger Exeget F. W. Maier musste, weil er in einem Kommentar die Zwei-Quellen-Theorie vertreten hatte, 1912 seine Stelle in Straßburg räumen. Die Benutzung einer schriftlichen Quelle wird heute aber durchweg angenommen, und es wird des weiteren in der Regel davon ausgegangen, dass diese eines oder mehrere der uns vorliegenden Evangelien war / waren. Im wesentlichen werden deswegen heute vor allem die zwei Theorien vertreten, die beide die Benutzung von einem oder zwei der uns überlieferten Evangelien annehmen, weswegen sie beide als Benutzungshypothesen zu bezeichnen sind, die Griesbach-Hypothese (oben 5.2 a) und die Zweiquellentheorie (oben 5.2 b).

Die heute allgemein vertretene Theorie

Allerdings darf man diese beiden Lösungen nicht einfach gleichberechtigt nebeneinander stellen, weil die übergroße Mehrheit der Exegeten, vor allem, wenn man auf den deutschsprachigen und europäischen Raum blickt, die Benutzungshypothese in Form der Zweiquellentheorie für allein angemessen hält. Über die oben bereits getroffene Charakterisierung dieser Theorie hinaus beschreibt die Zweiquellentheorie die zweite, von Matthäus und Lukas neben dem Markusevangelium benutzte Quelle noch etwas genauer und bezeichnet sie, weil sie bis auf die Wunderheilung am Knecht des Hauptmanns von Kafarnaum und die Versuchungsgeschichte ausschließlich Worte (gr.=Logien) Jesu enthält, als Logienquelle (Sigel: Q, von Quelle). Das ausschließlich bei Matthäus oder Lukas begegnende Erzählgut hat nach dieser Theorie beiden dann als sog. Sondergut vorgelegen, d. h. die Tatsache, dass dieses nur bei einem der beiden ► Seitenreferenten vorliegt, wird als Hinweis darauf verstanden, dass es in der gemeinsamen Quelle Q nicht enthalten war und den Evangelisten auf andere Art zugekommen ist. Die Benutzungshypothese in Form der Zweiquellentheorie lässt sich durch folgendes Schaubild verdeutlichen:


Die Nennung von Mt und Lk mit Fragezeichen unter dem Sigel Q weist daraufhin, dass eine Reihe von Autoren annehmen, dass Mt und Lk die Logienquelle nicht in total identischer Fassung vorlag, sodass mit einer mt und einer lk Q-Fassung als Vorlage zu rechnen ist.

Neo-Griesbach-Hypothese

Nachdem man einige Zeit nach dem zweiten Weltkrieg offensichtlich geglaubt hatte, die synoptische Frage sei definitiv im Sinne der dargestellten Zweiquellentheorie entschieden, hat in den letzten Jahrzehnten eine kleinere, allerdings sehr rührige Gruppe vor allem in den USA der Zweiquellentheorie widersprochen. Diese Gruppe vertritt die seinerzeit von dem Jenaer Exegeten Johann Jakob Griesbach (1745–1812) vorgetragene und auch nach ihm benannte Hypothese (s. oben 5.2 a); dass es auch noch andere Theorien gibt, die gegenwärtig diskutiert werden, z. B. die Benutzung des Matthäusevangeliums nur als Nebenquelle, übergehe ich hier und verweise dazu auf den Beitrag von F. Neirynck in dem von Strecker herausgegebenen Sammelband). Nach der sog. Neo-Griesbach-Hypothese hat also Matthäus als erster sein Evangelium verfasst, Lukas schrieb nach ihm und in Kenntnis des Matthäusevangeliums. Markus schrieb als letzter in Kenntnis beider Vorgängerwerke. Im Schaubild:


Dass beide Theorien auf den ersten Blick durchaus eine gewisse Plausibilität haben, kann man sich schön an Mk 1,32 verdeutlichen: Während die Griesbach-Hypothese in der markinischen Zeitangabe eine Kompilation aus den Angaben bei Matthäus und Lukas sieht, nimmt die Zweiquellentheorie an, Matthäus und Lukas hätten wegen – der übrigens typisch markinischen – Doppelung der Zeitangaben je eine herausgegriffen und als Einleitung für den folgenden Sammelbericht verwandt. Allerdings gilt für alle diese Theorien: Sie müssen nicht nur an einem Beispiel überzeugen, sondern alle Tatbestände plausibel erklären.

6. Die Entscheidungsgründe

6.1 Gründe für die Zweiquellentheorie

Die Reihenfolge der Perikopen

Man hat die Reihenfolge der Perikopen immer wieder als das entscheidende Argument für die Lösung des synoptischen Problems im Sinne der Zweiquellenhypothese beansprucht (vgl. nur W. G. Kümmel, Einleitung 30 ff.). Aber auch W. R. Farmer als Protagonist der (Neo-) Griesbach-Hypothese und andere Verfechter dieser Hypothese haben sich ebenso auf dieses Argument gestützt, so dass auf den ersten Blick dieses Argument offensichtlich nicht sticht. Morgenthaler hat aber darauf hingewiesen, dass eine sachliche und nicht nur ausschließlich statistische Würdigung der Reihenfolge eindeutig für die Zweiquellentheorie spricht. Denn während sich die Umstellungen des Matthäus auf der Basis des Markusevangeliums als Vorlage hervorragend begründen lassen (vgl. dazu, dass Matthäus die Zusammenstellung der Wundertaten in Kap. 8 und 9 eindeutig zur Vorbereitung der Aussendungsrede in Kap. 10 und zugleich zur exakten Übereinstimmung mit der Antwort auf die Täuferanfrage in 11,4 ff. gebildet hat, Morgenthaler 284), gilt dies für den umgekehrten Vorgang gerade nicht: Es „sind keine Gründe von entsprechendem Gewicht für eine Umstellung dieser Perikopen durch Markus bei einer Mt-Priorität geltend zu machen“. Zu derselben Würdigung führen bei Morgenthaler auch die Umstellungen in der Satzfolge bei Matthäus und Lukas gegenüber Markus: „Die Satzumstellungen des Mt und Lk sind mit einer Mk-Priorität eindeutig erklärbar. Umgekehrt ergeben sich bei andern Prioritäten die größten Schwierigkeiten“ (284).

Das bessere Griechisch

Auffällige Mängel im Zusammenhang bei Mt

Zugunsten der Zweiquellentheorie lassen sich des weiteren folgende Gründe anführen:

a) Das Griechisch des Markus ist wesentlich schlechter als das des Matthäus und Lukas. Insofern lässt sich das an einigen Stellen rein sprachlich und nicht sachlich bedingte bessere Griechisch bei den ► Seitenreferenten eher als matthäische und lukanische Verbesserung denn als markinische Verschlechterung verstehen.

b) Bei Matthäus und Lukas finden sich an einigen Stellen Zusammenhänge, die besser bei einer Abhängigkeit der Seitenreferenten von Markus als bei einer Abhängigkeit des Markus von Matthäus und Lukas verstehbar sind. So sagt Matthäus in 9,2: „Als Jesus ihren Glauben sah“ – diese Bemerkung gibt im Kontext des Matthäusevangeliums zwar durchaus noch einen gewissen Sinn, kann sie doch auf das Herbeibringen des Gelähmten auf einer Bahre bezogen werden. Wenn solche schlichte Bemühung um ein Wunder aber bereits als deutlich sichtbares und besonderes Zeichen des Glaubens anerkannt wird, erübrigen sich einige Diskussionen über den Glauben bei den Synoptikern, denn z. B. in Mk 9,14 ff. hat der Vater seinen epileptischen Sohn auch zu Jesus gebracht, ist freilich nur auf dessen Jünger gestoßen. Dennoch scheint der Glaube des Vaters für ein Wunder nicht ohne weiteres zu genügen. Viel verständlicher wird diese Bemerkung des Matthäus (und des Markus) auf dem Hintergrund des Markusevangeliums, weil dort die Träger des Gelähmten erst das Dach abdecken und ein Loch graben müssen, um den Kranken vor Jesus herablassen zu können. Hier kann man den besonderen Glauben der Leute wirklich an ihren Taten sehen, und das lässt diese Bemerkung im markinischen Zusammenhang auch sinnvoll sein. Matthäus, der großes Interesse am Thema des Glaubens hat (vgl. nur die Hinweise auf mangelnden Glauben der Jünger in Mt 6,30;8,26;14,31;16,8), lässt deswegen diese Bemerkung stehen, ohne zu merken, dass sie angesichts des Wegfalls des seiner häufig zu beobachtenden Kürzungstendenz zum Opfer gefallenen Aufgrabens des Daches (vgl. Mt 8,2 parMk 2,3–5) nun in der Luft hängt. Aber natürlich kann man – auf der Basis der Griesbach-Hy-pothese – nicht völlig ausschließen, dass Markus sich durch die etwas in der Luft hängende Bemerkung des Matthäus veranlasst sah, diese zu präzisieren. Aber insgesamt erscheint die Entwicklung von Markus zu Matthäus doch wahrscheinlicher.

 

c) Noch deutlicher, aber gleichwohl ebenfalls nicht zwingend ist auch ein Beispiel aus dem Lukasevangelium: Lk 23,18 – diese Bemerkung des Lukas hängt völlig in der Luft, weil von dem Brauch, zu ► Passa einen Gefangenen freizulassen, bei Lukas weder vorher noch nachher die Rede ist, wohl aber in Mk 15,6 und Mt 27,15. Wie unverständlich der Zusammenhang ist, kann man schon daran erkennen, dass spätere Abschreiber sich genötigt sahen, eine entsprechende Erklärung in den Lukastext einzuschieben. Man kann sich von diesem Problem übrigens nicht durch den Hinweis befreien, der in Frage stehende Brauch sei damals allgemein bekannt gewesen und habe daher von Lukas an dieser Stelle nicht eigens erwähnt werden müssen. Denn es gibt keinen einzigen außerneutestamentlichen Hinweis dafür, dass es diesen Brauch überhaupt gegeben hat. Nach der Neo-Griesbach-Hypothese müsste Lukas die Bemerkung des Matthäus: „Jeweils zum Fest pflegte der Statthalter einen Gefangenen freizulassen“ ausgelassen, Markus sie aber wieder übernommen haben. Erklärt hier nicht der Markustext als Mitte zwischen den Evangelien des Matthäus und Lukas den Tatbestand besser? Der eine übernahm die Bemerkung des Markus, der andere ließ sie weg!

d) Dass die erwähnten Perikopen des Markusevangeliums (Mk 7,31–37; 8,22–26) sowohl von Matthäus als auch von Lukas ausgelassen werden, lässt sich zumindest bei den zwei Wundergeschichten gut verstehen, da diese mit ihren Manipulationen einen eher anstößigen Eindruck erwecken, das Auslassen des Gleichnisses von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29) durch beide ► Seitenreferenten erschließt sich dagegen nicht so leicht dem Verstehen.

e) Diese Schwierigkeiten sind aber – und das zu betonen ist sehr wichtig – auf dem Hintergrund der Griesbach-Hypothese wesentlich größer, weil dann plausibel erklärt werden muss, warum Markus auf so viel Material, wie er es bei Matthäus und Lukas vorfand, verzichtete, zumal die große wörtliche Übereinstimmung der beiden Evangelien in einem größeren Teil ihres Stoffes auf Markus ihren Eindruck nicht verfehlt haben wird, gerade dieser Teil (= Q) aus den Evangelien des Matthäus und Lukas bei Markus aber fehlt. Sollte Markus, von dem man ja begründet zumindest annehmen kann, dass er das Vaterunser gekannt hat, dieses in seinem Werk wirklich ausgelassen haben, wenn er es sowohl im Matthäus- als auch im Lukasevangelium las? Der Verzicht des Lukas auf Teile des Matthäusevangeliums (auf dem Hintergrund der Griesbach-Hypothese) ließe sich freilich eher nachvollziehen, da bei Lukas auch auf der Basis der Zweiquellentheorie mit größeren Auslassungen zu rechnen ist. Welche kaum vorstellbaren Verrenkungen aber diese Hypothese für die Arbeit des Markus verlangt, sei mit einem Zitat Morgenthalers veranschaulicht:

Auffällige Mängel im Zusammenhang bei Lk

Probleme der Neo-Griesbach-Hypothese

„Warum sollte er (sc. Markus), falls er neben Mt noch Lk vor sich hatte, aus Harmonisierungsgründen noch so und so viele Texte ausgemerzt haben, die er bei Mt und Lk in nahezu 100 %igem Gleichlaut und im gleichen Kontext las, z. B. die Bußpredigt des Täufers (Mt 3,7–10; Lk 3,7–9)? Aber noch schlimmer: Warum sollte er Mt so radikal gekürzt haben, um gleichzeitig eine große Zahl der Perikopen, die er noch übernahm, mehr oder weniger stark zu erweitern?Die Jairusperikope hätte Mk nahezu verdreifacht, die Gerasener- und die Epileptikerperikope mehr als verdoppelt…“ (286).

Dubletten und Doppelüberlieferungen

f) Während auf der B asis der Zweiquellentheorie wirklich zahlreiche Arbeiten entstanden sind, die den Weg von Markus zu Matthäus bzw. Lukas plausibel beschreiben, sind entsprechende Arbeiten auf der Basis der neuen Griesbach-Hypothese bislang kaum vorgelegt worden. Soweit sie vorgelegt wurden, sind sie in der Regel, sogar auch von Verfechtern der Griesbach-Hypothese selbst, als unbefriedigend bezeichnet worden.

g) Im Matthäus- und Lukasevangelium finden sich eine Reihe von ► Dubletten, d. h. von Texten, die der jeweilige Evangelist zweimal in sein Evangelium aufgenommen hat (vgl. dass Matthäus den Spruch vom Jonaszeichen in 12,39 in Parallelität zu Lukas und in 16,4 in einem markinischen Zusammenhang bietet; weitere Dubletten finden sich in Mt 5,32 parLk und 19,9 parMk, dem Verbot der Ehescheidung, und in 18,8 f. und 5,29 f., dem Wort vom Ärgernis, sowie in Mt 3,2/4,17; 16,19/18,18; 24,42/25,13; im Lukasevangelium bilden die Jüngeraussendungen in Kap. 9 und 10 eine Dublette) und eine Reihe von ► Doppelüberlieferungen, d. h. von Texten, die in zwei Evangelien unterschiedlich überliefert sind (vgl. z. B Mt 13,12/Mk 4,25/Lk 8,18 und Mt 25,29/Lk 19,26 „Wer hat, dem wird gegeben werden“ – vgl. dazu die Listen bei Morgenthaler 128 ff. 140 ff. 284 ff.). Angesichts der Tatsache, dass es im Markusevangelium nur eine solche Dublette gibt (Mk 9,35/10,43 f.), spricht auch das Vorliegen von mehreren Dublettenund Doppelüberlieferungen bei Matthäus und Lukas dafür, dass diese Evangelien später als das Markusevangelium entstanden sind. Nach der Neo-Griesbach-Hypothese müsste Markus als der letzte der Drei alle Dubletten beseitigt haben. Er hätte sich damit ganz anders verhalten als seine Vorgänger, die diese Scheu vor ► Dubletten / ► Doppelüberlieferungen offensichtlich nicht gehabt haben. Da bei diesen Dubletten und Doppelüberlieferungen mehrfach jeweils eine Fassung im markinischen Zusammenhang begegnet und die andere nicht, ist auch dieser Tatbestand ein Argument für die Mischung von zwei unterschiedlichen Traditionsbeständen und damit für die Zweiquellentheorie.

h) Nach der (Neo-)Griesbach-Hypothese basiert ein Großteil der Übereinstimmungen zwischen Matthäus- und Lukasevangelium auf der Kenntnis des Matthäusevangeliums durch Lukas, und die erheblichen, teilweise über mehrere Zeilen identischen Wörter und Wortfolgen sollen zeigen, dass Lukas hier teilweise schlicht den Text des Matthäus übernommen hat. Kann diese Hypothese auf dem Hintergrund dieser Erkenntnis auch plausibel erklären, dass zwischen der Kindheitsgeschichte des Matthäus und des Lukas praktisch keine Übereinstimmungen bestehen, wenn man einmal von der Nennung Josephs und Marias als der Eltern Jesu absieht, und dass auch die matthäischen großen Reden im Lukasevangelium nicht vorkommen, sondern deren Material – wörtlich übereinstimmend – an ganz verschiedenen Stellen im dritten Evangelium auftaucht? Ob man sich für die Zwei-Quellen-Theorie entscheidet oder nicht, hängt unter anderem davon ab, ob man es für plausibler hält, dass Lukas den matthäischen Redenstoff in einzelne Teile zerschnitten und an verschiedenen Stellen seines Evangeliums untergebracht hat oder dass Matthäus und Lukas den Redenstoff in unterschiedlichen kleinen Einheiten in ihrer Quelle vorgefunden haben und dass Matthäus daraus im Gegensatz zu Lukas größere Redenkomplexe gebildet hat.