Einleitung in das Neue Testament

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Für das Verständnis des Verhältnisses von Israel und Kirche nach Matthäus ist wichtig, dass auch letztere unter dem Gericht steht. Die Glieder der Kirche haben nur eine Chance auf das Heil, wenn sie der Gottesherrschaft würdige Früchte bringen (21,43). Matthäus setzt das Heil in eine enge Beziehung zur Praxis (der Barmherzigkeit 9,13; 12,7). Matthäus verlagert die Gründung der Kirche in das Leben des historischen Jesus (16,18 f.), liefert die Begründung dafür aber mit seinem Gesamtwerk, das mit Jesu Tod und seiner Auferweckung endet. Der irdische Jesus wusste sich nach Matthäus ausdrücklich nur zu Israel gesandt (10,5bf.23; 15,24) und die Ablehnung Jesu durch Israel, die sich vor allem in der Szene vor Pilatus (27,24 f.) und in der trotz der eindeutig bezeugten Auferstehung erfolgten Verleumdung der Oberpriester und Ältesten (28,11–15) manifestiert, ist der Grund für die Gründung der Kirche und für die Hinwendung zu den Heiden. Deswegen kann erst der Auferstandene den Missionsbefehl zu den Heiden verkündigen. In der Situation von Mt 16,18 f. ist von den Heiden noch nicht die Rede.

Die Vollmacht der Kirche

Der Kirche ist die Befolgung der ihr von Jesus übergebenen Weisung aufgetragen, sie hat aber auch selbst die Vollmacht, den Willen Gottes zu interpretieren, was Matthäus faktisch am Ehescheidungsverbot demonstriert und theoretisch mit der Vollmacht zum Binden und Lösen in 16,19 und 18,18 verdeutlicht. Diese Vollmacht ist noch nicht an ein Amt gebunden, da Matthäus mit Ausnahme von christlichen Schriftgelehrten noch keine Ämter in der Kirche kennt. Im Gegenteil, in 23,8–12 betont er stark die Bruderschaft in der Gemeinde. Dementsprechend stellt er die Jünger auch nicht als Vorbild und ideale Christen dar, sondern lässt sie für die Christen seiner Zeit mit allen ihren Stärken und Schwächen transparent werden. Nicht umsonst nennt er sie mehrfach Kleingläubige und verweist so darauf, dass sie zwar schon den Glauben haben, dass dieser aber noch nicht die angemessene Tiefe besitzt.

Matthäus hat so aufgrund der schmerzvollen Trennung von der jüdischen Synagoge die Selbständigkeit der Kirche auf Kosten des Judentums stark hervorgehoben, eine besondere heilsgeschichtliche Rolle Israels ist für ihn nicht mehr gegeben. Allerdings ist die Kirche nicht einfach schon im Heil, sondern steht selbst noch unter dem Gericht, das aufgrund der Werke erfolgt. Welche Werke gefordert sind, hat der Jesus des Evangeliums kraft der ihm von Gott gegebenen Autorität festgelegt, aber auch die Gemeinde als Ganze partizipiert an dieser Vollmacht und hat die Aufgabe, den von Jesus interpretierten Willen Gottes je neu auf die konkrete geschichtliche Lage anzuwenden. Dabei rechnet Matthäus nicht mit fehlerfreien und sündlosen Menschen, sondern zeichnet bereits die Jünger in der Nachfolge Jesu als auf dem Weg, aber eben noch nicht am Ziel.

Das Evangelium des Matthäus spiegelt den Weg der nachösterlichen Gemeinde aus dem Judentum heraus zur beschneidungsfreien Heidenmission und legitimiert diese. Indem die Gemeinde diesen Weg geht, bleibt sie ihrem Herrn und seinen Weisungen treu. Matthäus bringt Jesus in ein so intensives Verhältnis zu Gott, dass er seine natürliche Herkunft auf den Heiligen Geist zurückführt. Deswegen kennt Jesus auch den Willen Gottes, was ihn aber von Problemen mit dem Willen Gottes nicht enthebt. Weitere Themen der matthäischen Theologie sind das Gesetz und die Kirche.

Literatur

1. Kommentare

DAVIES, W. D. / ALLISON, D. C., A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel According to St. Matthew I–III (ICC) Edinburgh 1991 ff.; FIEDLER, P., Das Matthäusevangelium (ThKNT 1) Stuttgart 2006; FRANKEMÖLLE, H., Matthäus-Kommentar 1/2, Düsseldorf 1994.1997; GNILKA, J., Das Matthäusevangelium 1 und 2 (HThK I/1 und 2) Freiburg u. a. 31993. 21992; HARE, D. R.A., Matthew, Louisville 1993; HARRINGTON, D. J., The Gospel of Matthew (Sacra Pagina 1) Collegeville 1991; KEENER, C. S., A Commentary on the Gospel of Matthew, Grand Rapids, Mich. / Cambridge 1999; KONRADT, M., Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1) Göttingen 2015; LUCK, U., Das Evangelium nach Matthäus (ZBK. NT 1) Zürich 1993; LUZ, U., Das Evangelium nach Matthäus I–IV (EKK I/15–4) Zürich u. a. 1989 ff.; MAIER, G., Das Evangelium des Matthäus I, Holzgerlingen 2015; MORRIS, L., The Gospel acc. to Matthew, Grand Rapids, Mich. / Leicester 1992; MOUNCE, R. H., Matthew (NIBC) Peabody 1993; SAND, A., Das Evangelium nach Matthäus (RNT) Regensburg 1986; SCHNACKENBURG, R., Matthäusevangelium Bd. 1 und 2 (NEB 1/1 und 1/2) Würzburg 21991. 21994; SCHWEIZER, E., Das Evangelium nach Matthäus (NTD 2) Göttingen 41986; WEBER, S. K., Matthew (Holman NT Commentary 1) Nashville 2000; WIEFEL, W., Das Evangelium nach Matthäus (ThHK 1) Leipzig 1998.

2. Monographien und Aufsätze

BALCH, D. L. (Hg.), Social History of the Matthean Community. Cross-Disciplinary Approaches, Minneapolis 1991; Bauer, D. R. / Powell, M. A. (Hg.), Treasures New and Old. Recent Contributions to Matthean Studies (SBL Symp. Ser. 1) Atlanta, GA 1996; BORNKAMM, G. / BARTH, G. / HELD, G., Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium (WMANT 1) Neukirchen 71975; BORNKAMM, G., Studien zum Matthäus-Evangelium (WMANT 125) Neukirchen-Vluyn 2009; BROER, I., Das Verhältnis von Judentum und Christentum im Matthäus-Evangelium (Franz-Delitzsch-Vorlesung 1994) Münster 1995; ders., Versuch zur Christologie des ersten Evangeliums, in: Segbroeck, F. v. / Tuckett, C. M. / Belle, G. v. / Verheyden, J. (Hg.) (s. § 4 unter Zeller) 1251–1282; CUVILLIER, E., Torah Observance and Radicalization in the First Gospel. Matthew and First-Century Judaism: A Contribution to the Debate, in: NTS 55 (2009) 144–159; DAVID, E. (Hg.), The Gospel of Matthew in current study. Studies in memory of W. G. Thompson, Grand Rapids, Mich. 2001; DEINES, R., Die Gerechtigkeit der Tora des Menschensohnes (WUNT 177) Tübingen 2004; ders., Das Erkennen von Gottes Handeln in der Geschichte bei Matthäus, in: Frey, J. (Hg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (WUNT 248)

Tübingen 2009, 403–441; FENEBERG, R., Die Erwählung Israels und die Gemeinde Jesu Christi. Biographie und Theologie Jesu im Matthäusevangelium. (HBS 58) Freiburg u. a. 2009; FOSTER, P., Community, Law and Mission in Matthew’s Gospel (WUNT II 177) Tübingen 2004; FRANKEMÖLLE, H., Die sogenannten Antithesen des Matthäus (Mt 5,21 ff). Hebt Matthäus für Christen das Alte Testament auf? Von der Macht der Vorurteile, in: ders. (Hg.), Die Bibel. Das bekannte Buch – das fremde Buch, Paderborn u. a. 1994, 61–92; ders., Jahwebund und Kirche Christi (NTA 10) Münster 21984; GARBE, G., Der Hirte Israels. Eine Untersuchung zur Israeltheologie des Matthäusevangeliums (WMANT 106) Neukirchen-Vluyn 2005; GUNDRY, R. H., The Apostolically Johannine Pre-Papian Tradition (s. § 5); Gurtner, D. M. / Nolland, J. (Hg.), Built Upon the Rock. Studies in the Gospel of Matthew. Grand Rapids, Mich. 2008; KAMPLING, R. (Hg.), „Dies ist das Buch …“. Das Matthäusevangelium (Fs. H. Frankemölle) Paderborn u. a. 2004; Lange, J. (Hg.), Das Matthäus-Evangelium (WdF 525) Darmstadt 1980; KINGSBURY, J. D., Matthew: Structure, Christology, Kingdom, Minneapolis 21989; KÖHLER, W-D., Die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus (WUNT II 24) Tübingen 1987; KONRADT, M., Die Sendung zu Israel und zu den Völkern im Matthäusevangelium im Lichte seiner narrativen Theologie, in: ZThK 101 (2004) 397–425; ders., Studien zum Matthäusevangelium (WUNT 358) Tübingen 2016; ders., Die Rezeption der Schrift im Matthäusevangelium in der neueren Forschung, in: ThLZ 135 (2010) 919–932; ders., Matthäus und Markus. Überlegungen zur matthäischen Stellung zum Markusevangelium, in: P. v. Gemünden u. a. (Hg.), Jesus – Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft, Göttingen 2013, 211–235; ders., Die Ausrichtung der Mission im Matthäusevangelium und die Entwicklung zur universalen Kirche. Überlegungen zum Standort des Matthäusevangeliums, in: C. K. Rothschild / J. Schröter (Hg.), The Rise and Expansion of Christianity in the First Three Centuries of the Common Era (WUNT 301) Tübingen 2013, 143–164; KÜRZINGER, J., Das Papiaszeugnis (s. § 5); Lampe, P. (Hg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik, Wirkungsgeschichte, Matthäusevangelium. Fs. für U. Luz, Neukirchen-Vluyn 2008; LINDEMANN, A., Literatur zu den synoptischen Evangelien 1984–1991 II, in: ThR 59 (1994) 113–185; V 1992–2000 in: ThR 70 (2005) 174–216.338–382; LUZ, U., Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993; ders., Geschichte und Wahrheit im Matthäusevangelium, in: EvTh 69 (2009) 194–208; Massaux, E., Influence de l’évangile de Saint Matthieu sur la littérature chrétienne avant Saint Irénée, reimpr. anast. pres. par F. Neirynck (BEThL 75) Leuven 1986; METZNER, R., Die Rezeption des Matthäusevangeliums im 1. Petrusbrief. Studien zum traditionsgeschichtlichen und theologischen Einfluss des 1. Evangeliums auf den 1. Petrusbrief (WUNT 74) Tübingen 1995; MILER, J., Les citations d’accomplissement dans l’Évangile de Matthieu (AnBib 140) Rom 1999; MÜLLER, K. H., Beobachtungen zum Verhältnis von Tora und Halacha in frühjüdischen Quellen, in: Broer, I. (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart u. a. 1992, 105–134; NORTH, J. L., Reactions in Early Christianity to Some References to the Hebrew Prophets in Matthew’s Gospel, in: NTS 54 (2008) 254–274; Oberlinner, L. / Fiedler, P. (Hg.), Salz der Erde – Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium. Fs. A. Vögtle, Stuttgart 1991; Powell, M. A. (Hg.), Methods for Matthew. Cambridge / New York 2009; REPSCHINSKI, B., The Controversy Stories in the Gospel of Matthew (FRLANT 189) Göttingen 2000; SALDARINI, A. J., Matthew’s Christian-Jewish Community, Chicago / London 1994; SAND, A., Das Matthäus-Evangelium (EdF 275) Darmstadt 1991; Schenke, L. (Hg.), Studien zum Matthäusevangelium. Festschrift W. Pesch (SBS) Stuttgart 1988; SCHMIDT, J., Gesetzesfreie Heilsverkündigung im Evangelium nach Matthäus (fzb113) Würzburg 2007; SCHOEDEL, W. R., Ignatius and the Reception of the Gospel of Matthew in Antioch, in: Balch, D. L. (Hg.) (s. o.) 129–177; SCHWEIZER, E., Matthäus und seine Gemeinde (SBS 71) Stuttgart 1974; SENIOR, D. (Hg.), The Gospel of Matthew at the Crossroads of Early Christianity (BEThL 243) Löwen 2011; SIM, D. C., The Gospel of Matthew and Christian Judaism, Edinburgh 1998; ders., Paul and Matthew on the Torah, in: Middleton, P. / Paddison, A. / Wenell, K. J. (Hg.), Paul, Grace and Freedom. Essays in Honour of J. K. Riches, London / New York 2009, 50–64; ders., Reconstructing the Social and Religious Milieu of Matthew: Methods, Sources and the possible Results, in: Sandt, H. v. de / Zangenberg, J. K. (Hg.), Matthew, James, and Didache: Three Related Documents in Their Jewish and Christian Settings (SBL. SS 45) Atlanta 2008, 13–32; STANTON, G., The Origin and Purpose of Matthew’s Gospel, in: ANRW 25.3 (Berlin / New York 1985) 1889–1951; ders., A Gospel for a New People, Edinburgh 1992; STRECKER, G., Der Weg der Gerechtigkeit (FRLANT 82) Göttingen 31971; THEISSEN, G., Lokalkolorit (s. § 4); TOMSON, P. J., Das Matthäusevangelium im Wandel der Horizonte: Vom ‚Hause Israels‘ (10,6) zu ‚allen Völkern‘ (28,19), in: Doering, L. / Waubke, H.-G. / Wilk, F. (Hg.), Judaistik und neutestamentliche Wissenschaft (FRLANT 226) Göttingen 2008, 313–333; TREVETT, C., Approaching Matthew from the Second Century, in: JSNT 20 (1984) 59–67; TRILLING, W., Das wahre Israel (StANT 10 = EThSt 7) München 31967; TRUNK, D., Der messianische Heiler (HBS 3) Freiburg u. a. 1994; VLEDDER,E.-J. / AARDE, A. G., The social location of the Matthean community, in: HTS 51 (1995) 388–408; ZUMSTEIN, J., Antioche sur l’Oronte et l’évangile selon Matthieu, in: ders., Miettes exégétiques, Genf 1991, 151–167.

 

§ 7Das Evangelium nach Lukas

1. Gliederung

Das kunstvolle Proömium

Man hat die literarische Gestalt des Lukasevangeliums nicht zu Unrecht gerühmt und mit einem Architekturwerk verglichen, dessen Gliederung sich erst bei dessen Durchschreiten erschließe. Die kunstvolle Komposition signalisieren schon das Proömium und die Tatsache, dass Lukas nicht nur ein Evangelium, sondern auch ein zweites, damit zusammenhängendes Werk (vgl. Apg 1,1) verfasst hat, sowie der Umstand, dass das Vorwort des Evangeliums wahrscheinlich auch schon das zweite Werk mit im Blick hat. Aber der Vergleich mit der Architektur darf nicht zu der Annahme führen, die Strukturen dieses Werkes lägen offen zutage, wenn man nur das Portal durchschreite und sich mit lebendigen Augen ins Innere begebe.

Fehlen von Gliederungsmerkmalen

Inhaltliche Kriterien als Ersatz

Zwar stellen Vorworte schon konventionell etwas eigenes dar, und die Vorgeschichte (1–2) ist erkennbar auch formal vom Beginn der öffentlichen Wirksamkeit des Täufers und der Jesu durch den Synchronismus (= Zusammenstellung von gleichzeitigen Personen oder Ereignissen) in 3,1 f. abgehoben, aber ähnliche trennende Signale finden sich im weiteren Verlauf des Evangeliums nicht, es sei denn, man nähme die etwas feierliche, an ► Septuagintawendungen anknüpfende Formulierung in 9,51 als eine solche, was aber kaum berechtigt ist.

Wie im ersten und zweiten Evangelium sind also auch im dritten nur ganz wenige wirklich deutliche Gliederungssignale vorhanden. Weder der unterschiedliche Stil zwischen Lk 1 und 2 einerseits und dem Korpus des Evangeliums andererseits noch die Tatsache, dass der sog. Reisebericht in 9,51–19,27 keine Parallele bei den übrigen Synoptikern hat und auch sonst abweicht, sind als Gliederungssignal zu bewerten, da das Lukasevangelium nach der Absicht seines Autors ja aller Wahrscheinlichkeit nach als selbständiges Werk gesehen und so auch gelesen werden will (und nicht in ständigem Vergleich mit dem Markusevangelium). Das hat zur Folge, dass man auch hier wie bei den anderen Synoptikern inhaltliche oder geographische Kriterien zur Gliederung heranzieht.

Allerdings gibt es durchaus Autoren, die angesichts des Fehlens solcher formellen Einteilungshinweise hinter 3,1 in 3,1–24,53 einen in sich geschlossenen Hauptteil sehen. Freilich müssen auch sie dann diesen großen Abschnitt in Unterabschnitte zerlegen und sich dabei der genannten oder anderer Kriterien bedienen. Da die Wendung Jesu nach Jerusalem in 9,51 nicht nur deutlich angezeigt, sondern auch mit einer gewissen Feierlichkeit formuliert ist, wird dieser Einschnitt von vielen Autoren als Gliederungsmerkmal akzeptiert. Das gleiche gilt für 4,14 und 19,28/29, obwohl hierfür keine sprachliche Hervorhebung, sondern nur die Hinwendung nach Galiläa bzw. das erstmalige Betreten von Jerusalem und seiner Umgebung angeführt werden kann. Nicht umsonst sind die Autoren, die hier einen neuen Abschnitt beginnen lassen, uneinig, ob dieser mit 19,28 oder mit 19,29 beginnt. Außer der Annäherung an Jerusalem ist dort auch wirklich kein Signal für einen neuen Abschnitt zu entdecken. Dieses aber wird in 19,28 genannt, weswegen mit V. 28 der neue Abschnitt beginnen muss, wenn man hier einen Einschnitt finden will. Hat man sich so auf die Geographie als Gliederungskriterium einmal eingelassen, so kann man auch für den ersten Teil noch in 4,14 aufgrund der Hinwendung Jesu nach Galiläa einen weiteren Abschnitt beginnen lassen.

Legt man sich aber Rechenschaft darüber ab, nach welchem Kriterium diese Einteilung erfolgt ist, so ist dies außer dem konventionellen Einschnitt zwischen Vorwort und Korpus des Evangeliums in 1,5 und dem von Lukas deutlich auch sprachlich signalisierten Einschnitt in 3,1 f. nur die Geographie (4,14; 9,51; 19,28). Dann sollte man nicht auch noch mit 22,1, dem Beginn der Passionsgeschichte, einen neuen Abschnitt beginnen lassen. Das legt sich zwar vielleicht inhaltlich nahe, ist aber durch keine geographische Veränderung angezeigt – auf diese Art und Weise kann man ein einheitliches Gliederungskriterium einigermaßen durchhalten.

Diese Überlegungen führen zu folgender Einteilung:


1,1–4Lukasprolog (Vorwort) mit Widmung an Theophilos
1,5–4,13Kindheitsgeschichten und Vorbereitung des Auftretens Jesu
1,5–2,52Die Kindheitsgeschichten Johannes des Täufers und Jesu
3,1–4,13Johannes der Täufer, Taufe und Erprobung Jesu
4,14–9,50Jesus in Galiläa und Judäa
4,14–6,16Beginn des öffentlichen Wirkens in Nazareth, Berufung der ersten Jünger, Heilungen und erste Auseinandersetzungen
6,17–49Die Feldrede
7,1–9,50Zyklus von Machttaten, Gleichnissen und zunehmende Auseinandersetzungen
9,51–19,27Der sog. „Reisebericht“
darunter: der barmherzige Samariter (10,25–37), Maria und Martha (10,38– 42), das Vaterunser (11,1–4), der reiche Kornbauer (12,13–21), das Gleichnis vom Gastmahl (14,15–24), der verlorene Sohn (15,11–32), das Kommen des Menschensohnes (17,20–37)
19,28–24,53Letzte Tage in Jerusalem, Tod und Auferstehung Jesu
19,27–20,47Einzug, Tempelaktion und Auseinandersetzungen mit Jerusalemer Gegnern
21 Die Endzeitrede Jesu
22–23 Passion, Tod und Begräbnis Jesu
24 Die Auffindung des leeren Grabes, die Emmausgeschichte, die Ostererscheinung Jesu in Jerusalem und die Himmelfahrt Jesu

2. Gründe für die Abfassung des Lukasevangeliums

Lk und Joh nennen Abfassungsgründe

Während Markus und Matthäus zu den Gründen, aus denen heraus sie sich zum Verfassen ihrer Schriften entschlossen haben, keine Auskunft geben, äußern Lukas und Johannes sich dazu. Beide geben deutlich zu erkennen, dass sie ein Buch für den Glauben schreiben wollen – dabei gibt es allerdings charakteristische Unterschiede. Während der Verfasser des Johannesevangeliums am Ende seines Werkes (20,30 f.) deutlich macht, dass es ihm wichtiger ist, den Nicht-Wunderstoff zu erzählen als noch mehr Wundergeschichten zu überliefern, dass aber gleichwohl die bereits erzählten Berichte von den „Zeichen“ besonders geeignet sind, zum Glauben zu führen bzw. in diesem zu halten, stellt Lukas in schriftstellerischer Manier seinem Werk ein Proömium / Vorwort voran, in dem er seine Absichten und sein Verfahren beschreibt. Ist hier auch im einzelnen manches umstritten und sind auch die Absichten, die Lukas mit seinem Evangelium und der Apostelgeschichte verbindet, in ihrer genauen Kennzeichnung kontrovers, so kann man doch sein Ziel anhand seiner Ausführungen wenigstens insoweit umschreiben, dass sein Werk wie das des vierten Evangelisten dem Glauben dienen, näherhin die Zuverlässigkeit der christlichen Lehre aufzeigen will. Wie es das im einzelnen anstrebt, ist allerdings nicht so eindeutig und auch Gegenstand heftiger theologischer Kontroversen geworden.

2.1 Glaube und Historie nach Lukas

Historische Glaubensbeweise

Die grundlegende Frage dabei ist, wodurch genau Lukas die Zuverlässigkeit, die er dem Theophilus mit Hilfe seines Werkes in Aussicht stellt, erreichen will und was diese Zuverlässigkeit der Worte, in denen Theophilus unterrichtet worden ist, exakt meint. Soll hier, wie vorgetragen worden ist, durch historische Rückfrage die Integrität der apostolischen Tradition sichergestellt und dem Glauben auf diese Weise ein zuverlässiges Fundament gegeben werden? Dagegen lässt sich natürlich trefflich einwenden, dass dann dem Glauben das menschliche Bemühen vorgeordnet werde und das Evangelium darüber hinaus unter das Lessingsche Verdikt von den zufälligen Geschichtswahrheiten falle. Zeigt aber Lukas in seinem Vorwort wirklich, dass er etwas ganz anderes will als seine Vorgänger, die sich mit dem Überliefern der Berichte der Tradition zufrieden gaben, während er zu den Tatsachen selbst durchstoßen will? Worin besteht z. B. der Unterschied zu Joh 20,30 f.? Dort ist doch auch nicht ganz allgemein und etwa im modernen Sinne an die Bedeutsamkeit der Wundergeschichten und die daraus zu ziehenden Konsequenzen gedacht, sondern die Wundergeschichten erzählen Dinge, die Jesus, noch zahlreicher als im Evangelium berichtet, „getan“ hat, und diese sind „aufgeschrieben, damit ihr glaubt“. Hier sind die Wunder kaum als zarter Hinweis gedacht, den man aufnehmen, aber auch ebenso gut überhören kann, sondern eher im Sinne des Ersten Vatikanischen Konzils als „ganz sichere Zeichen für die Göttlichkeit der Offenbarung“ verstanden. Lukas geht, das ist zuzugeben, den Weg der Tatsachen viel offener und auch breiter, indem er die Erkenntnis der Zuverlässigkeit der Lehre an seine gesamten Ausführungen und nicht nur an die Wundergeschichten bindet.

Das lukanische Werk als ganzes gewährt nach seiner Ansicht die Zuverlässigkeit der christlichen Lehre, weil sein Verfasser alles getan hat, was man von einem Historiker erwarten kann, allem sorgfältig und von Anfang an nachgegangen ist und es der Reihe nach aufgeschrieben hat. Daraus aber, dass der Bericht des Lukas „wahr“ im Sinne von historisch korrekt zu sein beansprucht, und aus der vorausgesetzten Übereinstimmung dieses Berichtes mit der Lehre, in der Theophilus unterrichtet worden ist, soll dieser deren Zuverlässigkeit erkennen. Vom Glauben ist direkt gar nicht die Rede, und dass die Übereinstimmung der beiden Zeugnisse die Wahrheit des von den Worten Gemeinten beinhaltet, ist ebenfalls auffälligerweise nicht gesagt. Nach Ausweis seines Vorwortes hat Lukas also als ein gebildeter ► Hellenist die evangelische Überlieferung einer sorgfältigen Überprüfung unterzogen und zweifelt keinen Moment daran, dass das Ergebnis seiner Untersuchung mit der Lehre, in der Theophilus unterrichtet ist, übereinstimmt. Dass er sich diese Mühe macht, spricht dafür, dass er sich davon etwas für den Glauben verspricht, aber wie er sich das Verhältnis zwischen der sich aus dieser Übereinstimmung ergebenden Zuverlässigkeit und dem Glauben denkt, gibt er nicht zu erkennen.

 

Analogie zu Joh 20,30

Die Vermutung, dass er sich dieses ähnlich vorgestellt hat wie der Evangelist in Joh 20,30 f., ist freilich nahe liegend, aber kann man ihm dies zum Vorwurf machen, wenn die Geistesgeschichte noch lange Zeit bis zur Erkenntnis der grundsätzlichen Zufälligkeit alles Historischen gebraucht hat? Ansätze zu dieser Erkenntnis finden sich freilich schon im Neuen Testament (vgl. Mt 12,27 f., aber auch Betz / Riesner 194, die die Zufälligkeit alles Historischen auf ein „mit dem heilsgeschichtlichen Denken der Bibel unvereinbares philosophisches Vorurteil“ zurückführen). Und wird der Glaube schon an die eigene Tätigkeit des Menschen ausgeliefert, wenn ein Schriftsteller die Basis-Erzählungen seiner religiösen Bewegung in eine Form bringt, die den Erfordernissen seiner Zeitgenossen entspricht, die nun einmal auf „Historisches“ aus sind? Man vergleiche dazu nur, wie Josephus versucht, für sein Volk den Anschluss an die Geschichte zu gewinnen (CAp I 1). Die Absicht des Lukas könnte es durchaus sein, allein dieser Tendenz nach Historischem zu genügen, weswegen man auch nicht unbedingt nach Gerüchten über die Christen und Kritik an ihnen als Anlass für die Arbeit des Lukas suchen muss.

Notwendigkeit des lukanischen Unternehmens

Aus dem Vorwort ergibt sich des Weiteren, dass nach Ansicht des Lukas aus den von ihm erwähnten Vorgängerwerken diese Sicherheit nicht zu gewinnen war. Insofern solche historische Zuverlässigkeit aber nach Ansicht des Lukas für den Glauben in der hellenistischen Welt notwendig ist, ist das von Lukas in Angriff genommene Unternehmen für seine Umgebung zwingend erforderlich.

2.2 Das Verfahren des „Historikers“ Lukas

Anspruch und Wirklichkeit

Ein Problem besteht nun freilich darin, dass Lukas diesen in seinem Vorwort ausgedrückten Anspruch im Innern seines Werkes in keiner Weise einlöst.

Zwar verbessert er seine Vorlagen, kürzt sie auch und stellt gelegentlich größere Zusammenhänge her, aber dass er systematisch, womöglich aufgrund von Nachforschungen, Verbesserungen an seinen Quellen im Hinblick auf deren größere historische Genauigkeit vornimmt, ist nicht feststellbar, es sei denn, man begreift die Auslassung eines erheblichen Teiles des Markusstoffes als solche. Aber allein die Art und Weise, wie er mit der eschatologischen Botschaft Jesu umgeht, spricht in keiner Weise dafür, dass dies auf einer sorgfältigen Nachforschung bis zu den Ursprüngen beruht oder dass diese auch nur beabsichtigt ist. Entgegen den Ausführungen im Vorwort verhält er sich im Innern seines Werkes keineswegs anders als seine Vorgänger.

Zwar lassen sich eine ganze Reihe von Umstellungen und Auslassungen gegenüber dem Markusevangelium beobachten, aber auch die Gründe dafür sind in der Regel erkennbar, und diese sind schriftstellerischer und nicht historischer Natur. Man kann das sehr schön an der Perikope von der Verwerfung Jesu in seiner Vaterstadt (4,16–30 par Mk 6,1–6) sehen, die Lukas in Abweichung von seiner Markusvorlage zu einer programmatischen, das öffentliche Wirken Jesu eröffnenden Szene umgestaltet hat, in der sich das Wirken Jesu und sein „Erfolg“ bereits abschattet. Es spricht nichts dafür, dass Lukas für diese redaktionell gestaltete Szene an dieser Stelle eine konkrete Nachricht hatte, vielmehr weist alles darauf hin, dass Lukas diese Szene hierher gestellt und selbst gestaltet hat, weil er sie für die Eröffnung des öffentlichen Wirkens Jesu für besonders geeignet hielt. Nicht eine geschichtliche Nachricht, sondern die schriftstellerischen Ziele des Lukas sind der Anlass für diese Szene. Dieses Verfahren – Lukas richtet sich nach schriftstellerischen Notwendigkeiten und nicht nach seinen Quellen – lässt sich auch sonst in seinem Werk häufig beobachten und zeigt, dass die Beschreibung der lukanischen Absicht im Prolog nicht im Sinne eines heutigen Historikers missverstanden werden darf.

Lukas ist der einzige Evangelist, der sein Werk nach Art der antiken Schriftsteller mit einem Prooemium eröffnet, in dem er seine Absicht erläutert. Indem er mit seinem Werk für Theophilos, dem er das Werk widmet, die Zuverlässigkeit der Lehre erweisen will, will er nicht den Glauben an die Historie ausliefern und begreift er das Jesusgeschehen auch nicht als ein ausschließlich der Vergangenheit angehörendes Ereignis, sondern begreift das Jesusgeschehen als konstitutiven Teil der Ereignisse, die sich als Erfüllung der Schrift ereignet haben.

3. Der Verfasser des Lukasevangeliums

Sehr auffällig ist die Tatsache, dass Lukas trotz seines literarisch ausgefeilten Vorwortes seinen Namen in diesem nicht preisgibt, obwohl an sich die Nennung des Namens durchaus zum Stil des Vorwortes gehört. Deswegen sind wir für die Rückfrage nach dem Verfasser zunächst ausschließlich auf innere Kriterien angewiesen. Allerdings kann dazu auch die Apostelgeschichte herangezogen werden, da diese vom selben Verfasser stammt (zur Begründung s. unten § 8 Nr. 3.1)

3.1 Ein Verfasser der dritten christlichen Generation

Juden oder Heidenchrist?

Schon aus dem Vorwort geht hervor, dass der Verfasser des Lukasevangeliums nicht den Anspruch erhebt, Augenzeuge des Jesusgeschehens zu sein, sondern der zweiten oder eher der dritten Generation angehört. Da Sprache und Stil der lukanischen Werke auf einen gebildeten ► Hellenisten hinweisen, konzentriert sich die Frage nach dem Verfasser zunächst darauf, ob es sich um einen Judenoder einen Heidenchristen handelt.

Ambivalente Argumente

In der Regel wird für die Entscheidung dieser Frage einerseits darauf hingewiesen, dass der Verfasser mit dem Alten Testament in seiner griechischen Übersetzung sehr vertraut und von dessen Sprache geprägt ist, durchaus ein gewisses Interesse am Gesetz, den Propheten und Jerusalem hat, dass er den Synagogengottesdienst korrekt zu beschreiben in der Lage ist (Lk 4,16–30; Apg 13,14–41) und über zahlreiche, aus judenchristlichem Milieu stammende Sondertraditionen verfügt (Lk 1–2; 17,11–19; 18,9–14). Andererseits gibt es aber wichtige Argumente, die für einen Heidenchristen sprechen: Lukas vermeidet semitische Begriffe, hat kein Interesse an Auseinandersetzungen um kultische Fragen, kennt sich in der Geographie Palästinas nicht aus (17,11), und die typisch jüdische Sühnevorstellung tritt stark zurück. Das Ergebnis dieser Argumentation ist dann in der Regel ein Heidenchrist mit Kontakt zum Diasporajudentum als Autor des dritten Evangeliums, wenn der Verfasser nicht weitergehend sogar zu dem Kreis der Gottesfürchtigen im Umfeld der Synagoge gezählt wird.

Die Lage ist naturgemäß doch komplexer, als sie bei solcher Zusammenfassung erscheint. Lukas hat z. B. durchaus jüdische Termini nicht nur gestrichen bzw. durch griechische Termini ersetzt (Rabbi, Rabbuni, Kananäer), sondern auch beibehalten. So begegnet Beelzebul bei Lk genauso häufig wie bei Matthäus, aber häufiger als bei Markus, für Mammon lauten die Zahlen: Matthäus 1, Markus 0, Lukas 3, für gehenna Matthäus 7, Markus 3, Lukas 1 und für Satan Matthäus 3, Markus 5, Lukas 5 Belege. Ebenso überliefert Lukas durchaus eine ganze Reihe von Perikopen, die von Gesetzes- und Reinheitsproblemen handeln (vgl. nur Mk 2,23–3,6 parLk), und dass Geographie-Kenntnisse als Argument kaum zu verwenden sind, haben wir schon beim Markusevangelium gesehen (s. dazu oben § 5 Nr. 3.2.2).

Dennoch gehen die oben genannten Argumente in die richtige Richtung, weisen doch die Sprache und die hellenistische Bildung des dritten Evangelisten auf einen in der Diaspora Geborenen hin. Die Tendenz zur Reduzierung jüdischer Fragen und Ausdrücke, die sich ja sicher auch der fortgeschrittenen Entwicklung des „Christentums“ und seiner Bewegung vom Judentum fort verdankt, könnte ein Hinweis dafür sein, dass der Verfasser eher aus dem Heiden- als aus dem Judentum stammt. Dass dies „mit Sicherheit“ gesagt werden kann, scheint mir jedoch eine Übertreibung zu sein – die mangelnde Kenntnis der Geographie Palästinas und die Reduzierung der semitischen Fragen und Begriffe geben diese Sicherheit nicht her. Das gleiche gilt freilich erst recht für die neuerdings wieder vereinzelt vorgetragene Ansicht, Lukas sei ein Judenchrist aus der Diaspora.