Einleitung in das Neue Testament

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3.2 Die Nachrichten aus der Alten Kirche und die moderne Kritik

3.2.1 Die Zeugnisse

Irenäus von Lyon

Nun gibt es freilich aus der Alten Kirche wie schon bei den Evangelien nach Matthäus und Markus eine Reihe von Nachrichten, die den Verfasser wesentlich genauer zu kennen scheinen. Im einzelnen handelt es sich um Zeugnisse von der Mitte des zweiten Jahrhunderts an, von denen anzuführen sich m. E. allenfalls das des Irenäus von Lyon († um 200) lohnt: „Und Lukas hat als Begleiter des Paulus das von ihm gepredigte Evangelium in einem Buch niedergelegt“ (Haer. III 1,1 nach Eusebius, Kirchengeschichte V. 8,3; vgl. noch Irenäus, Haer. III 10,1; 14,1.2 und I 23,1). Irenäus verweist zur Begründung auf die sog. Wir-Berichte der Apostelgeschichte (s. dazu unten § 8 Nr. 6.3.1), die den Verfasser der Apostelgeschichte als Begleiter des Paulus ausweisen, und auf 2 Tim 4,10 f., wo Lukas als einziger Begleiter des Paulus genannt ist, sowie auf Kol 4,14, wo von Lukas als dem geliebten Arzt die Rede ist (Haer. III 14,1). Auf Philemon 24, wo ebenfalls ein Lukas als Mitarbeiter des Paulus erwähnt wird, nimmt er hier keinen Bezug.

Irenäus schreibt: „Dieser Lukas war von Paulus unzertrennlich und sein Mitarbeiter am Evangelium, wie er selbst deutlich macht, und zwar nicht, um sich aufzuspielen, sondern von der Wahrheit gedrängt. Denn als sich Barnabas und Johannes, der sich Markus nennt, von Paulus getrennt und sich nach Zypern eingeschifft hatten (vgl. Apg 15,39), da, sagt er, ‚kamen wir nach Troas‘ (Apg 16,8). Und als Paulus im Traum einen Mann aus Mazedonien gesehen hatte, der zu ihm sagte: ‚Komm nach Mazedonien und hilf uns‘, Paulus (Apg 16,9), da, sagt er, ‚hatten wir das Verlangen, sofort nach Mazedonien aufzubrechen, da uns klar war, dass der Herr uns rief, ihnen das Evangelium zu bringen. Wir segelten also von Troas ab mit Kurs auf Samothrake‘ (Apg 16,10 f.). Im Folgenden beschreibt er sorgfältig ihre ganze weitere Reise bis nach Philippi (vgl. Apg 16,12) und wie sie (dort) zum erstenmal predigten: ‚Wir setzten uns‘, sagt er nämlich, ‚und sprachen zu den Frauen, die sich eingefunden hatten‘ (Apg 16,13). Es (wird auch berichtet), was für Leute da zum Glauben kamen und wie viele es waren. Und er sagt auch: ‚Nach den Tagen der Ungesäuerten Brote segelten wir von Philippi ab und kamen nach Troas, wo wir uns sieben Tage aufhielten‘ (Apg 20,6).. Weil Lukas bei allem dabei war, hat er alles genau aufgeschrieben, ohne bei einer Lüge oder Übertreibung ertappt werden zu können, weil eben alle diese Dinge so feststehen und er älter ist als alle, die jetzt andere Lehren verbreiten und die Wahrheit nicht kennen. Er war ja nicht nur ein Begleiter der Apostel, sondern auch ihr Mitarbeiter, vor allem aber der des Paulus, und Paulus hat das in seinen Briefen auch selbst gezeigt …“ (Irenäus von Lyon, Haer. III 14,1).

Weitere Zeugnisse

In den sog. ► anti-marcionitischen, in ihrem Alter häufig überschätzten Evangelienprologen wird im Vorwort zum Lukasevangelium gesagt, dies sei von dem Arzt Lukas aus Antiochien geschrieben, der keine Frau und keine Kinder gehabt und sein Evangelium als dritter, also nach Matthäus und Markus, aber vor Johannes verfasst habe und in Bithynien im Alter von 84 (88) Jahren gestorben sei. Darüber hinaus finden sich bei Justin dem Märtyrer († um 165) Anspielungen auf das Lukasevangelium, und Marcion hat bekanntlich (um 140) das Werk des Lukas ohne dessen Namen mit erheblichen Streichungen (z. B. Lk 1–2 und das meiste von Lk 3–4) und Korrekturen als sein „Evangelium“ herausgegeben. Auch in dem im ausgehenden zweiten Jahrhundert verfassten ► Muratorischen Kanonverzeichnis wird von Lukas berichtet, ohne dass daraus neue Kenntnisse über die bereits genannten Quellen hinaus gewonnen werden könnten. Nach Origenes (185 – nach 254) hat Paulus das Werk des Lukas sogar mit Lob bedacht.

3.2.2 Überprüfung der Kirchenväterzeugnisse

Lukas als Paulusbegleiter?

Die Zeugnisse aus der Alten Kirche lassen sich dadurch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen, dass diese Lukas mit dem in Phlm 24 von Paulus selbst und dem in den ► Deuteropaulinen genannten Paulusbegleiter Lukas identifizieren. Wäre dieser Lukas der Verfasser der Apostelgeschichte, dann müsste er Paulus längere Zeit begleitet haben, was Irenäus ja auch tatsächlich behauptet, und deswegen nicht nur mit seiner Theologie, sondern auch mit seinen wesentlichen Daten und Intentionen vertraut sein, so dass zu fragen ist: Passt das Zeugnis der Apostelgeschichte mit dem Selbstzeugnis des Paulus zusammen? Dies ist nach allgemeiner Überzeugung aber nicht der Fall. Weder die Paulusreisen nach Jerusalem vor dem Apostelkonzil, noch die Darstellung der Auseinandersetzungen und Beschlüsse dieses Konzils stimmen bei Paulus und in der Apostelgeschichte überein, und dass Paulus einen seiner Mitarbeiter den Juden(-christen) zuliebe hätte beschneiden lassen (Apg 16,3), scheint mir absolut unvorstellbar, auch wenn dies Exegeten gelegentlich für möglich halten.

Da den Berichten des Paulus als Beteiligten und in vieler Hinsicht Betroffenen trotz aller auch hier anzuwendenden Vorsicht eindeutig die Priorität gebührt und auch die theologischen Anschauungen des Paulus in der Apostelgeschichte kaum wiederzuerkennen sind und darüber hinaus die Existenz von Paulusbriefen in der Apostelgeschichte nicht erwähnt wird, kann der Autor dieses Werkes kaum der Paulusbegleiter Lukas sein. Allerdings ist gerade in dieser Frage des Verhältnisses der lukanischen Apostelgeschichte zu Paulus und seiner Theologie in der letzten Zeit vieles in Bewegung. Schröter hat in seinem Literaturbericht die Lage so zusammen gefasst. Die Diskussion bewege sich zwischen zwei Extremen: „der Paulusbegleiter Lukas, der einen historisch zuverlässigen Bericht über die Paulusmission übermittelt, auf der einen, der unbekannte Autor aus dem 2. Jh., der praktisch ohne Zugang zu Paulusüberlieferungen das literarische Konstrukt eines ‚paulinischen Christentums’ entwirft, auf der anderen Seite.“ Trotz der in der neueren Literatur deutlich erkennbaren Annäherung des Lukas und seiner Theologie an Paulus bleibt festzustellen, dass die Spezifika der paulinischen Briefe in der Apostelgeschichte fehlen. Dies kann kaum ausschließlich damit zusammenhängen, dass der Paulusbegleiter der Wir-Berichte in der Zeit, in der der Apostel die Briefe schrieb (= Teile der zweiten und dritten Missionsreise, 16,18–20,4) gerade nicht bei Paulus war.

Lk im Neuen Testament

Darüber hinaus ist häufig so argumentiert worden, die alten kirchlichen Nachrichten über den Autor des Lukasevangeliums verdienten auch deswegen kein historisches Vertrauen, weil wir ihre Entstehung aus den Nachrichten der oben genannten Spätzeugnisse des Neuen Testaments selbst noch verfolgen könnten. Deswegen erstaunt es auch nicht, dass die aufgrund von Kol 4,14 („Lukas der Arzt“) durchgeführte Prüfung, ob die Werke des Lukas eine besondere Affinität zur Medizin erkennen lassen, zu keinem positiven Ergebnis geführt hat.

Nun hat man aber diese Behauptung, die altkirchlichen Aussagen beruhten auf einer Kombination aus den paulinischen und deuteropaulinischen Bemerkungen über Lukas, mit dem Argument als unbrauchbar zu erweisen versucht, es handele sich doch um einen merkwürdigen Zufall, „dass die Kirche auf der Suche nach geeigneten Verfassernamen für zwei ihrer Evangelien ausgerechnet in solchen Briefen ‚fündig“ geworden sein soll, die um Jahrzehnte jünger sind als die beiden Evangelien“ (Thornton 80). Die Angelegenheit sei vielmehr genau umgekehrt abgelaufen. Weil die Verfasser des Ersten Petrus- und des Zweiten Timotheusbriefes Markus und Lukas bereits als Verfasser von Evangelien gekannt hätten, hätten sie diese mit Petrus und Paulus in Verbindung gebracht. Dieses Argument scheint insgesamt kaum plausibler zu sein als das oben erwähnte von der Erschließung des Lukas aus den Wir-Berichten der Apostelgeschichte.

Das zuerst genannte Argument von der Erschließung aus den Wir-Berichten kann sich immerhin darauf stützen, dass Irenäus selbst auf diese Wir-Berichte Bezug nimmt. In jedem Fall schießt m. E. die Annahme Thorntons (66), spätestens mit der Verbreitung eines Evangeliums über die Grenze der Entstehungsgemeinde hinaus habe ein Interesse bestanden, nicht nur Verfasser und Titel, sondern auch noch weitere Informationen über diese Schrift zu besitzen, zumindest beim Markusevangelium weit über das Ziel hinaus. Es dürfte doch nicht von ungefähr kommen, dass im Prinzip alle vier in den Kanon aufgenommenen Evangelien keinen Verfassernamen (außer in der Überschrift, die in der Regel für sekundär gehalten wird) aufweisen, was gerade beim Lukasevangelium angesichts des topischen Charakters seines Vorwortes, zu dem normalerweise der Verfassername gehört, besonders auffällig ist. Sosehr irgendwann zum Ausgang des ersten oder zu Beginn des zweiten Jahrhunderts, sobald mehrere Evangelien in einzelnen Gemeinden Verbreitung gefunden hatten, eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen den verschiedenen Evangelien geschaffen worden sein muss, so wenig muss beim Markusevangelium diese sozusagen von Anfang an – beim Verlassen der Heimatgemeinde! – bestanden haben, weil es eben nicht das Evangelium des Markus, sondern das von Jesus Christus ist und weitere Werke der gleichen Art damals noch nicht existierten. Die Tatsache, dass auch Matthäus und vor allem Lukas ihren Namen nicht im Korpus des Evangeliums nennen, könnte zumindest ein Hinweis darauf sein, dass die Notwendigkeit der Unterscheidung des eigenen Werkes von den anderen Evangelien auch von ihnen nicht gesehen wurde, zumal keineswegs ausgemacht ist, ob Matthäus und Lukas ihr Werk neben das Markusevangelium stellen wollten oder ob sie nicht eher dessen Ersetzung anstrebten.

Das Lukasevangelium stammt von einem hellenistisch gebildeten, mit der LXX und jüdischen Bräuchen vertrauten Christen, dessen Namen wir nicht kennen und der vermutlich kein geborener Jude war. Dass wir gleichwohl auch weiterhin von Lukas und dem Lukasevangelium sprechen, wie wir es bereits beim Markus- und Matthäusevangelium getan haben, hat traditionelle Gründe. Eigentlich müsste man den Namen immer in Anführungszeichen setzen.

 

3.2.3 Stammte der gemeinsame Verfasser von Lukasevangelium und Apostelgeschichte aus Philippi?

Exakte Ortsbeschreibungen und ihre Konsequenzen

Vor einiger Zeit hat Pilhofer aus der zuverlässigen Darstellung in Apg 16,6 ff. auf eine Herkunft des Verfassers von Lukasevangelium und Apostelgeschichte aus Philippi geschlossen und dabei vor allem darauf abgehoben, „dass die ‚kartographische Wegbeschreibung‘ nirgendwo sonst in der Apostelgeschichte so präzis ist wie hier in Makedonien; ein Mehr an Einzelheiten ist im Rahmen eines Werkes wie der Apostelgeschichte schwerlich auch nur vorstellbar…“ (165). M. E. führen die von Pilhofer 249–251 aufgezeigten Beobachtungen, wonach 16,9 f. 13–15.16–18.19–24.25–34 zumindest in einem wichtigen Kernbestand auf Tradition beruhen, allenfalls so weit, dass der Verfasser der Apostelgeschichte Zugang zu Ortstraditionen aus Philippi hatte, nicht aber dahin, dass Philippi „seine Gemeinde“ gewesen sein muss. Die Überlegung, dass er aufgrund der guten Ortskenntnis aus Philippi stammen muss / soll, kommt m. E. über den Status einer (anregenden) Vermutung nicht hinaus.

Man wird bei der Würdigung des von Pilhofer beschriebenen Tatbestandes auch im Auge behalten müssen, was Breytenbach zu Kap. 13 und 14 erarbeitet hat, dass nämlich auch dort ein unlösbarer Zusammenhang zwischen der Erzählung und dem jeweiligen Schauplatz gegeben ist (52). Breytenbach erörtert verschiedene Möglichkeiten, wie der Verfasser der Apostelgeschichte an diesen, Lokalbezug verratenden Stoff gekommen sein kann, unter denen aber die Variante, dass der Verfasser der Apostelgeschichte in dieser Gegend seinen Wohnort hatte, bezeichnenderweise nicht auftaucht (94 f.). – Es sieht gegenwärtig so aus, als bahne sich in der deutschen Forschung zur Apostelgeschichte so etwas wie ein grundlegender Wandel hinsichtlich der Einschätzung ihrer historischen Zuverlässigkeit und ihrer Traditionsgebundenheit an. Ein zuverlässiger Schluss auf die Herkunft des Verfassers der Apostelgeschichte ergibt sich aus diesen aber wohl nicht.

4. Die Abfassungszeit des Lukasevangeliums

Nach dem MkEv verfasst

Da Lukas die Logienquelle und das Markusevangelium als Quellen benutzt, muss er sein Werk nach der Zerstörung Jerusalems geschrieben haben. Dafür, dass dies der Fall ist, spricht auch seine Bearbeitung der markinischen Fassung der synoptischen Apokalypse, die in 21,20–24 trotz der erneuten jüngsten Bestreitung deutlich nicht nur von der Zerstörung Jerusalems spricht, sondern diese selbst als schon geschehen voraussetzt. Anders ist m. E. weder die lukanische Textveränderung in 21,20 noch die in 21,24 mit ihrer Anspielung auf das Ende des Jüdischen Krieges („als Gefangene wird man sie in alle Länder unter alle Völker verschleppen“) verstehbar, auch wenn das häufig bestritten wird. Die Formulierung von 19,43 f. mit dem Hinweis auf den Wall um Jerusalem und die Belagerung dürfte ebenfalls bereits auf die Zerstörung Jerusalems zurückblicken, denn die Belagerung mit Hilfe eines Walles geschah zwar häufig, war aber nicht so normal, dass Lukas sie einfach hätte als Weissagung einführen können. Die Reflexion der Autoren auf entsprechende alttestamentliche Weissagungen, um die Abfassung des Lukasevangeliums in den 60er Jahren zu ermöglichen, scheint mir nicht tragfähig zu sein.

Kenntnis der Paulusbriefe?

Ist von daher der Beginn des Zeitraumes, in dem das Lukasevangelium entstanden ist, gut bestimmbar, so gilt das leider für das Ende dieses Zeitraumes nicht in gleicher Weise und ist dementsprechend kontrovers (vgl. Meiser). Dass Lukas auf den Tod des Paulus zurückblicken muss, unterliegt keiner Frage und wird durch Apg 21,24 f.38 zwar nicht erwiesen, aber doch in gewisser Weise nahegelegt. Dass er dessen Briefe nicht gekannt hat, ist angesichts der Tatsache, dass er nirgends in irgendeiner Weise darauf Bezug nimmt, die wahrscheinlichste, wenn auch neuerdings wieder bestrittene Annahme. Da diese allem Anschein nach um 100 gesammelt vorlagen, soll Lukas die Apostelgeschichte noch vor deren Sammlung geschrieben haben. Nun unterscheidet sich aber das „erste Wort“ (Apg 1,1) des Lukas von seinem zweiten, der Apostelgeschichte, etwas im Stil, woraus man auf eine gewisse zeitliche Distanz zwischen Evangelium und Apostelgeschichte geschlossen hat und mit dem Evangelium etwas weiter hinauf ins erste Jahrhundert gegangen ist, obwohl solche Stilunterschiede auch zwischen dem ersten und zweiten Teil der Apostelgeschichte festgestellt worden sind. Von daher wird das Evangelium in der Regel zwischen 80 und 90 datiert.

Ob die Argumentation mit den Paulusbriefen für die Datierung der Apostelgeschichte freilich in Zukunft weiter so eingesetzt werden kann, scheint fraglich, denn die Tatsache der Sammlung setzt doch ein Bewusstsein von der Bedeutung dieser Briefe voraus, das nicht schlagartig entstanden sein, sondern sich in einem längeren Prozess herausgebildet haben wird. Entweder ist dieser Prozess vollkommen an Lukas vorbeigegangen oder aber Lukas war an diesem gar nicht interessiert – aber ist das vorstellbar, beim „Historiker“ Lukas? Kann man angesichts dieser Tatsache Lukas in einer oder mehreren paulinischen Gemeinden ansiedeln? Auch das Argument hinsichtlich der Apostelgeschichte, in dieser spielten die Verfolgungen unter Domitian noch keine Rolle und deswegen müsse die Apostelgeschichte noch vor diesen, also um 90, verfasst sein, wird man, wenn überhaupt, nur mit großer Vorsicht einsetzen dürfen, da zumindest eine große Verfolgung unter Domitian inzwischen doch erheblichen Zweifeln in der Literatur begegnet (s. dazu unten § 31).

Man wird den Entstehungszeitraum des Lukasevangeliums am ehesten zwischen 80 und 100 ansetzen. Letztere Grenze wird durch ► Didache 1,4 f. gesetzt, wo doch wohl eine Erinnerung an die lukanische Feldrede vorliegt. Auch die theologische Entwicklung im Unterschied zu der des 2. Jahrhunderts spricht für diesen Zeitraum (vgl. Meiser). Dass die Autoren, die in Lukas aufgrund der Wir-Passagen der Apostelgeschichte (s. dazu § 8 Nr. 6.3.1) einen Paulusbegleiter sehen, hier eher weiter ins

1. Jahrhundert hinaufgehen, versteht sich von selbst.

5. Der Abfassungsort des Lukasevangeliums und die Zusammensetzung der lukanischen Gemeinde

Nur wenige Kriterien

An Orten und Landschaften, in denen Lukas sein Evangelium nach der Literatur verfasst haben soll, ist kein Mangel. Genannt werden: Caesarea, die Dekapolis, Antiochien, Kleinasien, Ephesus, Achaia, Makedonien, aber auch Rom, wobei Achaia und Rom schon in der Alten Kirche genannt wurden. Aus der Vielfalt dieser Nennungen auch in jüngster Zeit ist erkennbar, dass es kaum Daten zur Näherbestimmung des Abfassungsortes gibt und dass man dazu auf allgemeine Erwägungen angewiesen ist. Man hat z. B. auf die große Bedeutung Roms in der Apostelgeschichte hingewiesen, aber diese wird doch eher in deren Charakter als Reichshauptstadt und Mittelpunkt der damaligen Welt als in einer konkreten Beziehung des Autors zu dieser Stadt begründet sein. Von dort aus auf eine Abfassung des Evangeliums in Rom zu schließen, wäre deswegen doch wohl zu gewagt. Man hat freilich dazu ergänzend auch eine westliche Perspektive entdecken wollen, aus der Lukas auf Palästina blickt, die auch mit seiner Sicht des Mittelmeers übereinstimmen würde, das für ihn das Meer schlechthin ist, weswegen er die markinische Bezeichnung „Meer“ für den See Genesaret konsequent ändert.

Außerhalb Palästinas

Aber sehr viel weiter als zu der Bestimmung, dass der Verfasser außerhalb Palästinas schreibt, was wir angesichts seiner Sprache und des Zurückgehens spezifisch jüdischer Fragestellungen ohnehin schon wissen, kommt man mit diesen Überlegungen auch nicht. Soweit man das Matthäusevangelium nach Antiochien verlegt, sollte man für das Lukasevangelium besser auf Antiochien als Abfassungsort verzichten, obwohl Lukas schon im anti-marcionitischen Prolog und bei Eusebius sowie Hieronymus mit Antiochien in Verbindung gebracht wird. (Die Entstehung dieser Ansicht dürfte mit dem „Wir“ im westlichen Text [s. dazu unten § 8 Nr. 7] von Apg 11,28 zu tun haben.) Es sei denn, man geht von mehreren, relativ getrennten christlichen Gemeinden in Antiochien aus.

Überwiegend Heidenchristen

Die Gemeinde, für die Lukas schreibt, wird sich ganz überwiegend aus Heidenchristen zusammensetzen. Es ist schon deutlich geworden, dass das Interesse an spezifisch jüdischen Fragen bei Lukas gegenüber dem Markusevangelium deutlich gemindert ist und dass auch bei Markus noch vorhandene semitische Termini in griechische überführt werden, wenn das auch nicht bei allen und konsequent der Fall ist. Angleichungen an hellenistische und nicht-palästinische Realien sind in 5,19 parMk (Dach aus Ziegeln) und 6,48 parMt (Haus mit Keller) erkennbar. Für heidenchristliche Adressaten spricht schließlich auch die Anknüpfung an die hellenistische Literatur mit Hilfe des Vorworts. Zu diesem kann das Vorwort des Josephus in seinem Jüdischen Krieg verglichen werden, das sich auch nicht vornehmlich an Juden wendet. In die gleiche Richtung weisen schließlich auch die Rückführung des Stammbaums Jesu nicht nur auf David und Abraham als die entscheidenden Stationen der jüdischen Erwählungsgeschichte wie bei Matthäus, sondern bis zu Adam, und endlich auch seine Rede von Judäa als Bezeichnung für Palästina und nicht etwa nur die Umgebung Jerusalems. – Allerdings ist dies nur ein Aspekt des lukanischen Horizonts, neben den auch noch die Darstellung von der Entstehung der Gemeinden in der Apostelgeschichte zu stellen ist. Paulus beginnt dort mit seiner Predigt nicht nur in den Synagogen, sondern er gewinnt in der Regel aus den Juden und den jüdischen Sympathisanten der Synagoge auch die ersten Anhänger. Da dieses Bild dem Lukas von irgendwoher vermittelt sein muss und die wahrscheinlichste Annahme ist, dass diese Vermittlung (zumindest auch) durch die Zusammensetzung seiner Gemeinde geschah, ist es kaum sinnvoll, diese Gemeinde als ausschließlich aus Heidenchristen bestehend anzusehen. Man wird wegen des im dritten Evangelium erkennbaren heidenchristlichen Horizontes wohl kaum mit einem gleich starken Anteil von Juden- und Heidenchristen in der Gemeinde des Lukas zu rechnen haben, aber aufgrund der Darstellung der Apostelgeschichte ist doch ein gewisser Anteil an Judenchristen zu veranschlagen. Dazu dürften auch eine Reihe von Frauen gehört haben, wie überhaupt nach der Apostelgeschichte Frauen von Anfang an zur Urgemeinde gehörten. Ob einige von ihnen auch missionarisch tätig waren, wird v. a. in der feministischen Literatur diskutiert.

Da das dritte Evangelium eindeutig das nach 70 verfasste Markusevangelium voraussetzt und bereits dem Autor der ca. 100 entstandenen ► Didache bekannt gewesen sein dürfte, dürfte es zwischen 80 und 100 abgefasst worden sein.

6. Die Quellen des Lukasevangeliums

Kannte Lk „viele“ Evangelien?

Dass Lukas das Markusevangelium und die Logienquelle benutzt hat, hat sich bereits bei der Behandlung des synoptischen Problems ergeben (s. oben. § 3). Auffällig ist der Hinweis auf die zahlreichen Vorgänger im Prolog. Dieser Hinweis ist jedoch nicht so zu verstehen, dass Lukas bereits mehrere Evangelien kannte, da die Erwähnung mehrerer Vorgänger und die Betonung der zuverlässigeren Art der eigenen Darstellung zu den Topoi eines solchen Vorworts gehört. Es reicht so vollkommen, in den „Vielen, die es unternommen haben“, den Verfasser des Markusevangeliums, den der Logienquelle Q und die Autoren des Sonderguts des Lukas zu sehen.

Wie Lukas mit seinen Vorlagen umgegangen ist, lässt sich für die Logienquelle und das Sondergut nur per Analogie zu seinem Umgang mit dem Markusevangelium erheben. Da er einen großen Teil des Markusevangeliums (die Angaben schwanken je nach der gewählten Bezugsgröße. Wählt man die Verszählung als Vergleichspunkt, so kann man sagen, dass Lukas von den 661 Versen [auch diese Angabe schwankt, vgl. oben § 3 Nr. 4] des Markusevangeliums ca. 350 übernommen hat.) ausgelassen hat, ist auch mit einem Fortfall von Material der Logienquelle zu rechnen. Die Gründe für die Auslassung der im Markusevangelium vorhandenen Stücke lassen sich teilweise noch erkennen. Zum einen spielt die mehrfach erwähnte größere Ferne zum Judentum und dessen Fragestellungen eine Rolle. Stücke mit solchem Inhalt lässt Lukas als seine Gemeinde nicht mehr interessierend aus (Mk 7,1–23; 10,1–12; 7,24–30). Aber auch negative Äußerungen über Jesus und seine Verwandten oder über seine Jünger werden fortgelassen (Mk 3,20 f.; 6,45–52). Ein weiterer Grund dürfte sein, dass Lukas es vermeidet, Doppelberichte zu bringen, weswegen er sich bei Parallelen zwischen Q und Markus für eine Fassung entscheiden muss.

 

Reichlich Sondergut

Die Tatsache, dass fast die Hälfte des Evangeliums keine Parallele bei Markus und / oder Matthäus aufweist, zeigt, dass der Verfasser reichlich Sondergut-Material zur Verfügung hatte. Dass dieses Material aus einer Quelle stammt, ist angesichts der inhaltlichen, aber auch stilistischen Unterschiede wenig wahrscheinlich. Dieses Sondergut hat Lukas zum großen Teil in zwei geschlossenen Abschnitten in seinem Evangelium untergebracht (sog. Kleine [= 6,20–8,3] und Große Einschaltung [= 9,51–18,14]) und die sog. Vorgeschichte (1–2) an den Anfang gestellt. Das Markusgut dagegen findet sich in drei geschlossenen Blöcken, die freilich auch mit kleineren Einfügungen aus Sondergut oder der Logienquelle Q versehen sind: 3,1–6,19; 8,4–9,50; 18,15–24,11.

Sonderquelle für die Passionsgeschichte?

Ein besonderes Problem stellt noch die Passionsgeschichte dar, weil hier im Vergleich mit dem zweiten Evangelium nicht nur Umstellungen (z. B. 22,54b-62), sondern auch einige Einfügungen (22,15–18.24–30.31 f.35–38.43 f.; 23,6–12.13–16.27–31.39b-43) und Auslassungen (Mk 14,3–9.27.33 f.38b-42.44.46.49b-52.55–61a; 15,4 f.16–20a.23.25.29 f.34 f.44 f.) vorliegen, weswegen man dafür lange Zeit mit einer zusammenhängenden Sonderquelle gerechnet hat, die Lukas neben der Passionsgeschichte des Markusevangeliums benutzt haben sollte. Auffällig sind die Übereinstimmungen mit der johanneischen Passions- und Ostergeschichte v. a. in nicht-redaktionellen Passagen.

So nehmen manche Forscher nicht nur die Übernahme von Sondergut-Material an, sondern rechnen damit, dass Lukas neben der markinischen noch eine zweite, ihm bereits schriftlich vorliegende Passionsgeschichte kannte, die eng mit der vorjohan-neischen verwandt ist (Klein, Schleritt). Andere versuchen, die lukanische Passionsgeschichte vollständig auf der Basis der markinischen Leidensgeschichte zu verstehen, die Lukas seinen schriftstellerischen und theologischen Zielen entsprechend bearbeitet und mit weiteren Stoffen angereichert habe (vgl. Harrington). An der lukanischen Bearbeitung der Passionsgeschichte leuchtet schon etwas von dem großen Schriftsteller Lukas auf, das dann in der Apostelgeschichte, wo Lukas aufgrund des fehlenden vorgegebenen Rahmens viel selbständiger arbeiten muss und kann, noch deutlicher hervortritt.

7. Die Sprache des Lukasevangeliums

Unterschiedliches Sprachniveau

Die Sprache des Lukasevangeliums ist Gegenstand intensiver Forschung gewesen, was sicher auch damit zusammenhängt, dass dessen Sprache am ehesten von den vier Evangelien dem Ideal des klassischen Griechisch entspricht, wie schon Hieronymus (ca. 347–420) bemerkt hat. Allerdings, und das ist auffällig, gibt es in der Sprache des Evangeliums erhebliche Unterschiede. Dass und wie Lukas fast klassisch zu schreiben in der Lage ist, zeigt der Prolog 1,1–4, mit dessen Stil sich im Neuen Testament nur noch Hebr 1,1–4 vergleichen lässt. 3,1 f. und Apg 1,1 f. kommen an das Niveau von 1,1–4 zwar nicht heran, zeigen aber ebenfalls das hohe Stilniveau des Lukas. Lk 1,5–2,52 sind dagegen stark von der Sprache des Alten Testaments beeinflusst, was man wiederum vom übrigen Evangelium jedenfalls nicht in gleichem Maße sagen kann, obwohl sich auch dort, wie wir gesehen haben, immer noch eine ganze Reihe von semitischen Termini und Anlehnungen an die Sprache der ► Septuaginta finden (vgl. z. B das häufige „und es geschah“, die den Propheten-Schriften entnommene Wendung „es werden Tage kommen“ und die Form der Eigennamen des Alten Testaments). Dieser Unterschied in der Sprache wird sicher auch mit den verarbeiteten Quellen zusammenhängen, aber dieser Umstand erklärt diese Differenzen nicht vollständig. Warum Lukas, dessen stilistische Fähigkeiten der Prolog zeigt, sein Evangelium nicht noch gründlicher stilistisch überarbeitet, als er es ohnehin getan hat, bleibt unklar.

Die Verbesserungen sind im Einzelnen durch einen Vergleich mit dem Markustext eindeutig zu erheben, sie brauchen hier nicht eigens aufgeführt zu werden (vgl. dazu Fitzmyer, Luke I 107 ff.) – es mag der Hinweis genügen, dass Lukas ebenso wie Matthäus die auffällig häufige Parataxe des Markus oft durch eine Partizipialkonstruktion ersetzt und auch das historische Präsens des Markus meidet. Ein Vergleich des Vokabulars mit dem der klassischen griechischen Schriftsteller demonstriert die Eleganz des von Lukas geschriebenen Griechisch, obwohl 90 % seines Vokabulars auch in der Septuaginta zu finden ist. In diesem Phänomen kommt zum Ausdruck, dass Lukas mit seiner Sprache eine doppelte Tendenz verfolgt: Er will sich sowohl an die Klassik als auch an die Sprache der Bibel anpassen. Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass Lukas sich auch um eine stilistisch ausgefeilte Sprache bemüht. Dies kommt u. a. in dem Gebrauch von Synonymen zur Vermeidung von Wiederholungen und in dem von Klangfiguren wie der Alliteration zum Ausdruck.

8. Die Widmung an Theophilus

Die im Rahmen der neutestamentlichen Evangelien ungewöhnliche Widmung an den „hochverehrten Theophilus“ (= Gottesfreund, „Gottlieb“) ist im Rahmen antiker Werke nichts besonderes, da diese häufig im Vorwort (oder auch im Nachwort) Widmungen enthalten. So dediziert z. B. Josephus sowohl seine Jüdischen Altertümer (Proöm. 1,8) als auch sein Werk Contra Apionem (I 1,1; vgl. auch II 1 und 296 sowie Vita 430) dem ebenfalls (jedenfalls in CAp II) „hochverehrten“ Epaphroditus, über dessen Identität ebenso verschiedene Vermutungen vorgetragen worden sind wie über den Widmungsempfänger des Lukasevangeliums.

Theophilus eine konkrete Person?

Verlegerpflichten des Widmungsempfängers?

Dieser „Gottlieb“ hat die Exegese vielfältig beschäftigt, und man hat eine Reihe von Überlegungen zu seiner Person angestellt, die aber über den Charakter von Vermutungen nicht hinausgelangt sind. Dass hinter diesem Namen eine konkrete Person steht, die der Verfasser des Evangeliums und der Apostelgeschichte (vgl. 1,1) im Blick hat, und dass Lukas nicht etwa einfach alle Gottesfreunde dieser Welt meint, sollte nicht bezweifelt werden. Die Buchwidmungen in der hellenistischen Literatur beziehen sich durchweg auf eine konkrete Person (die Ausnahme Philokrates im Aristeasbrief ist anders zu bewerten). Selbst die Anrede mit „hochverehrter“ Theophilus, aus der man u. a. mit Hinweis auf Apg 23,26; 24,3; 26,25, auf einen römischen Beamten geschlossen hat, ist eine in solchen Buchwidmungen verbreitete Höflichkeitsanrede (vgl. nur Jos CAp I 1) an einen in der Regel sozial Hochgestellten, so dass auch aus ihr nicht allzu bedeutende Schlüsse gezogen werden können. Der Name ist nicht römisch, er wird bei den Juden der Diaspora gerne gebraucht.

Dass der von Lukas im weiteren Verlauf des Vorwortes in Aussicht gestellte Zweck des Doppelwerks auf ein Verlangen des Theophilus zurückgeht, ist nicht besonders wahrscheinlich. Es dürfte sich in Lk 1,4 eher um eine Darlegung der von Lukas mit seinen beiden Werken beabsichtigten Zwecke als um konkrete Forderungen des Theophilus handeln (vgl. allerdings Alexander).