Einleitung in das Neue Testament

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Dass der im Vorwort eines Werkes Genannte auch die Pflichten des Verlegers zu übernehmen und für die Verbreitung des „Buches“ zu sorgen hatte, wird man so generell sicher nicht sagen können, wie sich daraus ergibt, dass uns Widmungen von Büchern bekannt sind, die gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. In der Regel freilich dürften sowohl der Autor als auch der mit der Widmung Bedachte Interesse an der Verbreitung des Inhaltes und der mit der Widmung verbundenen Ehre gehabt haben, so dass sehr häufig durchaus von einer „verlegerischen“ Tätigkeit des Widmungsempfängers ausgegangen werden kann. Diese bestand darin, das Buch abschreiben zu lassen und es zu verbreiten, und unterschied sich von der gewerbsmäßigen Tätigkeit eines Buchhändlers dadurch, dass sie privat geschah und sich eben in der Regel nur auf ein bzw. mehrere Bücher desselben Autors bezog. Eine Verpflichtung allerdings auf seiten des Widmungsempfängers zur Verbreitung des Buches dürfte es nicht gegeben haben. Eine solche war im übrigen auch deswegen nicht nötig, weil man sich in der Antike, wenn der Ruf eines Buches sich erst ein wenig verbreitet und ein Bedürfnis, es zu lesen oder es zu besitzen, geweckt hatte, was z. B. durch öffentliche Autorenlesungen geschehen konnte, selbst privat Abschriften machen ließ.





„War ein bestimmtes Buch im Buchhandel nicht aufzutreiben …, misstraute man der Qualität der dort angebotenen Exemplare, waren finanzielle oder sonstige Gründe im Spiel, so verhinderte kein Urheber- oder Verlagsrecht, damals unbekannte Begriffe, dass man sich den Text irgendwo auslieh und eine private Abschrift herstellte. Ob der Interessierte dann den Text eigenhändig kopierte, hierzu einen fähigen oder sogar in solchen Arbeiten besonders erfahrenen Sklaven beauftragte, oder ob er die Arbeit einem Scriptorium, einer ‚Schreibanstalt‘ gegen Entgelt, übertrug, hing freilich wiederum von den jeweiligen persönlichen Intentionen und Möglichkeiten ab“ (Blanck 117 f.).





So wie der Autor Kopien seiner Bücher anfertigen ließ, so wird es in der Regel auch der Widmungsempfänger getan haben. Das beweist Statius (geb. ca. 40 n. Chr.), ein äußerst vielseitiger Dichter in Rom, der das zweite Buch seiner Silvae einem Atedius Melior widmet und diesen bittet: „Liebster Melior, wenn sie (die Verse) dir nicht missfallen, so mögen sie durch dich ihr Publikum finden, andernfalls sende sie mir zurück“ (2, praef.).



9. Die theologischen Anschauungen des Lukasevangeliums



Dass das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte in ihren theologischen Anschauungen eine Einheit bilden, ist weitestgehend anerkannt und aufgrund der gemeinsamen Verfasserschaft naheliegend. Diese Tatsache würde es rechtfertigen, die Theologie dieser beiden Schriften zusammen zu behandeln. Dies wird aus praktischen Gründen hier nicht getan, sondern die mehr das Evangelium betreffenden Gesichtpunkte werden hier erörtert, die mehr die Apostelgeschichte betreffenden in § 8 unter Nr. 11. Da grundsätzliche Aspekte der lukanischen Theologie in beiden Abschnitten erörtert werden, sollte § 8 Nr. 11 hier zur Ergänzung herangezogen werden.



9.1 Der theologische Entwurf des Lukas in der Kritik



Das LkEv als Werk des Frühkatholizismus?



Wie sehr das Lukasevangelium und hier vor allem dessen theologische Anschauungen in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt des exegetischen Interesses gestanden haben, kann man sich daran verdeutlichen, dass dieses Evangelium als ein Sturmzentrum der wissenschaftlichen Bemühungen um das Neue Testament bezeichnet worden ist und dass die theologischen Anschauungen des Lukas mit harschen Worten getadelt wurden. Die Zuweisung des lukanischen Doppelwerks an den ► Frühkatholizismus, worunter v. a. die institutionelle Absicherung des Glaubens durch Lehramt und Ämtersukzession zu verstehen ist, und die damit verbundene Ablehnung seiner theologischen Anschauungen durch Ernst Käsemann war fast noch vornehm, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch folgende Ansicht Overbecks (1837–1905) wieder aufgenommen wurde: „Es ist das eine Taktlosigkeit von welthistorischen Dimensionen, der größte Exzess der falschen Stellung, die sich Lukas zum Gegenstand gibt … Lukas behandelt historiographisch, was keine Geschichte und auch so nicht überliefert war“. Die kirchliche Predigt wurde sogar vor die Alternative gestellt, sich für Lukas

oder

 Paulus zu entscheiden. Allerdings wurde die Theologie und v. a. die Geschichtsauffassung des dritten Evangelisten von anderen, ebenfalls protestantischen Autoren zur gleichen Zeit als so typisch für das ganze Neue Testament angesehen, dass sie als Urbild ganzer neutestamentlicher Entwürfe dienen konnte. Gegen den Vorwurf eines latenten Katholizismus von seiten ihrer Gegner verteidigten sich diese Autoren gerade mit dem Hinweis auf die Zugehörigkeit des Lukasevangeliums zum Kanon.



9.2 Der Interpretationsentwurf Hans Conzelmanns



Drei getrennte Perioden der Heilsgeschichte?



In dieser Diskussion mit Schlagworten rief Conzelmann zu einer präziseren Bestimmung der Begriffe und zu einer genaueren Analyse, die er mit seiner Schrift „Die Mitte der Zeit“ vorlegte, wobei er freilich auf wichtige Erkenntnisse von Baers zurückgreifen konnte. Diese Schrift beherrscht die Diskussion teilweise bis heute, obwohl das Gespräch in der Zwischenzeit doch wohl gezeigt hat, dass Conzelmann die Dinge teilweise etwas zu scharf gesehen hat.



Nach Conzelmann (und v. Baer) unterscheidet Lukas drei Perioden der Heilsgeschichte, einmal die Zeit Israels, gekennzeichnet durch das Gesetz und die Propheten, die bis zu Johannes dem Täufer einschließlich reicht, sodann die Zeit Jesu als Mitte der Zeit und der Heilsgeschichte, mit der aber nicht schon wie bei Markus die Endzeit anbricht, sondern die nur eine „Vorausdarstellung“ der künftigen Heilszeit bildet. Während Paulus auch die eigene Zeit, also die Zeit der Kirche als eschatologische ansieht (2 Kor 6,2), ist das bei Lukas nicht der Fall, er „sieht das Heil bereits wieder in der Vergangenheit. Die Heilszeit ist historisch geworden, ein Zeitabschnitt, der wohl die Gegenwart bestimmt, aber als Epoche zurückliegt und abgeschlossen ist. … Mit Jesus ist nicht die Endzeit angebrochen… Nicht, dass Gottes Reich nahe herbeikam, ist die frohe Botschaft, sondern dass durch das Leben Jesu die Hoffnung auf das künftige Reich begründet ist“ (Conzelmann 30 f.).



Schließlich folgt nach dieser Interpretation auf die Mitte der Zeit die Zeit der Kirche, gekennzeichnet durch das Wirken des Heiligen Geistes, durch den Rückblick auf die Heilszeit in Jesus und durch die Übertragung der heilsgeschichtlichen Stellung Israels auf die Kirche. – Diese Dreiteilung wird heute nicht mehr so stark akzentuiert und stattdessen eher eine Zweiteilung vorgezogen, die die Verbindung zwischen der Zeit Jesu und der der Kirche stärker betont, ohne aber beide einfach ineinander aufgehen zu lassen. Auch hinsichtlich der Grenzziehung zwischen der Zeit Israels und der Zeit Jesu – ist diese mit Lk 16,16 und Apg 10,37

hinter

 Johannes dem Täufer (so Conzelmann) oder in Anlehnung an die überbietende Parallelisierung von Jesus und dem Täufer in Lk 1 und an andere Worte besser

vor

 dem Täufer zu ziehen? – ist sich die Exegese nicht mehr so sicher, wie Conzelmann es war. Es könnte durchaus sein, dass der Täufer schon zur Mitte der Zeit zu rechnen und nicht so scharf, wie Conzelmann das tut, von der Jesuszeit abzutrennen ist. Die grundsätzliche Grenzziehung zwischen der Zeit Israels und der folgenden Heilszeit durch Lukas hat sich dagegen weitestgehend durchgesetzt.



9.3 Die systematischen Prämissen der Diskussion über das Lukasevangelium



Hermeneutik des Vorurteils



Schon an dieser kurzen Darstellung kann man sehen, dass diese Diskussion nicht rein exegetisch geführt wurde, sondern stark von systematischen Positionen beeinflusst war. So wenig erstaunlich das für eine hermeneutisch bewusste Theologie ist, so auffällig ist der Umstand, dass um diese Positionen gleichzeitig immer wieder mit Hinweis auf neutestamentliche Texte gerungen und so deutlich gemacht wird, dass wir eine reine Exegese der Texte nicht haben, sondern immer wieder hermeneutische Vor- und Grundurteile die Exegese beeinflussen.



Proömium und Corpus des Evangeliums



Dann wundert es nicht, dass die Deutung von der Historisierung des Heils durch Lukas durchaus auch hinterfragt, verneint und dem Lukasevangelium ein ebenso kerygmatischer Charakter zugesprochen wird wie den übrigen Evangelien. Diese Ansicht kann sich immerhin darauf stützen, dass Lukas sich innerhalb seines Evangeliums trotz der z. T. anderen Absicht, die er im Vorwort zum Ausdruck bringt, genauso verhält wie die übrigen Synoptiker und dass von einer Absicherung des Glaubens durch die Geschichte und durch die geschichtliche Rückfrage dort nichts zu spüren ist. Dieses von der Ankündigung im Vorwort möglicherweise abweichende Verhalten im Innern des Evangeliums und die ganz andere Art der Evangelienschreibung auch des Lukas, z. B. im Vergleich mit den Arbeiten des Josephus, müssen die Frage veranlassen, ob das Vorwort richtig verstanden ist, wenn dort die Absicherung des Glaubens durch historische Forschung gefunden wird. Dass dieses Verständnis des Proömiums keineswegs zwingend ist, haben eine ganze Reihe von Arbeiten gezeigt. Oder kann man vielleicht sogar davon ausgehen, dass hier der Zwang der Konvention eines solchen Vorwortes die eigentlichen theologischen Absichten des Lukas überdeckt hat? Jedenfalls ist das von der Ankündigung im Proömium abweichende Verhalten des Lukas im übrigen Evangelium, wo von einem Bemühen um die historisch richtige Reihenfolge nicht besonders viel zu spüren ist, auffällig.



9.4 Die Stellung des Lukas zur Parusie



Der Grund für die in hohem Maße von den meisten übrigen theologischen Entwürfen des Neuen Testaments abweichende Theologie des Lukas wird häufig in der Parusieverzögerung gesehen, die Lukas veranlasst hat, die bislang die urchristliche Verkündigung beherrschende Predigt des in Bälde kommenden Erhöhten aufzugeben und an deren Stelle die geschichtliche Überlieferung von Jesus zu setzen.

 



Keine Naherwartung mehr



Daran, dass Lukas die Naherwartung, nicht aber die Parusiehoffnung überhaupt, aufgibt, kann kein Zweifel bestehen, wenn auch einzelne Worte mit Naherwartung noch im Evangelium zu finden sind (z. B. 21,32). Wie sehr die Naherwartung aus dem beherrschenden Zentrum, das sie bei Markus noch einnahm, verschwunden ist, vermag schon die Tatsache zu verdeutlichen, dass Mk 1,15 als Zusammenfassung der Predigt Jesu bei Lukas keine Parallele hat und dass in der in vieler Hinsicht für die theologische Sicht des Jesusphänomens typischen Antrittspredigt Jesu in Nazareth (4,16–30) ebenfalls von der Naherwartung nicht die Rede ist (vgl. auch die Änderung von Mk 9,1 in Lk 9,27 und dazu die Kommentare).



„Stetsbereitschaft“



Lukas reagiert damit auf die sich dehnende Zeit bis zur Parusie (vgl. 21,9.12), betont stattdessen die Mahnungen zur Wachsamkeit und fordert die „Stetsbereitschaft“ (21,34–36) für die Wiederkunft des Herrn. Dementsprechend treten die universalen Momente der Endvollendung zurück und die Vollendung des Einzelnen im Sterben wird hervorgehoben (vgl. Lk 16,19–31; 21,19; 23,43).



9.5 Israel und die Heilsgeschichte



Geschichte nach Gottes Plan



Die ganze Heilsgeschichte aber, die Zeit Israels, das Jesusgeschehen und die Entwicklung der Kirche bis hin zur Parusie richten sich nach Gottes Plan, wie Lukas mit Hilfe verschiedener Motive (Gottes Ratschluss, Gottes Willen, Gottes Bestimmung, das göttliche „Muss“) zu betonen nicht müde wird. Auch Jesus ist diesem göttlichen Willen unterworfen und stellt sich unter diesen Willen, indem er z. B. die Schrift erfüllt. Denn der Gedanke der Schrifterfüllung dient ebenfalls der Darstellung des göttlichen Heilsplans, z. B. wenn Lukas Jesus sagen lässt: „Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf; dort wird sich alles erfüllen, was bei den Propheten über den Menschensohn steht“ (18,31diffMk; vgl. auch 22,37: „Ich sage euch: An mir muss sich das Schriftwort erfüllen: ‚Er wurde zu den Verbrechern gerechnet.‘ Denn alles, was über mich gesagt ist, geht in Erfüllung“ oder 24,25–27.44). Jesus kennt den Willen Gottes und ist in der Lage, diesen zu erfüllen, weil er in besonderer und bleibender Weise mit dem Geist erfüllt ist, der schon seine Geburt veranlasst hat (1,35) und der bei der Taufe durch Johannes in leiblicher Gestalt auf ihn gekommen ist (3,22), was er in Nazareth in seiner Antrittspredigt mit Hilfe eines Jesaja-Zitats auch bekannt gemacht hat (4,18). In der Apostelgeschichte rüstet der Heilige Geist die christliche Gemeinde aus und sorgt durch Visionen und andere Zeichen dafür, dass die Gesandten Gottes den von Gott gewollten Weg gehen (Apg 10; 16,6.9). Offensichtlich bedarf es immer wieder solcher Nachhilfe, von allein sind die Zeugen des Glaubens trotz ihrer Ausrüstung mit dem Heiligen Geist zu Pfingsten nicht in der Lage, die Pläne Gottes mit der Welt zu erkennen und zu befolgen. In diesem Plan verliert Israel seinen heilsgeschichtlichen Vorrang nicht von selbst, wie sich schon daraus ergibt, dass Paulus trotz steter Ablehnung und häufigen heftigen Widerstands von Seiten „der Juden“ bei seiner Predigt bis zu Apg 28 nicht aufhört, diese bei „den Juden“ zu beginnen. Erst nachdem diese nicht bereit sind, seine Botschaft anzunehmen (vgl. Apg 13,5.14.46–49; 14,1; 16,12–15; 17,1–15 usw.), wendet er sich an die Heiden.



Heil für die Heiden



Dass aber das Heil der Heiden nicht bloßes Zufallsergebnis der Ablehnung der Jesusbotschaft und des Jesuskerygmas durch die Juden, sondern in Gottes Plan bereits enthalten ist, macht Lukas auf zweierlei Weise deutlich. Zum einen lässt er schon den greisen Simeon in 2,30 f. sagen: „Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor

allen

 Völkern bereitet hast, ein Licht, das

die Heiden

 erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel“ und bringt so schon zu Beginn der Jesusgeschichte den Bezug des Jesusgeschehens auf Juden

und

 Heiden im Plan Gottes zum Ausdruck. Zum anderen führt er die Ablehnung Jesu durch Israel auf eine schon alttestamentlich belegte Verstockung von Seiten Gottes zurück (Apg 28,26 f.). Deswegen kann er auch als Grund für das Verhalten der Juden in Apg 3,17 Unwissenheit nennen. Das Motiv der Unwissenheit lässt die Möglichkeit besserer Erkenntnis und damit der Umkehr ausdrücklich offen. Die Folge der dauernden Ablehnung der Predigt der Jesuszeugen von Seiten „der Juden“ formuliert Lukas in Apg 28,25–28, und die Feierlichkeit des Ausdrucks mag auf den grundsätzlichen Charakter dieses Entschlusses hinweisen: Das Heil, das Jesus gebracht hat und das seinem Volke galt, ist auf die Kirche aus Juden und Heiden übergegangen.



Heil für Juden und Heiden



Es gilt zwar auch weiterhin den Juden – diese sind also keineswegs nach Lukas irgendwie oder gar grundsätzlich vom Heil ausgeschlossen –, aber es gilt den Juden in gleicher Weise wie den Heiden. Deswegen predigt Paulus nach Apg 28,30 das Evangelium allen, die bei ihm eintreten. Es ist insofern nur konsequent, wenn Lukas nie die Kirche als neues oder wahres Israel bezeichnet. Allenfalls in Apg 15,14 kommt er mit dem Ausdruck „aus den Heiden ein Volk für seinen Namen gewinnen“ einem solchen Verständnis nahe. – Angesichts der Formulierung von Apg 28,30 wird man auch kaum bereits in Apg 13,46 eine grundsätzliche Entscheidung zugunsten der Heiden und gegen die Juden finden können, zumal sich an der Predigt vor den Juden als ersten Adressaten der Missionspredigt im Folgenden auch nichts ändert.



Wenigstens zwei auffällige Besonderheiten des Lukasevangeliums seien abschließend noch erwähnt: Das Zurücktreten des Sühnetodmotivs und die besondere soziale Komponente im Lukasevangelium.



9.6 Die Deutung des Todes Jesu als Sühnetod



Das bei Paulus stark betonte Motiv des Sühnetods ist schon im ältesten Evangelium nicht besonders ausgeprägt und kommt dort nur zweimal vor (Mk 10,45; 14,24), Lukas lässt es in der Parallele zu Mk 10,45 sogar noch fort und bietet es nur in dem doch wohl ursprünglichen sog. Langtext der Abendmahlseinsetzung (22,19 f.; vgl. allerdings auch noch Apg 20,28), dort freilich gleich zweimal, sowohl mit dem Brot- als auch mit dem Kelchwort verbunden. Insofern kann von einem völligen Fehlen des Sühnegedankens bei Lukas keine Rede sein, aber dass er eher am Rande steht, ist festzuhalten. Diese Randexistenz des Sühnetodmotivs bei Lukas sieht man weniger, wenn man den Sühnetodgedanken im dritten Evangelium mit dessen Vorkommen im Markusevangelium vergleicht, als wenn man in die Apostelgeschichte schaut, wo in den Predigten das Heilsgeschehen häufig zusammenfassend unter Hervorhebung der Predigt, des Todes und der Auferstehung Jesu verkündigt, wo aber der Gedanke des Sühnetodes insgesamt nur einmal erwähnt wird. Zwar kennt Lukas auch noch den Gedanken des leidenden Gerechten aus dem Alten Testament und überträgt ihn auf Jesus (22,37), aber auch diese Deutung des Todes Jesu ist nicht besonders betont.



Das Leben Jesu als Grund des Heils



Das dürfte damit zusammenhängen, dass Lukas die Ursache des Heils nicht so sehr punktuell in den Tod Jesu verlagert, sondern dieses in dessen ganzem Leben begründet sieht, wie die zahlreichen Heilsbegriffe schon in der Vorgeschichte zum Ausdruck bringen (1,46–55; 2,11.30–32). Charakteristisch für die Anschauung des Lukas ist die Predigt Petri auf dem Tempelplatz in Apg 3,15: „Den Urheber des Lebens habt ihr getötet, aber Gott hat ihn von den Toten auferweckt.“ Jesus ist der Urheber des Lebens – aber nicht aufgrund eines punktuellen Ereignisses, sondern aufgrund seiner ganzen Existenz, die das Ziel hatte, „zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (19,10). Nicht umsonst bildet Jesus nach Lukas in seinem Erdenleben die Güte Gottes ab und verteidigt sein anstößiges Verhalten mit Hinweis auf die Liebe Gottes zu den Verlorenen (vgl. nur 15,11–32).



9.7 Besitz und Besitzverzicht im Lukasevangelium



Was die Stellung des Lukas zum Besitz und zum Verzicht auf diesen betrifft, so kann man zunächst festhalten, dass die Kritik am Reichtum und die Forderung auf Besitzverzicht zwar in jedem Evangelium (Mk 10, 17–31 par; Mt 19,23– 26) belegt sind, aber im Lukasevangelium eine unvergleichlich wichtigere Rolle spielen.



Besitzverzicht vs Almosen



Allerdings stellt der dritte Evangelist seine Ausleger vor das Problem, dass er von den Christen zugleich totalen Besitzverzicht (12,33 f.; 14,33; 18,18–30) und Almosen verlangt (6,33–36; 16,9; 21,1–4). Wie soll aber der, der alles weggegeben hat, noch Almosen geben? Die radikale Forderung, auf den gesamten Besitz zu verzichten, bezieht sich sicher nicht nur auf die kirchlichen Amtsträger, so ehrenwert diese von einem (späteren) Amtsträger vorgetragene Lösung ist, da diese Unterscheidung in den Besitzverzicht fordernden Worten in keiner Weise angedeutet ist. Gerade das Wort von 6,33–36 wendet sich nach Ausweis von 6,27 an alle seine Zuhörer, und diese sind nach 7,1 nicht etwa nur die Jünger, sondern das Volk. Zu fragen ist allerdings, ob Lukas diese von den Exegeten erkannte Schwierigkeit überhaupt bedacht hat. Seinen Forderungen dürfte zum einen die Radikalität der Umkehrforderung Jesu zugrunde liegen, zum anderen die aus dem Nächstenliebesgebot sich ergebende Pflicht zur gegenseitigen Fürsorge. Die Frage, ob und wie Lukas sich einen Ausgleich dieser Forderungen vorgestellt hat, verliert im übrigen viel von ihrer Brisanz, wenn man sich klar macht, dass diese Forderungen heute in jedem Fall neu überdacht und nicht von vornherein wörtlich, sondern sinngemäß auf die Gegenwart angewandt werden müssen. Das gilt nicht nur, weil im Zeitalter der Volkskirche und des sogar staatlich erzwungenen Versorgungsdenkens niemand – oder jedenfalls fast niemand – bereit ist, auf seinen ganzen Besitz zu verzichten, oder dies gar kann, sondern es gilt auch, weil z. B. mit einem einmaligen riesigen Verzicht der Industriestaaten den armen Ländern wahrscheinlich weniger geholfen wäre als mit einer regelmäßigen, freilich wesentlich großzügigeren Gabe als heute, weil im ersteren Falle nach der einmaligen Gabe in den Industrieländern bald nichts mehr zum Geben vorhanden wäre. Auch die Barmherzigkeit braucht einen Plan!



Der zeitliche Abstand zur Verkündigung Jesu hat im Lukasevangelium deutliche Spuren hinterlassen. Der dritte Evangelist begegnet der Erfahrung der Parusieverzögerung mit einer Aufgabe der Naherwartung, an deren Stelle er die Forderung zur Wachsamkeit und zur Stetsbereitschaft stellt.



An die Stelle der Kritik am heilsgeschichtlichen Entwurf des Lukas aus den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist inzwischen eine gerechtere Würdigung der lukanischen Theologie getreten, die im Gegensatz zu der früher vertretenen Zuweisung des Jesusgeschehens an die Vergangenheit den Gegenwartscharakter des ► Kerygmas im lukanischen Verständnis hervorhebt und den Glauben nicht mehr als an die Geschichte ausgeliefert versteht. Auch die Rolle Israels wird heute anders gesehen, die Kirche tritt nach Lukas nicht an die Stelle Israels, sondern das durch Jesus erschlossene Heil gilt Juden und Heiden.






Literatur





1. Kommentare



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2. Monographien und Aufsätze (s. auch § 8)



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