Einleitung in das Neue Testament

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I Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte


§ 2Evangelium als Literaturgattung

1. Das Evangelium und die Evangelien

Das eine Evangelium

Wir reden heute wie selbstverständlich von den Evangelien und meinen damit in der Regel die vier Werke des Neuen Testaments, die in der Form einer Erzählung des Lebens Jesu erscheinen. Diese Redeweise kennt das Neue Testament selbst nicht, der Begriff Evangelium begegnet in ihm ausschließlich im Singular, den Plural findet man zum ersten Mal in der Apologie des Märtyrers Justin († 165: „Denn die Apostel haben in den von ihnen stammenden Denkwürdigkeiten, welche Evangelien heißen, überliefert …“ [Apol I 66,3] – der Verdacht, bei der identifizierenden Formel „welche Evangelien heißen“ handele es sich um eine ► Glosse, hat sich nicht bestätigt). Doch auch bei der Verwendung des Plurals steht im zweiten Jahrhundert die in den neutestamentlichen Schriften betonte Einheit der Frohbotschaft noch ganz im Vordergrund, weswegen man in dieser Zeit vom „Evangelium nach …“ (vgl. die in dieser Zeit entstandenen Evangelienüberschriften) oder vom „dritten Buch des Evangeliums nach Lukas“ (► Canon Muratori) spricht. Die Einheit des Evangeliums betont auch der Ausdruck des Irenäus von Lyon († Ende des zweiten Jahrhunderts) von dem einen Evangelium in vier Gestalten. Nachdem die Sammelbezeichnung Evangelien gefunden war, war die Übertragung des bereits im Neuen Testament begegnenden, aber dort nicht auf die Autoren der vier Schriften angewandten Begriffs „Evangelist“ (Apg 21,8; Eph 4,11; 2 Tim 4,5 – an letzterer Stelle übersetzt die EÜ nicht wörtlich, zutreffender: „verrichte das Werk eines Evangelisten“) auf die Autoren dieser Werke nicht mehr fern. Sie begegnet erstmals zu Beginn des dritten Jahrhunderts bei Hippolyt von Rom (etwa 160–235), Origenes (185–254) und Tertullian (160–220).

Der Sprachgebrauch der 4 Evangelien und die Alte Kirche

Sehen wir einmal davon ab, dass mit Evangelien auch später entstandene Werke bezeichnet werden, die von der Kirche nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen wurden (sog. ► apokryphe Evangelien), so scheint die Anwendung dieses Begriffs auf die von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes geschaffenen Werke schon deswegen völlig berechtigt zu sein, weil Markus sein Werk über das Leben Jesu mit den Worten „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“ beginnt (- die Frage, ob neben diesem Verständnis des Genitivs „Jesus Christus“ als genitivus objectivus auch und möglicherweise zugleich ein Verständnis als genitivus subiectivus möglich ist, braucht in unserem Zusammenhang nicht entschieden zu werden). Da keiner der übrigen Evangelisten dem Sprachgebrauch des Markus gefolgt ist und sein Werk in ähnlicher Weise gleich in der ersten Zeile als Evangelium bezeichnet hat und da Lukas sowie Johannes den Terminus in ihren Evangelien überhaupt nicht gebrauchen, dennoch aber diese Werke schon in der Alten Kirche als Evangelien bezeichnet werden, ist eine Nachzeichnung der Entwicklung des Begriffs angebracht.

1.1 Der älteste noch erkennbare Sprachgebrauch

1.1.1 Evangelium als Heilspredigt von Gottes Handeln in Jesus Christus

Evangelium bei Paulus

Der markinische Gebrauch des Wortes Evangelium ist keineswegs der älteste und sicher auch nicht der ursprüngliche. Denn diesen finden wir bei Paulus. In seinen Briefen findet sich bei 46 Belegen v. a. ein vierfacher Gebrauch: In mehr als der Hälfte der Vorkommen wird der Begriff absolut, also ohne nähere Erklärung, gebraucht (Röm 1,16; 10,16; 11,28 u. ö.). Dies ist ein deutlicher Hinweis, dass Paulus hier einen ihm und seinen Lesern vertrauten Begriff benutzt, den er auch selbst schon übernommen hat. An den übrigen Stellen spricht Paulus vom „Evangelium Gottes“ (z. B. Röm 1,1; 15,16), vom „Evangelium Christi“ (Röm 15,19; 1 Kor 9,12) und von „meinem Evangelium“ (z. B. Röm 2,16; 16,25) und meint damit die Verkündigung des Christusereignisses, also die mündliche Predigt von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus. Diese Verkündigung ist nicht Menschen-, sondern Gotteswort (vgl. 1 Thess 2,13; 2 Kor 2,17; 4,2; 1 Kor 14,36) und ergeht in der Urchristenheit in unterschiedlichen Formen und Gestalten, z. B. als Missionspredigt vor „Ungläubigen“ oder als Verkündigung vor bereits an Christus Glaubenden.

Evangelium als Verkündigung

Evangelium als Glaubensformel

Die Vielgestaltigkeit des Evangeliums bezeugt Paulus in seinen Schriften. In 1 Kor 15,1 bezeichnet er die von ihm selbst schon (in Antiochien?) übernommene und von ihm den Korinthern übergebene zusammenfassende Glaubensformel von Jesu Tod und Auferweckung (1 Kor 15,3–5) als Evangelium. In Röm 1,3 f. nennt er eine andere Formel, die er im Folgenden zitiert und die nicht wie 1 Kor 15,3–5 das Lebensende und die Auferweckung, sondern den Lebensanfang und die Auferweckung Jesu in den Blick nimmt, Evangelium Gottes: „das Evangelium von seinem Sohn, der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids, der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten“. An dieser Stelle wird der christologische Inhalt des Evangeliums Gottes ganz deutlich.

Zielt die Bezeichnung Evangelium an den genannten Stellen eindeutig auf den Inhalt der Verkündigung, so kann Paulus sie an anderen Stellen auch auf die Tätigkeit der Verkündiger beziehen. Beide Verständnismöglichkeiten des Begriffs Evangelium begegnen in 1 Kor 9,14 direkt nebeneinander: „So hat auch der Herr denen, die das Evangelium (= Inhalt) verkündigen, geboten, vom Evangelium (= von dessen Verkündigung) zu leben.“

1.1.2 Die Integration der Jesuserzählungen ins Evangelium durch Markus

Das Neue des mk Sprachgebrauchs

Der Inhalt des Evangeliums konnte – das zeigen diese vorpaulinischen Stücke – mit Hilfe unterschiedlicher Formeln vorgetragen werden, aber er war eindeutig christologisch geprägt. Das bedeutet aber nicht, dass zum Evangelium ebenso wie die Glaubensformeln auch die Erzähltraditionen und die Worte Jesu, die wir in den Evangelien finden, gehört hätten. Das ist zwar immer wieder nicht nur unter Verweis auf Apg 10,36 ff. behauptet worden, weil man dort ein altes Predigtschema zu finden meinte. Aber die Annahme, dass Lukas hier auf ein Predigtschema der Urkirche zurückgreift, hat sich nicht bewährt. Wenn Markus den Terminus Evangelium für eine Schilderung des irdischen Lebens Jesu benutzt, so gebraucht er diesen Terminus atypisch und schafft etwas Neues, weil wir kein Zeugnis aus der dem Markusevangelium vorangehenden christlichen Literatur (d. h. konkret: bei Paulus; in Q [s. dazu unten § 4] begegnet der Begriff nicht, wohl aber das dazu gehörige Verb; selbst im Evangelium des Markus können alle Belege für „Evangelium“ vom Evangelisten selbst stammen) haben, in dem der Begriff für episodische Erzählungen aus dem Leben Jesu gebraucht wird.

Evangelium und Erzähltradition

Die Frage, ob Markus damit eine Gattungsbezeichnung schaffen wollte, ist m. E. weniger wichtig. Entscheidend ist, dass nach dem bei ihm vorliegenden Sprachgebrauch die Erzähltraditionen über Jesus und die Worte Jesu zum Evangelium gehören. Das war noch bei Paulus ganz anders. Bei ihm finden sich zwar die meisten Belege für „Evangelium“, aber im Zusammenhang mit diesem Terminus spielen Erzählungen über Jesus oder Worte Jesu keine Rolle, wie Paulus in seinen Briefen ja überhaupt nur ganz selten Bezug auf ein Wort oder eine Tat des irdischen Jesus nimmt, wenn man vom Kreuz einmal absieht. Deswegen ist es keineswegs ausgeschlossen, dass von Anfang an in der Verkündigung der Urchristenheit solche Erzählungen, wie sie in den Evangelien erhalten sind, erzählt und überliefert wurden. Dies ist im Gegenteil sogar sehr wahrscheinlich, weil man sich sonst fragen muss, woher viele Geschichten, die den Eindruck früher Entstehung erwecken, denn überhaupt stammen sollen. Aber als Evangelium wurden diese Geschichten nach allem, was wir noch erkennen können, nicht bezeichnet. Dies ist erst durch Markus geschehen.

Eine andere Frage ist, ob nicht diese Tendenz zur Integration der Jesusworte und -erzählungen ins Evangelium letztlich von den kerygmatischen Formeln selbst gefördert wurde, insofern die in diesen genannten Stationen des Lebens Jesu zu einer Erweiterung durch weitere Einzelheiten aus dem Leben Jesu geradezu aufforderten. Dieser Annahme wird man durchaus positiv gegenüberstehen können, allerdings darf man dabei nicht so weit gehen, dass die Evangelien aus dieser latenten Tendenz der kerygmatischen Formeln zur Auffüllung quasi wie von selbst entstehen mussten. Denn bei Paulus ist eine Entwicklung zu einer größeren Bedeutsamkeit von Erzähltraditionen in keiner Weise erkennbar, und die Logienquelle (s. dazu unten § 4) zeigt, dass die Sammlung der Jesustradition keineswegs notwendig in den Erzählzusammenhang eines Evangeliums münden musste. Von daher scheint mir die Annahme immer noch am besten begründet zu sein, dass die Christenheit Markus zwei Dinge verdankt: Zum einen die Schaffung eines Erzählzusammenhangs über das Leben Jesu und zum anderen die Integration dieses Zusammenhangs in die Heilspredigt von Jesus Christus, das Evangelium. Markus ist der Schöpfer der Gattung Evangelium. Er legte auf die Erhaltung und Sicherung des in sein Werk integrierten Materials großen Wert und schätzte dieses Material so hoch, dass er es für einen wesentlichen Bestandteil des Evangeliums hielt. Deswegen wandte er erstmalig den Begriff des Evangeliums auch auf die Taten und Worte Jesu an. Nach dem markinischen Verständnis erschöpft sich die Heilspredigt also nicht in der Predigt von Jesus Christus und seinen heilsentscheidenden Taten, sondern die Weiterverkündigung von Jesu übrigen Taten und Worten gehört ebenso dazu, auch diese ist „Evangelium“.

 

Mk als Schöpfer der Gattung Evangelium

1.1.3 Jesus-Erzählungen und Heilspredigt bei den übrigen Evangelisten

Evangelium ohne „Evangelium“

Die anderen Evangelisten sind ihm in diesem Verständnis der Erzählungen von und über Jesus als Evangelium und genuiner Bestandteil der Heilspredigt gefolgt, auch wenn Lukas und Johannes den Begriff „Evangelium“ nicht einmal in ihr Werk aufgenommen haben (Lukas benutzt das Wort allerdings zweimal in der Apostelgeschichte). Schon die Angabe des Zieles im Lukas- und Johannesevangelium, das deren Autoren mit ihren Werken verfolgen (Lk 1,1–4; Joh 20,30 f.), weist eindeutig in diese Richtung. Ihre beiden Erzählungen in der Form eines Lebens Jesu zielen wie das paulinische Evangelium auf das Heil, sind diese Erzählungen doch Aufforderung zum Glauben oder der Versuch von dessen Sicherung. Obwohl sie also den Begriff nicht verwenden, sind sie im Ziel mit Markus und Paulus einig und insofern verdient ihr Werk durchaus die Bezeichnung Evangelium. Im Matthäusevangelium weist die Bezeichnung „dieses Evangelium“ (24,14; 26,13) auf das Verständnis des eigenen Werkes als Heilspredigt hin.

Es entbehrt im übrigen nicht einer gewissen Ironie, dass im weiteren Verlauf der Geschichte des Christentums der von Markus ja doch erst ziemlich spät inaugurierte Gebrauch des Wortes Evangelium dessen ursprüngliche Verwendung so schnell verdrängt hat, dass Origenes sich schon zu dem Hinweis veranlasst sah, das Evangelium sei auch in den Briefen zu finden (Johannes-Kommentar 1,3).

1.2 Die Wurzeln des neutestamentlichen Begriffes „Evangelium“

Woher der Begriff Evangelium im Neuen Testament überhaupt kommt, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Es werden zwei „Ableitungen“ vertreten. Die eine knüpft vor allem an den Sprachgebrauch des Alten Testaments an, der allerdings sehr differenziert ist, die andere basiert auf dem Sprachgebrauch im ► Kaiserkult.

1.2.1 Die Ableitung des Begriffes „Evangelium“ aus der alttestamentlich-jüdischen Tradition

Der gemischte atl Befund

Der Begriff Evangelium begegnet in der LXX dreimal, aber nie im Singular (zusätzlich einmal in der weiblichen Form), und trägt dort keine theologische Bedeutung. Auch das hebräische Äquivalent (besorah) hat keine theologische Prägung. Da die Rabbinen das Wort sowohl für eine gute als auch für eine schlechte Nachricht benutzen können, gibt es auch bei ihnen vom Substantiv keine Brücke zum neutestamentlichen, eindeutig positiven und theologisch gefüllten Gebrauch des Wortes Evangelium. Das ist allerdings beim Verb anders. Dieses begegnet im Alten Testament nicht nur häufiger, sondern wird dort, wenn auch bei weitem nicht in allen Belegen, mitunter in einem theologisch gefüllten Sinn verwendet. Vor allem in Jes 52,7;60,6;61,1 liegt ein solcher Gebrauch für die Ankündigung eschatologischen Heils vor. Das Neue Testament zitiert Jes 52,7 (und 61,1) häufiger und verweist schon dadurch evtl. auf das Verb als Brücke. In die gleiche Richtung weist auch 1 QH 23(18),14.

1.2.2 Die Ableitung des Begriffes „Evangelium“ aus dem Kaiserkult

Der gemischte pagane Befund

In der griechischen Literatur ist das Wort bereits seit Homer bekannt und meint dort sowohl die (gute) Nachricht, z. B. die Siegesnachricht, als auch den Lohn für den Überbringer dieser Nachricht. Es kann daneben auch die Opfer, die man zum Dank für eine solche gute Nachricht darbringt, bezeichnen („euangelia“ opfern). Aber eine theologische Bedeutung kommt dem Begriff in dieser Literatur ebenso wenig zu wie in der LXX. Das ist anders in späteren Texten, die in den Bereich des Kaiserkultes gehören und in denen das Wort Evangelium im Plural für die Nachricht z. B. von der Geburt des Kaisers, vom Ende des Krieges oder vom Anbruch einer neuen Zeit begegnet. Am bekanntesten ist das Zitat aus der Kalenderinschrift von Priene aus der Zeit um 9 v. Chr.: „Der Geburtstag des Gottes hat für die Welt die an ihn sich knüpfenden Freudenbotschaften heraufgeführt“ (eine andere Übersetzung lautet: „die durch ihn der Welt gebrachten frohen Botschaften“). Hier und z. B. später auch bei Josephus bezeichnet unser Wort ein für die Bevölkerung des Reiches heilbringendes Ereignis bzw. die Ankündigung einer neuen Heilszeit auf Erden.

Kalenderinschrift von Priene

1.2.3 Der Begriff „Evangelium“ und seine mehrfachen Wurzeln

Diskussion

Gegen die Verwandtschaft des neutestamentlichen Evangeliumsbegriffes mit beiden Verwendungen sind Einwände vorgetragen worden. Hat die alttestamentliche jüdische „Ableitung“ schon wegen des Fehlens eines theologischen Gehalts bei den wenigen Belegen für das Substantiv deutliche Probleme, so wird der Ableitung aus dem Kaiserkult entgegengehalten, dass an den betreffenden Belegstellen (jedenfalls im ersten Jahrhundert) gerade nicht der Singular wie im Neuen Testament, sondern nur der Plural begegne, dort eindeutig nur irdisches Heil gemeint sei und religiöse Rhetorik vorliege. Darüber hinaus müsse sich im Urchristentum eine Auseinandersetzung mit dem heidnischen Evangeliumsbegriff niedergeschlagen haben, wenn dieser von dort entlehnt worden wäre.

In neuerer Zeit hat man sogar den Verdacht geäußert, die Entscheidung für die eine oder die andere Ableitung hänge weniger mit den vorliegenden Texten als von der leitenden Perspektive des jeweiligen Betrachters ab. Die neueste Lösung sieht vor, dass „Evangelium“ begriffsgeschichtlich aus dem angeführten Sprachgebrauch des ► Kaiserkultes in das Christentum Eingang gefunden, die speziell theologische Prägung aber über das Verb aus der Ersten Bibel und aus dem an die Person Jesu Christi gebundenen Begriffsinhalt in der Jesusbewegung erhalten habe (LThK3 3,1058). Ob die Übertragung des Begriffs auf die neutestamentliche Heilspredigt von Jesus Christus erklärt werden kann, indem auch auf den neutestamentlichen (und vorneutestamentlichen) Sprachgebrauch der Jesusbewegung rekurriert wird, wird weiter zu diskutieren sein.

Kompromiss

Vorbereitung durch den Kaiserkult?

Im Mittelpunkt der Frage muss m. E. stehen, was die Verbindung dieses „christlichen“ Inhalts mit dem bereits außerchristlich vorgeprägten Begriff „Evangelium“ möglich gemacht hat. Angesichts der Tatsache, dass der Begriff im Kaiserkult geprägt vorliegt und er uns bereits in den ältesten Dokumenten des Neuen Testaments als feste Bezeichnung begegnet, im Alten Testament aber eine solche Prägung nicht erkennbar ist, ist eine Beeinflussung dieses Sprachgebrauches durch den Kaiserkult sehr gut möglich, wenn auch die Differenz zwischen Singular und Plural nicht übersehen werden darf. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Josephus, der freilich etwas später als die Synoptiker schreibt, den Singular in der Bedeutung „frohe Botschaft“ (BJ IV 10,6 § 618) kennt. Allerdings ist bei ihm „Evangelium“ keineswegs schon ein (religiöser) Terminus technicus, da er z. B. auch die Bitte um die Niederschlagung eines Aufstandes als „Evangelium“ bezeichnen kann (BJ II 17,4 § 420). Auch das Verb findet sich bei Josephus nur gelegentlich in theologisch gefülltem Gebrauch (Ant V. 8,2 § 277.282). Wieweit die Beeinflussung der neutestamentlichen Verwendung des Begriffes Evangelium durch dessen Gebrauch im Kaiserkult genau geht, ist allerdings noch keineswegs entschieden, sie könnte auch im Sinne einer Vorbereitung zu verstehen sein, indem die Menschen durch den Gebrauch im Kaiserkult mit dem Begriff vertraut wurden und dies die Übernahme des Begriffs erleichtert hat. Dabei könnte dann das im Alten Testament gebrauchte Verb durchaus auch eine Rolle gespielt haben.

Die Bedeutung des irdischen Jesus für das Evangelium

1.2.4 Die Bedeutung der Verbindung des Begriffes „Evangelium“ mit der Jesustradition

Man muss Markus bei der Übertragung des Begriffs Evangelium auf die Worte und Taten Jesu nicht gleich eine historisierende Absicht unterstellen, aber die Tatsache, dass er diese als erster ausdrücklich zum Evangelium, also zur Predigt vom Heilsereignis in Jesus Christus, zählt, ist doch lebendiger Ausdruck für das Bewusstsein, dass sich Tat und Bedeutung Jesu nicht auf seinen Tod am Kreuz und vielleicht auf seine Menschwerdung reduzieren lassen. Auch Jesu Verkündigung ist und bleibt Evangelium, und die offensichtlich nicht wiederholbaren, weil in einer auch für Markus längst vergangenen historischen Situation lokalisierten Auseinandersetzungen mit Jesu Umgebung gehören zum Evangelium, um von den Wundern Jesu gar nicht eigens zu reden. Man hat für dieses Verhalten des ersten Evangelisten in der Vergangenheit unterschiedliche Titulaturen gefunden und z. B. in der Tatsache der Evangelienschreibung einen wichtigen Hinweis dafür gesehen, dass die Bedeutung Jesu Christi für den christlichen Glauben sich nicht auf das „Dass“ seines Gekommenseins reduzieren lässt, wie man die Glaubensformeln verstehen könnte. Besonders eindrucksvolle Formulierungen hat in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts Ernst Käsemann hierzu gefunden, von denen wenigstens zwei angeführt werden sollen:

„Einig war man sich in dem Urteil, dass die Historie Jesu für den Glauben konstitutiv sei, weil der irdische und der erhöhte Herr identisch sind. Der Osterglaube hat das christlicheKerygma begründet, aber er hat ihm seinen Inhalt nicht erst und ausschließlich gegeben“ (203).

„Denn wenn die Urchristenheit den erniedrigten mit dem erhöhten Herrn identifiziert, so bekundet sie damit zwar, dass sie nicht fähig ist, bei der Darstellung seiner Geschichte von ihrem Glauben zu abstrahieren. Gleichzeitig bekundet sie jedoch damit, dass sie nicht willens ist, einenMythos an die Stelle der Geschichte, ein Himmelswesen an die Stelle des Nazareners treten zu lassenOffensichtlich ist sie der Meinung, dass man den irdischen Jesus nicht anders als von Ostern her und also in seiner Würde als Herr der Gemeinde verstehen kann und dass man umgekehrt Ostern nicht adäquat zu begreifen vermag, wenn man vom irdischen Jesus absieht“ (196).

Hier wird die theologiegeschichtliche Bedeutung der markinischen Idee genügend deutlich. Denn ob wir ohne ihn Evangelien im Sinne der Werke der vier Evangelisten hätten, ist keineswegs ausgemacht. Lukas nennt nicht zu Unrecht die Vorgängerwerke in seinem Vorwort. Die Bedeutung der Tatsache, dass und wie Markus als erster den Weg der Integration der Jesusworte und -erzählungen in das Evangelium gegangen ist und damit zum Wegbereiter für seine Nachfolger wurde, ist nicht leicht zu überschätzen.

Die Bezeichnung der vier Evangelien als solche ist nicht der älteste Sprachgebrauch, vielmehr bezeichnet das Wort Evangelium bei Paulus die Heilspredigt vom Christusereignis und zusammenfassende Formeln der wichtigsten Heilsereignisse (1 Kor 15,3–7; Röm 1,1–4). Markus hat als erster, indem er diesen Begriff auf sein Werk angewendet hat, das Leben Jesu in das Evangelium integriert, und die übrigen drei Evangelisten sind ihm darin gefolgt, auch wenn Lukas und Johannes den Begriff nicht verwenden. Die neutestamentliche Verwendung des Begriffs lässt sich einlinig weder aus dem Alten Testament noch aus dem heidnischen ► Kaiserkult ableiten, beide könnten jedoch durchaus die Christen bei der Anwendung dieses Begriffes beeinflusst haben.

2. Die literarische Gattung Evangelium und ihre Wurzeln

Die Frage nach der Pilotfunktion des Markus stellt sich aber auch noch in anderer Richtung. Hat er nicht nur als erster das Leben Jesu in das Evangelium und damit in das ► Kerygma integriert, sondern daneben auch noch eine ganz neue literarische Gattung, eben die des Evangeliums, geschaffen, oder kann er sich bei seinem Werk an andere Werke der Antike anlehnen und deren literarische Gattung übernehmen?

2.1 Übereinstimmungen und Differenzen zwischen den vier Evangelien und die Gattung „Evangelium“

Einheitliche Literaturgattung?

Die Evangelien weisen untereinander zweifellos neben den noch zu nennenden Übereinstimmungen auch eine Reihe von Unterschieden auf. So überliefern Matthäus und Lukas eine sog. Kindheitsgeschichte, Markus und Johannes dagegen nicht. Lukas beginnt mit einem für damalige Verfasser typischen Vorwort mit deutlichen literarischen Ambitionen, das wiederum die anderen Evangelisten so nicht kennen, während Johannes sein Werk mit dem Prolog beginnt, zu dem es in den synoptischen Evangelien keine Parallel-Überlieferung gibt. Angesichts dieser Differenzen im Stoff ist die Frage berechtigt, ob es überhaupt sinnvoll ist, von einer einheitlichen Literaturgattung zu sprechen und ihr alle vier Evangelien zuzuweisen.

Freilich gehört zu einer Nennung der Unterschiede auch die Anführung der Übereinstimmungen: Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu mit der Taufe durch Johannes den Täufer, öffentliche Wirksamkeit in Galiläa (allerdings im vierten Evangelium immer wieder auch in Jerusalem), Wundererzählungen und Streitgespräche, Ende in Jerusalem und Auferstehung. Diese geben den Evangelien abgesehen von der einheitlichen Hauptperson ein so übereinstimmendes Gepräge, dass man diese doch wohl zu Recht einer einheitlichen Größe zuweisen kann, zumal sich diese Gemeinsamkeiten keineswegs nur auf das gemeinsame Thema / die gemeinsame Hauptperson und den gemeinsamen Rahmen (der im Johannesevangelium wenigstens dem der Synoptiker sehr ähnlich ist) beschränken.

 

Verwandtschaft im Formalen

Die Ähnlichkeit der Evangelien besteht keineswegs nur im Inhalt, sondern auch in den für die Gattungsbestimmung wichtigeren formalen Fragen: Alle vier Evangelien bestehen aus noch deutlich erkennbaren, ursprünglichen Einzelüberlieferungen – das gilt auch für das Johannesevangelium, wenn für dieses auch eindeutig nicht in gleichem Maße wie für die Synoptiker, da das Johannesevangelium im Gegensatz zu den letztgenannten auch größere Reden enthält, die nicht einfach aus hintereinander gestellten Einzelstücken bestehen (vgl. Joh 5,19–47; 14–17 z. B. mit Mt 5–7). D. h. alle vier Evangelien tragen wenigstens z. T. Perikopencharakter oder sind, wie man das in letzter Zeit genannt hat, episodische Erzählung. Als weiteres verbindendes Merkmal kann das Fehlen (fast) jeden literarischen Ehrgeizes genannt werden und das damit zusammenhängende, praktisch völlige Zurücktreten der Verfasser hinter ihrem Stoff. Darauf weisen ja schon die Probleme hin, die man bei der Identifizierung der Autoren der Evangelien hat und die wir noch kennenlernen werden. Angesichts dieser Übereinstimmungen scheint es trotz der nicht zu leugnenden Unterschiede sinnvoll, die Evangelien als zu einer literarischen Gattung zugehörig anzusehen und sie nicht verschiedenen literarischen Gattungen zuzuweisen. Das gilt nach meinem Urteil auch für das Lukasevangelium, das sich zwar nach Ausweis seines Vorwortes als einziges Evangelium wie ein historisches Werk gibt (vgl. nur das sehr ähnliche Vorwort des Josephus in BJ I 1), dessen Autor aber von den gleichen Intentionen getragen ist wie die übrigen Evangelisten (vgl. Lk 1,4) und sich auch gegenüber seinen Quellen trotz dieses Vorwortes nicht anders verhält als die übrigen Evangelisten.

2.2 Die Evangelien und die Gattungen der antiken Literaturgeschichte

Wandel im Verständnis der Evangelien

In der deutschen Literatur vor allem war es lange Zeit üblich, die Evangelien als eine eigene Gattung ohne Parallelen in der Antike zu betrachten, obwohl immer wieder auch auf die Übereinstimmung mit anderen Gattungen hingewiesen wurde. Gerade die heute erneut favorisierte Parallelität zur antiken Biographie wurde seit Herder immer wieder zumindest erwogen, wenn auch in der Regel abgelehnt. Dafür gab es unterschiedliche Gründe: Hingewiesen wurde u. a. auf das Fehlen einer Entwicklung des Charakters der Hauptperson, auf das Fehlen eines schriftstellerischen Individuums und den anonymen Wachstumsprozess der Tradition, aus dem die Evangelien quasi als autorloses Produkt wie von selbst hervorgegangen sein sollten. Dieses Verständnis der Evangelien hat sich aber durch die die Formgeschichte ablösende Redaktionskritik erheblich verändert, und der schriftstellerische Wille des Evangelien-Autors steht der heutigen Forschung nicht nur als Erkenntnisziel lebendig vor Augen. Sie begreift die Evangelisten nicht mehr bloß als Sammler, Redaktoren oder Tradenten, wie dies die frühe Formgeschichte tat. Da sich also das Bild der Evangelisten gewandelt hat, ist auch die Frage nach der Gattung neu zu stellen. Man hat deswegen sowohl aus der griechisch- als auch aus der semitisch-sprachigen Literatur alle möglichen Literaturgattungen als Vorbild für die Evangelien vorgeschlagen: Memoirenliteratur, Biographie, Roman, Tragödie, Tragikomödie, Aretalogie, Biographie eines Gerechten, Propheten-Biographie, ► Midrasch (weitere Ableitungsversuche bei Dormeyer, Evangelium und Vorster, Ort). Auf diese muss hier kurz eingegangen werden.

2.3 Ableitungen der Gattung „Evangelium“ aus alttestamentlich-jüdischer und paganer Literatur

2.3.1 Die Evangelien als Midraschim

Die Einordnung der Evangelien als Midraschim kommt m. E. nicht in Frage, da dieser (nicht besonders klare) Begriff in der Regel durch das Charakteristikum der Schriftauslegung gekennzeichnet ist. In den Evangelien begegnet zwar Schriftauslegung, aber diese vermag doch nicht die Evangelien insgesamt zu charakterisieren. Darüber hinaus ist das Verhältnis zur Heiligen Schrift des Alten Bundes z. B. bei Markus und Matthäus durchaus unterschiedlich, so dass sich diese Bezeichnung als Gattungsbegriff für beide Werke kaum eignet.

2.3.2 Die Evangelien als Ideal-Biographie

Die These und die Einwände dagegen

Die von K. Baltzer behauptete Übertragung der alttestamentlichen Ideal-Biographie auf Jesus durch Markus wird damit begründet, dass die für diese Gattung im Alten Testament konstitutiven Züge auch im Markusevangelium zu finden sind. Wenn die zu dieser Gattung gehörenden alttestamentlichen Stücke aufgrund ihrer heutigen Eingliederung in größere Kontexte auch nur mit Schwierigkeiten zu erheben sind, so lassen sich doch noch deren Gattungscharakteristika erkennen. Dazu gehören der Einsetzungsbericht, durch den der Prophet / König in seinem Amt legitimiert wird, und die mit diesem Amt verbundenen Funktionen, z. B. Sicherung des Friedens, Herstellung der sozialen Gerechtigkeit und Einsatz für einen reinen Kult. Diese Charakteristika sind variabel und müssen nicht in allen Exemplaren der Gattung realisiert sein. Baltzer findet sie auch im Markusevangelium, wobei der Einsatz mit der Taufe und nicht mit der Geburt für ihn ein besonders deutliches Zeichen ist, das in Richtung Propheten-Biographie weist. Aber auch der Einsatz für einen reinen Tempelkult, die Kritik an den Interpretationen der Gesetze, die Verkündigung von Gottesherrschaft und Gericht sowie das Leiden weisen in die gleiche Richtung. – Gegen diese Annäherung von Markusevangelium und Propheten-Biographie sind eine ganze Reihe von Einwänden vorgebracht worden, z. B. dass die für das Markusevangelium besonders charakteristischen, weil häufig mit Hilfe der durchbrochenen Schweigegebote betonten Wunder in der Propheten-Biographie nur im Elia-Elischa-Zyklus vorkommen (vgl. 1 Kön 17,17–23; 19,1–13; 2 Kön 2–8), dass die markinischen Berichte vom Leiden Jesu sich wesentlich stärker an das Schema vom leidenden Gerechten anlehnen und dass Tod und Begräbnis ebenso nur schwach in der Propheten-Biographie verankert sind. Mag man über diese Differenzen noch hinwegkommen, müsste doch, wenn die Idealbiographie eines Propheten die Darstellung Jesu im Markusevangelium wirklich prägen würde, der Propheten-Titel wenigstens leicht hervorgehoben werden. Gerade das aber ist nicht der Fall. Die Übertragung des Propheten-Titels auf Jesus wird in Mk 6,15 f. und 8,27–30 gerade abgelehnt. Kommt von daher die Propheten-Biographie als Vorbild-Gattung für das Markusevangelium nicht in Frage, so ist die Übertragung der Motivreihe vom leidenden Gerechten auf das markinische Werk zu prüfen.

2.3.3 Das Markusevangelium als Biographie des Gerechten

Das Motiv vom leidenden Gerechten prägt nicht das ganze Evangelium

Nach dieser von D. Lührmann erarbeiteten These hat Markus das Motiv des leidenden Gerechten aus Weish 2,12–20; 5,1 ff. entnommen und nicht nur auf die Passionsgeschichte, sondern auf das ganze Werk übertragen. Deswegen hat Lührmann das Werk des Markus „Biographie des Gerechten als Evangelium“ genannt. Der Leser finde im Markusevangelium die typische Geschichte des Gerechten und erhalte damit die Möglichkeit, sich selbst im Schicksal Jesu wiederzufinden. – Der Einfluss des Motivs vom leidenden Gerechten auf die Passionsgeschichte ist unbestritten, dass dieses Motiv eine spezielle Gattung konstituiert, ist dagegen kaum wahrscheinlich zu machen. Darüber hinaus ist es als Motiv keineswegs für das ganze Evangelium leitend, wie man u. a. daran sehen kann, dass die markinische Christologie nicht ausschließlich durch Niedrigkeitsmotive, sondern auch durch Hoheitstitel gekennzeichnet ist.