Einleitung in das Neue Testament

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5. Der Abfassungsort des Matthäusevangeliums

Eine Griechisch sprechende Gemeinde

Der Evangelist schreibt ein griechisches Werk für Griechisch sprechende Leser und lebt damit offensichtlich auch in einer Griechisch sprechenden Gemeinde und nicht im sog. palästinischen Mutterland. Wegen der starken jüdischen Prägung des Evangeliums wird in der Regel auf eine nicht allzu große Entfernung zu Palästina geschlossen und der Abfassungsort deswegen sehr häufig nach Syrien verlegt und ebenfalls häufig mit Antiochien identifiziert.

Diese am 22. Mai 300 v. Chr. offiziell gegründete und nach dem Vater des Seleukos I. Nikator, Antiochus, benannte Stadt am Ufer des Orontes, die in der Antike oft „die Schöne“ genannt wurde, beherbergte seit ihrer Gründung eine jüdische Gemeinde in ihren Mauern, deren Größe unter Augustus zwischen 22.000 und 45.000 Mitglieder betragen haben soll. Andere Schätzungen gehen noch höher und rechnen mit bis zu 65.000 Juden in Antiochien.

Nach Ausweis der Apostelgeschichte und von Gal 2 gab es in Antiochien schon früh auch eine Gemeinde der Jesusbewegung. Von daher bietet Antiochien gute Voraussetzungen, dass das Matthäusevangelium dort entstanden sein kann, ohne dass einige Gründe, die in jüngster Zeit als eindeutig für Antiochia sprechend wiederholt worden sind, als durchschlagend angesehen werden können. Die herausragende Rolle des Petrus im Matthäusevangelium und seine von den Kirchenvätern bestätigte Bedeutung für die antiochenische Gemeinde sprechen nicht zwingend für eine antiochenische Entstehung des Matthäusevangeliums.

Gründe gegen Antiochien

Allerdings gibt es auch Gründe, die gegen Antiochien sprechen. Der wichtigste resultiert aus Apg 11,19–26. Wenn diese Angaben zuverlässig sind, dann ist die Gemeinde in Antiochien schon ziemlich von Anfang an auch auf die Heidenmission ausgerichtet, was für die Gemeinde des Matthäus so nicht gelten wird. Der Nachdruck, mit dem der Evangelist den Auferstandenen den Missionsbefehl an alle Völker sprechen lässt, und die Beschränkung der Wirksamkeit des irdischen Jesus auf Israel dürften ein Hinweis darauf sein, dass die Entscheidung für die Heidenmission noch nicht sehr alt und vor allem noch nicht allgemein akzeptiert ist. Aber man kann diese Schwierigkeit insofern umgehen, als man in der großen Stadt Antiochien natürlich mit einer Vielzahl von (Haus-)Gemeinden rechnen kann, die keineswegs alle gleichzeitig den Schritt zur Heidenmission gemacht haben müssen. Aber dass in derselben Stadt die eine Gemeinde den Schritt zur (gesetzesfreien) Mission schon sehr früh gegangen ist und eine andere sich diesem Schritt lange Zeit vollkommen versagt und sich auf Israel mit seiner Mission beschränkt hat, ist auch nicht sehr wahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich. Insofern scheint Antiochien doch nicht die größte Wahrscheinlichkeit für sich zu haben.

Neben Antiochien gibt es auch noch eine Reihe von anderen Städten, die für die Gemeinde des Matthäus vorgeschlagen worden sind (Alexandrien, Damaskus, Caesarea am Meer, Caesarea Philippi, Edessa usw.). Für Antiochien hinwiederum spricht, dass der älteste Zeuge für das Matthäusevangelium aus dieser Stadt stammt, nämlich Ignatius, der Bischof von Antiochien, der sich in seinen Briefen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das Matthäusevangelium bezieht und dieses deswegen gekannt haben wird. Da er sich in Smyrn. 1,1 auf einen redaktionellen Vers des Matthäus stützt, kann diese Übereinstimmung kaum auf die Kenntnis einer gemeinsamen, dem Matthäusevangelium und dem Ignatiusbrief zugrundeliegenden Tradition, sondern muss auf das Werk des Evangelisten selbst zurückgeführt werden (vgl. dazu Köhler, 73–96; vorsichtiger Trevett und Schoedel; aber auch Meier, Ignatius). Aufgrund dieser Argumente kann die aus dem Evangelium zu erschließende Nähe zum Judentum mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf den syrischen Raum und hier vielleicht auf Antiochien konkretisiert werden. Diese These erfreut sich zur Zeit jedenfalls zunehmender Beliebtheit.

Eindeutige Hinweise auf den Abfassungsort liefert das Evangelium des Matthäus nicht. Es gibt aber eine Reihe von Anhaltspunkten, die Antiochien als Abfassungsort des Werkes wahrscheinlich machen.

6. Sprache und Stil des Evangelisten Matthäus

Matthäus verbessert eindeutig die Sprache seiner markinischen Vorlage. Als Beispiel dafür lässt sich der Ersatz der griechischem Sprachgefühl nicht entsprechenden Parataxe durch Partizipialkonstruktionen nennen. Man hat die Sprache des Matthäus deswegen im Vergleich mit der des Markus zu Recht als gehobener bezeichnet. Das bedeutet freilich nicht, dass der erste Evangelist mit seiner Sprache schon in die Nähe der klassischen Autoren geriete. Im Gegenteil, auch er schreibt noch ein semitisierendes Griechisch mit unverkennbaren Anklängen an die LXX und verwendet sprachliche Figuren in einer Weise, wie sie in der klassischen Literatur auf keinen Fall angewendet worden wären, aber damals in volkstümlicher Literatur nach Ausweis der Papyri offensichtlich verbreitet waren.

Als Beispiel für seine Nähe zum Semitischen kann etwa auf die Bevorzugung des Parallelismus, der z. B. in den alttestamentlichen Psalmen in allen Formen begegnet, hingewiesen werden. Auch die Vorliebe für die direkte Rede könnte mit dieser Nähe zusammenhängen. Matthäus hat eine Vorliebe für bestimmte Formeln und Wiederholungen, mit denen er u. a. Inklusionen schafft. Diese dienen teilweise der Hervorhebung, teilweise sicher auch der besseren Einprägsamkeit. Es ist ja auffällig, dass Matthäus sich gegen Ende des ersten Jahrhunderts trotz der von den Christen längst reklamierten Überlegenheit Jesu über den Täufer, auf die auch Matthäus Wert legt (3,14), nicht scheut, diesem und Jesus wörtlich die gleiche Verkündigung in den Mund zu legen: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“ (3,2 und 4,17, vgl. auch 10,7 den Predigtauftrag der Jünger). Auf den Zusammenschluss der Bergpredigt mit den folgenden Wundertaten durch 4,23 und 9,35 wurde schon oben unter 1 hingewiesen, ebenfalls auf die die einzelnen Redekomplexe abschließenden Verse 7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1 (vgl. darüber hinaus noch 5,3–11 die Gleichförmigkeit der Seligpreisungen, 5,21–48 mit den jeweils genau abgestuften Einleitungsformeln der Antithesen, 6,1–18 und die Wehe in Kap. 23).

Diese sprachlichen Signale sind ein deutlicher Hinweis, dass der erste Evangelist bewusst mit seiner Sprache umgeht und dass die Exegese deswegen seine sprachlichen Eigenheiten und seinen Stilwillen auch beachten muss. Dass das mit einer Übersetzung nicht gelingt, muss nicht eigens hervorgehoben werden.

7. Die theologischen Anschauungen des Evangelisten Matthäus

7.1 Die Hauptthemen der matthäischen Theologie

Die Bedeutung Jesu

Unter den Gründen für die Abfassung des Evangeliums haben wir gesehen, dass neben der Kenntnisnahme des Markusevangeliums die Auseinandersetzungen mit der Synagogengemeinde am gleichen Ort und die davon für die matthäische Gemeinde ausgehende Verunsicherung ein wesentliches Motiv für den ersten Evangelisten gewesen sein dürften, sich ans Werk zu machen. Wenn es bei diesen Auseinandersetzungen auch vordergründig um die Frage des Stellenwertes des Gesetzes gegangen sein dürfte, so stand dahinter doch eine ganz andere und für die Gemeinde des Matthäus viel zentralere Frage, nämlich die nach der Bedeutung des Jesusereignisses überhaupt. Dies ist die Grundfrage, die zwischen der Synagogen- und der matthäischen Gemeinde auf der anderen Straßenseite kontrovers ist und auf die Matthäus mit seinem Werk antworten will. Dass diese Beobachtung zutrifft, zeigen schon der Anfang und der Schluss seines Werkes, die die besondere Bedeutung Jesu herausstellen. In 1,1 betont Matthäus, dass er das „Buch von der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ schreiben will und stellt so Jesus in die Kontinuität mit Abraham, dem Erzvater Israels und der Verkörperung des Gesetzesgehorsams (Sir 44,19 ff.; Jub 6,19), und David, als dessen Sohn der Messias erwartet wurde (2 Sam 7,12–16; ► bSanh 97 f).

Ist damit die heilsgeschichtliche Relevanz Jesu nur mehr angedeutet, so wird sie im folgenden Stammbaum zur vollen Klarheit erhoben, indem mit Hilfe des Schemas von den dreimal 14 Generationen deutlich gemacht wird, dass der Platz Jesu in der Heilsgeschichte die Bedeutung Davids und die des Babylonischen Exils noch übertrifft. Am Ende des Evangeliums erscheint Jesus als der Auferstandene den Elf in einer unvergleichlichen Machtstellung, die aber nicht durch einen christologischen Hoheitstitel verdeutlicht wird, und befiehlt ihnen, sein Wort allen Völkern als Lebens-Maßstab zu verkündigen. Stellte der Anfang Jesus in Relation zu Israel dar, so ist am Ende von dieser Relation nicht mehr die Rede, sondern nur noch von den Völkern. Das Evangelium stellt den Weg Jesu und seiner Botschaft zu Israel und nach dessen Verweigerung, die nach Matthäus in der Kreuzigung Jesu kulminiert, den Weg zu den Völkern ohne spezifischen Israelbezug dar.

Durch die Worte des Erhöhten wird der Hörer und Leser des Evangeliums nicht nur auf die Worte Jesu im Evangelium zurückverwiesen, sondern diese Worte erhalten auch große Autorität: Treue zu Jesus bedeutet Treue zu seinen Worten und, das steht dahinter, diese Worte Jesu werden von „den“ Juden nicht anerkannt, weswegen die matthäische Gemeinde in Treue zu diesen Worten ihren eigenen Weg zu den Völkern gehen muss. Damit sind die wichtigsten Themen matthäischer Theologie intoniert, es geht um die Bedeutung Jesu für seine Anhänger und die aus der Jesusbewegung entstehende Kirche, das Gesetz als Lebensregel und das Verhältnis zum Judentum. Diese Themen stehen nicht selbständig nebeneinander, sondern sind großenteils miteinander verschränkt.

7.2 Jesus Christus

Erfüllungszitate

Das wichtigste Faktum, unter dem Matthäus die Existenz Jesu sieht, ist das der Erfüllung des Alten Testaments. Mit Hilfe der sog. Erfüllungszitate (vgl. nur 1,22 f.; 2,15.17 f.23; 4,14–16; 8,17; 12,18–21 usw.) bringt er zum Ausdruck, dass in Jesu Schicksal und Wort zahlreiche Prophetenworte in Erfüllung gegangen sind, und betont so die Kontinuität des Jesusereignisses mit der als Prophetie verstandenen Heiligen Schrift, die zu seiner Zeit ja nur aus dem später so genannten Alten Testament bestand.

 

Zahlreiche Hoheitstitel

Deswegen stellt Matthäus auch nicht einen Hoheitstitel in den Vordergrund, sondern überträgt alle bei Markus vorhandenen Hoheitstitel auf Jesus, fügt weitere hinzu (z. B. Immanuel und die Zeichnung des Jesusschicksals in Mt 2 als neuer Moses) und verändert teilweise deren Verständnis. Gab es schon bei Markus eine Tendenz, die Hoheitstitel nebeneinander zu gebrauchen (vgl. nur Mk 8,27–33; 14,61 f.), so liegt diese Tendenz bei Matthäus noch verstärkt vor, wie man u. a. an den Heilungswundergeschichten sehen kann, die Matthäus in der Regel mit den Titeln Kyrios, Davidssohn und Messias verbindet, die er aber auch mit dem Gottessohn-Titel versehen kann.

Gottes Sohn durch Zeugung

Es ist immer wieder erstaunlich festzustellen, welche Nuancen in den Quellen dem Evangelisten aufgefallen sind und wo er wegen Nichtübereinstimmung mit seiner Theologie in seine Vorlagen eingegriffen hat, während er an anderer Stelle solche Spannungen zu seiner Theologie in seinen Quellen übersieht. So bemerkt Matthäus offensichtlich, dass das Schema einer Adoption Jesu zum Gottessohn in der Taufe mit seinen theologischen Anschauungen von der Gottessohnschaft, die in der Zeugung durch den heiligen Geist wurzeln, nicht übereinstimmt und ändert deswegen die Adoptionsformel bei der Taufe in eine Proklamationsformel (3,17 parMk), wie sie das Markusevangelium in der Verklärungsszene bietet. Nach seinem Verständnis steht Gott so sehr hinter dem Jesusereignis, dass er sogar zu dessen Existenzermöglichung in besonderer Weise eingegriffen hat, so dass Jesus von Beginn seiner Existenz Sohn Gottes ist und dazu nicht erst durch Adoption werden kann bzw. muss. Allerdings wird man deswegen nicht gleich sagen können, das Verständnis Jesu als Gottes Sohn sei für den Evangelisten besonders zentral und überrage die anderen Hoheitstitel, selbst wenn er einige Aussagen vom Gottessohn redaktionell geschaffen und diesen dabei ein besonderes Profil verliehen hat.

Das Lernen des Gotteswillens

Gerade für den heutigen Menschen aufschlussreich ist das Gottessohnverständnis der Versuchungsgeschichte, die Matthäus zwar aus der Logienquelle Q übernommen, die er sich aber aufgrund seiner Übernahme dieses Abschnittes auch zu eigen gemacht hat, so dass sie auch für ihn und seine Theologie in Anspruch genommen werden kann. Der matthäische Gottessohn ist offenbar nicht jener süße, temperament- und geschlechtslose, über alle Fragen erhabene, überaus angepasste Mensch früherer dogmatischer Vorstellungen, sondern er kennt Versuchungen, muss sich gegen diese wehren und den von Gott gewollten Weg in der Auseinandersetzung mit dem Satan finden, wobei allerdings nicht das Finden besonders hervorgehoben wird, sondern das Wissen und die Urteilskraft.

Diese Kenntnis des Willens Gottes ist ein Charakteristikum des matthäischen Gottessohnverständnisses, das auch im Zusammenhang mit der Gottessohnproklamation bei der Taufe in 3,15 eine Rolle spielt.

Innerer Kampf

Solche Kenntnis des Willens Gottes begegnet im ersten Evangelium auch unabhängig vom Gottessohn-Titel (z. B. in 5,17–7,26), die Gethsemane-Perikope aber zeigt, dass der Wille Gottes Jesus nach Ansicht des Matthäus nicht in jeder Situation einfach und klar vor Augen steht und wie von selbst von ihm erfüllt wird, sondern dass das Sich-Einfügen in diesen Willen auch für Jesus inneren Kampf bedeuten kann (26,39.42). Jesus benutzt zwar bei seinem zweiten, von Matthäus eingefügten Gebet in Gethsemane die Formulierung des Vaterunsers „Es geschehe dein Wille“ (26,42), aber welche inneren Schwierigkeiten ihm dies nach dem Verständnis des Matthäus bereitet, deutet der Evangelist durch den zweimal vorangestellten Halbsatz an: „wenn dieser Kelch an mir nicht vorübergehen kann“. Sowohl in der Versuchungsgeschichte als auch in der Szene unter dem Kreuz (27,40.43) setzt Matthäus sich mit einem ganz anderen Verständnis der Gottessohnschaft auseinander und lehnt dieses ab. Zwar könnte der von Matthäus gezeichnete Jesus sicher vom Kreuz herabsteigen (vgl. nur 26,53), tut dies aber gerade nicht, weil er in Gethsemane gelernt hat, dass das Kreuz der Wille seines Vaters ist. – Insofern das Tun des Willens Gottes auch die von Jesus den Menschen zugewiesene Aufgabe ist (7,21; 12,50), hat der Jesus des Matthäus hier auch eine Vorbildfunktion. Allerdings sind Matthäus unsere Vorstellungen vom Gottessohn, die diesen dem Menschsein entheben, auch nicht ganz fremd, wie man daran sehen kann, dass er eine Reihe von Gemütsbewegungen etc., die im Markusstoff vorhanden waren, ausgelassen hat (vgl. Mk 1,41 par; 3,5 par; 6,5 f. par). In dieser Hinsicht ist er freilich nicht konsequent gewesen, einige solcher Züge hat er Jesus durchaus belassen (vgl. 9,36; 14,14; 15,32 u. ö.)

Vorbildfunktion

Autoritativer Lehrer

Matthäus betont so die heilsentscheidende Rolle Jesu, der als der von Gott gesandte und bevollmächtigte Lehrer den Willen Gottes autoritativ ausgelegt hat. An der Befolgung dieser Lehre hängt das Schicksal der Menschen. Aber diese besondere Sendung hat Jesus nicht einfach allem Menschlichen enthoben, Jesus blieb versuchbar und hat in Gethsemane das Sich-Einfügen in den von ihm sonst so autoritativ verkündigten Willen Gottes selbst mühsam lernen müssen. Obwohl sich bei Matthäus auch Ansätze einer Herrlichkeitschristologie finden lassen, so hat er doch Jesu Not in Gethsemane über Markus hinaus verstärkt und auch den Verzweiflungsruf des Gekreuzigten aus Markus übernommen und so die Gefahr einer zu starken Betonung der Herrlichkeitschristologie durchaus gebannt.

Das Verständnis Jesu als Gottessohn ist dem Menschen allerdings nicht von sich aus möglich. Jedenfalls hebt Matthäus in 16,17 hervor, dass Petrus die in 16,16 ausgesprochene Erkenntnis nicht aus sich heraus, sondern aufgrund einer Offenbarung hat. Dazu passt, dass die Jünger in 14,33 aufgrund eines erfahrenen Wunders sich zu Jesus als Gottessohn bekennen, während das Bekenntnis Jesu zu seiner Gottessohnschaft vor dem Hohen Rat nur Spott, Verhöhnung und das Todesurteil auslöst.

7.3 Das Gesetz

Von Gott autorisierte Interpretation der Tora

Die These, der historische Jesus habe das alttestamentlich-jüdische Gesetz außer Kraft gesetzt, hat wesentlich in den Antithesen des Matthäusevangeliums ihren Grund. In diesen wird der Gegensatz zum Gesetz schon durch das (variierte) Schema „Ihr habt gehört, dass (den Alten) gesagt worden ist …, ich aber sage euch“ stark hervorgehoben, obwohl eine Außerkraftsetzung des Gesetzes in den Antithesen inhaltlich m. E. bislang noch nicht plausibel nachgewiesen werden konnte. Die aus einer solchen Außerkraftsetzung gezogenen Konsequenzen für die Rolle und das Selbstverständnis Jesu dürften ohnehin kaum zutreffen. Denn im Judentum der damaligen Zeit konnte durchaus als Wille Gottes verstanden werden, was dem Wortlaut des Gesetzes jedenfalls zu widersprechen schien (vgl. K. H. Müller). Ob Matthäus nun die Antithesen und vor allem ihr Schema in Anlehnung an rabbinische Redeweise selbst gebildet oder diese vorgefunden hat, in jedem Falle ist zu berücksichtigen, dass Matthäus diesen einen auf äußerste Weise die Verbindlichkeit des Gesetzes betonenden Text (5,17–20) vorangestellt hat, so dass die Antithesen nur zusammen mit diesem Vorspann interpretiert werden dürfen. Diese Zusammenstellung zeigt aber gerade, dass der Autor unseres Evangeliums keineswegs nur am Gegensatz Jesu zum Gesetz interessiert ist, sondern dass er die gesetzeskritischen Wendungen in den Antithesen als Erfüllung des Gesetzes verstanden wissen will. Jesus bringt nach Matthäus nicht die messianische Tora des Judentums, die es dort als Vorstellung gar nicht gegeben hat, sondern er bringt im Rahmen des damals im Judentum durchaus weiter verbreiteten Ringens um die gültige Interpretation des Willens Gottes die von Gott autorisierte Interpretation der alttestamentlichen Tora. Matthäus geht sogar so weit, die Autorität und Geltung dieser Weisung in der Person Jesu zu verankern – die von Jesus ausgelegte Tora gilt aufgrund seiner Weisung als des von Gott gesandten Erlösers.

Gesetz und Situation

Gleichwohl betrachten Matthäus und wohl auch seine Gemeinde diese Weisung ihres Herrn nicht als sakrosanktes, in seinem exakten Wortlaut stets zu bewahrendes göttliches Gesetz. Einem solchen Verständnis widerspricht die von allen urgemeindlichen Zentren geteilte Tendenz, die Worte Jesu nicht dem Wortlaut nach zu überliefern, sondern dem Sinne nach, und sie zugleich auf die die Gegenwart bedrängenden Fragen hin zu fokussieren. Bei Matthäus haben wir in den Eheweisungen ein schönes Beispiel dafür, dass er sich genauso verhalten hat. Denn Matthäus überliefert hier eindeutig nicht das ursprüngliche strenge Eheethos des historischen Jesus, wie er es bei Markus vorfand (Mk 10,6–10 parMt 19,4–9; vgl. auch Mt 5,32), sondern erlaubt eine Ausnahme vom absoluten Ehescheidungsverbot. Offensichtlich waren er und seine Gemeinde der Meinung, dass diese Ausnahme vom Eheethos des historischen Jesus durchaus gedeckt wird, und sie hielten eine Überlieferung des Sinnes für wichtiger als das sklavische Festhalten am Wortlaut. Den Maßstab für die Anpassung der Gesetzes-Vorschriften an die Gegenwart nennt Matthäus in seinem Evangelium häufig. Mit Markus nennt er das Liebesgebot zusammen mit dem der Gottesliebe als höchstes Gebot (22,35–40 par Mk), stärker als Markus stellt er das der Gottesverehrung dem der Nächstenliebe gleich (22,39) und betont beide als Summe und Angelpunkt des Gesetzes (22,40). Über Markus hinaus führt er (in 9,13 und 12,7 mit einem Zitat von Hos 6,6 „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“) die Barmherzigkeit als Maßstab ein, und schließlich lässt er die exakt gegliederte Reihe der Antithesen im Feindesliebesgebot gipfeln (5,43–48).

Gnade und Werke

Häufig wird in der Literatur die Frage gestellt, wie es denn im Matthäusevangelium mit dem Verhältnis von Gnade und Werken sei, gelegentlich wird sogar der Gedanke der zuvorkommenden Gnade der späteren kirchlichen Tradition bereits im Matthäusevangelium gefunden. Aber es begegnet auch das Verdikt, Matthäus lege Jesus immer wieder Worte von der Verdienstlichkeit der Werke in den Mund und insofern bestehe ein unüberbrückbarer Gegensatz zu Paulus und seiner Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben, die als die Mitte der Schrift über die Zugehörigkeit zum Kanon zu entscheiden habe. Wenn der Verfasser des ersten Evangeliums auch später schreibt als Paulus, so sind ihm die Paulusbriefe doch nicht bekannt gewesen, zumindest wird deren Kenntnis in seinem Evangelium an keiner Stelle erkennbar, und man tut gut daran, sein Werk nicht mit Hilfe fremder Kategorien zu vermessen, wenn natürlich auch hinter der Frage ein ernsthaftes Anliegen steht. Dieses besteht nicht nur in der Frage nach dem Verhältnis zur paulinischen Theologie – nicht notwendig als Kanon im Kanon verstanden – und der Einheit der Schrift, sondern z. B. auch darin, ob Matthäus so etwas wie Gnade kennt. Dass bei Matthäus die Werke stark betont sind, kann nicht bezweifelt werden; man vergleiche nur 5,19; 7,15–27; 25,31–46. Aber auch Paulus fordert ja das Wirksamwerden des Glaubens in der Liebe (Gal 5,6) und spricht von der Erfüllung des Gesetzes (Röm 13,8–10) bzw. des Gesetzes Christi (Gal 6,2) – insofern kann nicht schon die Forderung nach Erfüllung des Gesetzes, zumal wenn die Liebe der Maßstab dafür ist (Mt 7,12; 22,39 f.), den Gegensatz zu Paulus konstituieren, sondern erst der Stellenwert dieser Werke. Erst wenn der Mensch nach Matthäus von sich aus in der Lage wäre, sich selbst durch gute Werke das Heil unabhängig vom Christusereignis zu beschaffen, wäre ein Gegensatz zu Paulus gegeben. Dass es Stellen im Evangelium gibt, die so verstanden werden können, kann nicht bestritten werden (vgl. Mt 25,31–46). Hier spielen der Glaube und das Christusereignis keine Rolle für das zuzusprechende Heil, außer dass der Menschensohn mit dem Richter identifiziert wird. Allerdings kennt auch Paulus eine Überordnung der Liebe über den Glauben (1 Kor 13,13) sowie das Gericht nach den Werken (Röm 2,13; 14,10; 1 Kor 4,5; 2 Kor 5,10), was noch einmal zu demonstrieren vermag, dass die Frage komplex angegangen werden muss und man sich nicht einfach auf einzelne Formulierungen stützen darf.

Liebe

 

Seligpreisungen

Es ist in diesem Zusammenhang auf die Seligpreisungen hinzuweisen, deren bloß ethisches Verständnis eindeutig ein Missverständnis der matthäischen Intention darstellt, da diese primär Zuspruchs- und erst sekundär auch Forderungscharakter tragen, ebenso auf die Sprüche vom Salz der Erde und Licht der Welt (5,13–16), wo dem Befehl zum Salzen und Leuchten die indikativische Aussage „Ihr seid …“ vorausgeht, und schließlich auf die Parabel vom Verzicht auf das Prinzip von Leistung und Gegenleistung (18,23–35), die in ihrer Aussagespitze gerade von dem Missverhältnis von empfangener Gabe und eigener Gebebereitschaft lebt, sowie auf die Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16). Auch Mt 26,28 ist hierfür ebenso in Rechnung zu stellen wie die Tatsache, dass Matthäus Judenchrist ist und die paulinische Sicht dem Judentum sicher nicht in jeder Hinsicht gerecht wird. Wenn also Matthäus auch den paulinischen Begriff für Gnade nicht kennt, so gibt es doch wenigstens eine Reihe von Ansatzpunkten für die Ansicht, dass Matthäus nicht einfach mit den judaistischen Gegnern des Paulus in einen Topf geworfen werden darf, wenn vielleicht auch die Aussage von 24,20 dafür spricht, dass die matthäische Gemeinde noch den Sabbat feiert.

Matthäus bejaht also das Gesetz, lässt es Jesus freilich eigenständig interpretieren. Der Maßstab für diese Interpretation ist das Liebesgebot, wobei die Anwendung des Liebesgebotes auf das jesuanische absolute Ehescheidungsverbot Matthäus zu etwas anderen Konsequenzen führt, als Jesus sie gezogen hat. Diese Einbindung des Gesetzes in die jesuanische Interpretation und eine Reihe von Einzelstellen sprechen dagegen, dass Matthäus das vertritt, was man in paulinischer Theologie mit „Werkerei“ bezeichnet.

7.4 Die Kirche

Nur zweimal „Kirche“

Dass das Thema Kirche für das Evangelium wichtig ist, kann man nicht unbedingt der Häufigkeit des Wortes entnehmen, das bei Matthäus nur zweimal begegnet – allerdings steigt das Gewicht dieser zwei Belege enorm, wenn man sich vor Augen hält, dass das Wort Kirche in den übrigen Evangelien überhaupt nicht begegnet. Darüber hinaus gehören zu diesem Wortfeld auch Begriffe wie das „Reich des Menschensohnes“ (16,28), so dass sich auch die Zahl der Belege noch erhöht. Schließlich ist das erste Evangelium das einzige im Neuen Testament, das eine Kirchenstiftung durch den historischen Jesus überliefert.

Situative Polemik

Das Thema Kirche als einer eigenständigen, von Israel unabhängigen Institution des Heils ist für Matthäus von besonderer Bedeutung, und diese Tatsache kann angesichts der dargestellten Situation seiner Gemeinde nicht verwundern. Diese Situation lässt aber zugleich auch erwarten, dass das Verhältnis von Israel und Kirche von Matthäus nicht neutral und objektiv, sondern polemisch und vielleicht auch karikierend beschrieben wird. Jedenfalls darf man sicher nicht z. B. 8,11 f. einfach im Sinne der Summe eines Traktats über Israel und die Kirche verstehen, sondern muss diesen Satz von der Auseinandersetzung zwischen Judentum und Kirche her deuten. Zwar handelt es sich dabei um ein Wort aus der Logienquelle, aber offensichtlich passt dieses auch noch in die Situation des Matthäus. Das gleiche gilt für 21,43 – dies sind nicht einfach Sätze, die im 20. Jahrhundert zur Basis der Beschreibung des Verhältnisses von Judentum und Christentum genommen werden dürfen, wenn freilich auch nicht einfach die furchtbaren Ereignisse des 20. Jahrhunderts – um nur diese zu nennen – den Maßstab für die Auslegung der Schriften aus dem ersten Jahrhundert abgeben dürfen. Am ehesten wird diesen Sätzen eine Deutung aus ihrer Entstehungssituation gerecht (womit noch einmal die Einleitungswissenschaft und ihre Fragen gerechtfertigt werden), die auch die Tatsache zu berücksichtigen hat, dass Matthäus in dieser Kontroverse rhetorische Figuren der jüdischen Polemik gebraucht. Diese stellen im Kontext des Evangeliums zwar eine Kritik Israels von außen dar, zum Zeitpunkt ihrer Entstehung aber dürften sie Teil einer innerjüdischen Auseinandersetzung gewesen sein, da keineswegs alle diese Äußerungen als von Matthäus selbst redaktionell in der Zeit nach der Trennung von der jüdischen Gemeinde verfasst angesehen werden dürfen. Aber auch Matthäus wird sich selbst als Judenchrist nach der Trennung noch solcher Redemuster bedient haben, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, dass solche Rede in einem nicht-jüdischen Kontext zu Fehlschlüssen führen kann und muss. Freilich bleibt trotz dieser Abhängigkeit von den Mustern jüdischer Polemik die Frage bestehen, wie mit diesen polemischen Aussagen heute umzugehen ist. Denn polemische Aussagen eines Autors enthalten durchaus einen wahren Kern, der auch außerhalb der Polemik Gültigkeit besitzt – es sei denn, es handelt sich um Polemik um ihrer selbst willen. Insofern darf man es sich mit den antijüdischen Aussagen des Matthäus auch nicht zu leicht machen.

Fragt man von daher nach der Bedeutung von Mt 8,11 f. und 21,43 für ein heutiges Kirchenverständnis und für die Frage nach dem Heil der Juden, so wird man unbeschadet der Tatsache, dass Matthäus die traurige Geschichte von Juden und Christen noch vor sich und nicht bereits hinter sich hat, darauf hinweisen müssen, dass 8,11 f. ein aus dem Ringen der Q-Gemeinde um Israel stammendes Drohwort ist und dass Mt 21,33–42 parMk das Verhältnis der Juden bzw. der jüdischen Obrigkeit zu Jesus mit Sicherheit aus nachösterlicher Sicht verzeichnet. Ob Matthäus dies freilich bei der Übernahme in sein Evangelium gesehen hat und beachtet wissen wollte, ist eine ganz andere Frage. Das Verhältnis des Matthäus zu Israel wird im Übrigen derzeit sehr breit diskutiert und z. T. positiver gesehen als in der Vergangenheit, bis dahin, dass der vollständige Übertritt zum Judentum incl. Beschneidung als angemessene Konsequenz des Bekenntnisses zu Christus angesehen wird (Sim) – ein Beispiel, das die Leserorientierung m. E. doch erheblich übertreibt.

Die Versuche, die in der Regel israel-kritisch gedeuteten Stellen des Matthäusevangeliums, z. B. 21,43 und 27,24 f., nicht israel-kritisch zu deuten, sind zwar aller Ehren wert, dürften aber den Tenor des ersten Evangeliums kaum treffen. Denn wenn es zum Beispiel in 21,43 nur um die Ablösung der jüdischen Autoritäten geht, an deren Stelle die Jünger treten sollen (Konradt), die die geforderten Früchte bringen, so fragt man sich unwillkürlich, warum Matthäus diese Aussage so kompliziert zum Ausdruck bringt und nicht statt vom Volk gleich von den Jüngern spricht. Die Deutung des „ganzen Volkes“ in Matthäus 27,25 auf Jerusalemer Volkshaufen wird zwar der historischen Perspektive durchaus gerecht, nicht aber dem besonderen Sprachgebrauch des Matthäus in 27,24f., der in seinem redaktionellen V. 25 nun einmal, statt die Bezeichnung „Volk“ aus V. 24 zu übernehmen, einen anderen, in der Septuaginta häufig für das Heilsvolk Israel gebrauchten Terminus verwendet. Dies gilt umso mehr, wenn es sich hier um einen „Schlüsseltext des Matthäusevangeliums“ handelt (Luz). Desweiteren ist auch auf den Fortgang des Evangeliums mit dem Missionsbefehl zu verweisen. Die Weisung der Jünger zu den Völkern durch den Auferstandenen im Unterschied zu dem nach Mt 15,24 ausschließlich zu Israel gesandten Jesus hat nach dem Duktus des Evangeliums in der Ablehnung der Botschaft Jesu durch „das ganze Volk“ in 27,25 seinen Grund.