Einleitung in das Neue Testament

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Nachlassender Eifer

Weitere Anlässe für die Abfassung eines schriftlichen Evangeliums werden das Auftreten von charismatischen Geistpropheten und der zumindest nach Ansicht des Matthäus nachlassende Eifer im Tun des Willens Gottes gewesen sein. Schließlich spricht die Tatsache, dass der Missionsbefehl an alle Völker dem Auferstandenen in den Mund gelegt wird, doch dafür, dass Matthäus hierauf einen starken Akzent legen will.

Heidenmission

Der Grund dafür könnte durchaus darin liegen, dass die matthäische Gemeinde sich noch nicht lange zu diesem Schritt zu den Heiden entschlossen und dass dieser Schritt in der Gemeinde noch nicht die Akzeptanz gefunden hat, die ihr nach Ansicht des Evangelisten gebührt. Aber auch hier sind die Argumente wieder ambivalent. Natürlich erlangt der Missionsbefehl im Munde des Auferstandenen eine besondere Autorität, aber es kann auch andere, viel schlichtere Gründe dafür geben, dass Matthäus den Missionsbefehl hier anführt, z. B. dass Matthäus in der den Juden zugeschobenen Verantwortung für Jesu Tod (27,19–25) und der darin enthaltenen Verwerfung Jesu und seines Heilsangebotes an Israel (10,5 f.23; 15,24) die Wende zum Heil für die Heiden sieht, so dass von daher wirklich erst der Auferstandene den Befehl, zu den Heiden zu gehen, geben kann.

Im Gegensatz etwa zum Lukas- und Johannesevangelium (Lk 1,1–4; Joh 20, 29 f.) erläutert der Evangelist die Intentionen, die er mit seinem Werk verbindet, nicht direkt, sie können nur seinem Werk selbst entnommen werden. Sowohl die Existenz des Markusevangeliums als auch die große Menge an Material über dieses Evangelium hinaus, zu dem Matthäus Zugang hatte, werden ihn zum Schreiben veranlasst haben. Darüber hinaus waren aber auch seine theologischen Ansichten zum Judentum, zur Heidenmission und zum nachlassenden Eifer in den Gemeinden ein wichtiger Anlass für sein Werk.

3. Die alttestamentlich-jüdische Perspektive des Matthäusevangeliums und die Verfasserfrage

3.1 Der alttestamentlich-jüdische Hintergrund

Prophet wie Moses

Stellt man die Frage nach dem Verhältnis zum Judentum sowohl innertextlich als auch mit Hilfe eines Vergleichs mit der Markusvorlage, so stimmen die Ergebnisse weitgehend überein. Schon die ersten Sätze des Werkes heben Jesus als in der Linie Abrahams und Davids stehend heraus und stellen ihn so in den Rahmen der alttestamentlich-jüdischen Erwählungsgeschichte, wobei der Stammbaum nicht bei der allgemeinen Tatsache der Erwählung stehenbleibt, sondern Jesus auch an einer ganz besonderen Stelle dieser Erwählungsgeschichte platziert, gilt doch: „Im ganzen sind es also von Abraham bis David 14 Generationen, von David bis zur Babylonischen Gefangenschaft 14 Generationen und von der Babylonischen Gefangenschaft bis zu Christus 14 Generationen“ (Mt 1,17). Im weiteren Verlauf der sog. Kindheitsgeschichte in Mt 2 wird dann das Schicksal des neugeborenen Jesus deutlich in Anlehnung an das Schicksal des Moses geschildert und Jesus so als der neue, von Israel nach Dtn 18,15–18 erwartete endzeitliche Prophet wie Moses qualifiziert. Auch diese theologische Aussage weist auf den alttestamentlich-jüdischen Hintergrund des Evangeliums hin.

Die Erfüllungszitate

Darüber hinaus sind vor allem die zahlreichen sog. Erfüllungs- oder Reflexionszitate zu nennen, die sich nur im Matthäusevangelium finden und die betont die Kontinuität des Jesusgeschehens zum als Prophezeiung verstandenen Alten Testament herausstellen, indem sie ausdrücklich eine Handlung Jesu etc. als Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiung bezeichnen (vgl. 1,22 f.; 2,5 f.15.17f.,23; 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,35; 21,4 f.; 26,31; 27,9 f.). Zwar finden sich auch bei Markus eine ganze Reihe von alttestamentlichen Zitaten, aber ihr Vorkommen ist nicht so häufig wie bei Matthäus, und diese Zitate sind im ältesten Evangelium auch bei weitem nicht mit so viel Nachdruck versehen, wie dies mit Hilfe des Erfüllungsgedankens bei Matthäus der Fall ist.

Alttestamentlich-jüdischer Topos

Den Zusammenhang mit Israel und die besondere Bedeutung des alttestamentlichen Heilsvolkes für Matthäus zeigen darüber hinaus auch jene Worte, die Jesu und der Jünger Tätigkeit ausdrücklich auf Israel beschränken: 10,5 f.23; 15,24. Die Verankerung des Evangeliums im Judentum zeigt auch die große Bedeutung, die das Thema Gesetz im ersten Evangelium hat (vgl. nur 5,17–48). Ebenso zeigt die Perspektive, unter der Gesetzesfragen angegangen werden, die Bedeutung des jüdischen Kontextes für das Evangelium.

Re-Judaisierung des Mk

Stand für Markus bei der Frage der Ehescheidung deren grundsätzliche Erlaubtheit im Vordergrund (vgl. Mk 10,2), so ist dies bei Matthäus nicht mehr der Fall, vielmehr wird die Fragestellung an die Diskussion im Judentum des ersten Jahrhunderts angeglichen und wie in der Diskussion zwischen den Rabbinen ► Hillel und Schammai ausschließlich nach dem zureichenden Grund für die Entlassung der Ehefrau gefragt (19,3). Auch taucht im Gegensatz zu Markus die Möglichkeit der Ehescheidung von Seiten der Frau nicht mehr auf – auch dies eine Angleichung an die jüdischen Möglichkeiten, gibt es doch für die Ehescheidung von Seiten der Frau im Judentum nur ganz wenige Belege, und diese stammen jedenfalls bis zum ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung nicht aus Palästina. Schließlich kann auch noch auf die freiwillige Zahlung der Tempelsteuer in 17,24–27, auf die fast durchgängige Verwendung des rabbinischen Terminus „Himmelsherrschaft“ statt der bei Markus durchweg gebrauchten Gottesherrschaft, auf die Bejahung der Lehrautorität der Pharisäer (23,3) und das Nichterläutern jüdischer Bräuche hingewiesen werden.

3.2 Hinweise auf einen heidenchristlichen Verfasser des Evangeliums?

Ist so das Evangelium zweifellos tief im Judentum verankert und spiegelt viel mehr jüdische Fragestellungen und Perspektiven wider als das Markusevangelium, so ist es doch nicht ganz sicher, dass das Evangelium aus einer judenchristlichen Gemeinde stammt und von einem ehemaligen Juden verfasst ist, denn es gibt auch einige, den dargestellten und eindeutig ins Judenchristentum führenden Linien widersprechende Stellen. In diesem Sinne werden jedenfalls häufig angeführt:

a) Die Kritik am Gesetz, v. a. in den Antithesen der Bergpredigt, und an den Pharisäern sowie die Außerkraftsetzung der Reinheitsgesetzgebung (z. B. in Mt 15),

b) der erkennbare Abstand zu den Sabbatbestimmungen (die angeblich im Judentum nach 12,11 vorhandene Rettungsmöglichkeit ist für uns nicht nachvollziehbar),

c) die Androhung des Heilsverlustes an Israel (8,11 f. und 21,43 f.),

d) die Hinwendung zu den Heiden unter Ausschluss Israels (bei dieser Deutung wird der Terminus „Völker“ in Mt 28,19 in dem für das zugrunde liegende griechische Wort auch häufig belegten Sinn „Heiden“ verstanden und der Missionsbefehl auf diese, also unter Ausschluss der Juden, beschränkt),

e) der Abstand zur Synagoge (z. B. in der Redewendung von „ihren Synagogen“),

f) die Auslassung semitischer Wörter durch Matthäus (diese wird häufig darauf zurückgeführt, dass Matthäus sie nicht verstand),

g) die Kenntnisse des Judentums im Matthäusevangelium lassen zu wünschen übrig (z. B. weil in 22,23 nicht alle Sadduzäer, wie es richtig wäre, sondern nur einige von ihnen die Auferstehung der Toten leugnen),

h) die Benutzung des Alten Testaments nach der LXX und nicht nach dem hebräischen Text,

i) das Missverständnis des Parallelismus membrorum bzw. des ► epexegetischen „und“ in 21,5.

3.3 Die Gründe für einen heidenchristlichen Verfasser des Evangeliums und die Kritik daran

Interpretationsspielräume

Nun bewegen sich diese Einwände auf unterschiedlichen Ebenen und müssen gewogen, sie dürfen auf keinen Fall nur gezählt werden. Sowohl die Deutung des Missionsbefehls ausschließlich auf die Heiden als auch die Interpretation von Mt 15,11 ist keineswegs eindeutig. Hier bleibt durchaus Interpretationsspielraum, so dass diese Stellen nicht einfach zwingend auf einen Heidenchristen als Verfasser hinweisen. Deswegen braucht die Frage, ob eine solche Ansicht einem Judenchristen absolut nicht zuzutrauen wäre, hier nicht geklärt zu werden. Das Gleiche gilt auch für die Androhung des Heilsverlustes an Israel. Diese wie die übrige Kritik an Israel wird gerade auf der Basis der prophetischen, innerisraelitischen Kritik an Israel gut verständlich, und dies erst recht, wenn die Gemeinde des Matthäus wirklich aus dem Judentum stammt und sich von diesem unter dramatischen Umständen (vgl. 5,10–12) getrennt hat.

Kritik am Gesetz

Das Verhältnis zum Gesetz schließlich darf nicht einseitig aus den Antithesen, sondern muss aus dem Gesamtkontext erhoben werden. Die stark gesetzesbejahenden Sätze in Mt 5,17–20 und die Antithesen sind unbedingt zusammen zu sehen und dürfen aufgrund der einheitlichen Komposition keinesfalls einfach auseinandergerissen und separat interpretiert werden. Auch sollte man hinsichtlich der Kritik am Gesetz, die in einigen Antithesen von verschiedenen Autoren ja direkt auf den historischen Jesus zurückgeführt wird, das, was man Jesus zutraut, auch einem aus dem Judentum kommenden Evangelisten im ausgehenden ersten Jahrhundert zubilligen.

Reiten auf zwei Tieren?

Schwierig scheint mir allein das Verständnis der Stelle 21,5 zu sein, aber auch hier muss die Klassifizierung des Tuns des Matthäus als Missverständnis des alttestamentlichen Textes nicht das letzte Wort sein. Zwar dürfte Matthäus überhaupt erst aufgrund des Zitates aus dem Alten Testament auf die Idee gekommen sein, hier statt des von Markus genannten Fohlens ein Fohlen und seine Mutter anzuführen, so dass der Hinweis auf die exegetische Absicht der wörtlichen Erfüllung hier keine Lösung des Problems darstellt, weil diese Absicht eben in einem Missverständnis des zugrundeliegenden alttestamentlichen Textes ihren Grund hat. Aber zum einen müssen wir festhalten, dass dem Verfasser das Reiten auf zwei Tieren offensichtlich nicht das gleiche Kopfzerbrechen wie den Modernen bereitet hat (vgl. nur den Spott, den D. F. Strauß in seinem Leben Jesu über alle Versuche, mit dieser Schwierigkeit fertig zu werden, ausgießt [II, 288 ff]), zum anderen haben die eingehenden Analysen der Reflexionszitate in der letzten Zeit doch ergeben, dass wir die diesen zugrunde liegende Textgestalt nicht kennen, so dass zu fragen ist, ob dem Verfasser des ersten Evangeliums der Text in einem Zustand überliefert worden ist, in dem er das epexegetische „Und“ erkennen konnte.

 

Auch die Tatsache, dass Matthäus in 15,2 die markinische Erläuterung des in Frage stehenden Brauches der Händewaschung nicht vollständig aus seiner Markusvorlage übernimmt, wird man kaum als etwas über den Charakter des Evangelisten als

Juden- oder Heidenchristen besagend heranziehen können, da die wichtigsten Elemente der markinischen Verdeutlichung für die heidnischen Leser, nämlich dass es eine jüdische Tradition gab, wonach man sich vor dem Essen (rituell) die Hände wusch, auch bei Matthäus vorhanden sind.

Ähnlich ist der Fall in 23,23, anders ist er in 23,5.27 und 27,6 – hier ist der Leser, der die jüdischen Bräuche nicht kennt, wirklich auf Erläuterungen angewiesen. Dass diese unterbleiben, könnte ein Zeichen dafür sein, dass Matthäus die entsprechenden Kenntnisse bei seinen Lesern voraussetzt. Wie wenig hier aber stringent argumentiert werden kann, zeigt die Tatsache, dass Lukas z. B. mehrfach das in griechischem Kontext vorchristlich nicht belegte Wort „Mammon“ gebrauchen kann, ohne es näher zu erläutern.

Fehlende Erläuterungen des jüdischen Kontextes

3.4 Ein judenchristlicher Verfasser in einer gemischten Gemeinde

Starke Indizien

Sind so die Argumente, die für einen heidenchristlichen Verfasser sprechen, doch weitgehend nicht durchschlagend, so ist aufgrund des in starkem Maße jüdisch geprägten Materials auf einen judenchristlichen Verfasser zu schließen. Sowohl aus dem Missionsbefehl an alle Völker als auch aus 21,43 f. kann geschlossen werden, dass der Evangelist und seine Gemeinde bereits Heidenmission treiben, wie auch 5,17–48 demonstrieren, dass das Verständnis des Gesetzes in der Gemeinde umstritten ist. Dabei fällt auf, dass Matthäus die gegensätzlichen Ansichten zum Gesetz dialektisch vermittelt, indem er auf der einen Seite Jesus ausdrücklich die Auflösung des Gesetzes ablehnen lässt und die Erfüllung des Gesetzes als Jesu Ziel beschreibt, darauf aber auf der anderen Seite sogleich mit den Antithesen fortfährt, deren Einleitungsformel gerade nicht die Kontinuität, sondern eher den Gegensatz zum Gesetz und seinen Interpretationen im Judentum hervorhebt. Ob man aus Mt 5,17 entnehmen kann, dass es in der matthäischen Gemeinde eine Gruppe gegeben hat, die wirklich die Aufhebung des Gesetzes vertrat, ist keineswegs so sicher, wie man gemeint hat, wohl aber, dass es Auseinandersetzungen um das Gesetz gab, die nicht nur durch in Gesetzesfragen laxere hellenistische Juden, sondern auch durch zum „Christentum“ übergetretene Heiden veranlasst sein können.

Jüdisches Milieu

Das jüdische bzw. judenchristliche Milieu des ersten Evangeliums ist eindeutig, es findet sich in allen Schichten, ist also sowohl für die dem Evangelisten zugängliche Tradition (z. B. Mt 2) als auch für ihn selbst zu veranschlagen. Nicht umsonst gleicht er redaktionell die Streitfrage um die Ehescheidung in 19,3b eng an die Problematik im Judentum an und formuliert bei der Frage nach der Weitergeltung des Gesetzes konservativer oder zumindest vorsichtiger als Markus. Auch die Nähe zu Rabbi Johanan ben Zakkai bei der Formulierung der Antwort auf die Frage nach der Ehescheidung spricht für einen eng im Judentum verhafteten Autor. Genaueres über den Verfasser lässt sich dem Evangelium nicht entnehmen, so lässt sich z. B. die Frage, ob er Aramäisch oder gar Hebräisch konnte, nicht eindeutig klären. Allerdings dürften er und seine Gemeinde schon über gewisse Erfahrungen mit dem Heidentum verfügen, wie z. B. die im Judentum nicht übliche Schuldhaft in 5,25 f. (vgl. auch 18,30) und die Ablehnung der heidnischen Praxis in 6,7.32 zeigen.

Gemischte Gemeinden

Wenn hier mit einer gemischten Gemeinde gerechnet wird, zu der Heiden als Vollmitglieder ohne Beschneidung gehören (s. a. oben unter 2), so wird die in jüngster Zeit wieder mehrfach auch im deutschsprachigen Raum vertretene These, die Gemeinde des Matthäus sei noch Teil des Judentums und habe sich von diesem also noch nicht getrennt, abgelehnt. Es sprechen einfach zu viele Indizien dagegen. Mt 21,43 ist alles andere als ein Indiz dafür, dass der Verfasser des Evangeliums Israel noch in seiner Rolle als schlechthinnigen Verheißungsträger sieht, und demgemäß kein Argument für ein Verbleiben der matthäischen Gemeinde im Synagogenverband. Die Rede von „ihren Synagogen“ und „ihren Schriftgelehrten“, die ja implizit auf eigene Synagogen und eigene Schriftgelehrte hinweist, spricht ebenfalls dagegen, von der Haltung, die das Evangelium gegenüber Israel einnimmt, ganz zu schweigen.

3.5 Das Zeugnis des Papias über den Verfasser des Evangeliums

3.5.1 Die Interpretation des Papiaszeugnisses und die Erkenntnisse der Bibelexegese

Hier ist nun der Ort, auf das für die Frage nach dem Verfasser des Matthäusevangeliums viel erörtere Papiaszeugnis näher einzugehen: „Matthäus aber hat in hebräischer Sprache die Reden zusammengestellt; ein jeder aber übersetzte dieselben so gut er konnte“ (Eusebius, Kirchengeschichte III 39,16). Da das Matthäusevangelium aufgrund seiner Abhängigkeit vom griechischen Markusevangelium keine Übersetzung aus dem Hebräischen sein kann, kann das Zeugnis des Papias jedenfalls nicht das Matthäusevangelium meinen. Angesichts dieses Befundes muss man nun aber nicht annehmen, dass die Nachricht des Papias sich auf ein anderes als das uns überlieferte Matthäusevangelium bezog, wie immer wieder und auch jüngst vorgeschlagen wurde (Schmidt).

Verfasserkenntnisse im 2.Jahrhundert

Man wird vielmehr angesichts dieses weiteren unzutreffenden Zeugnisses über den Verfasser eines Evangeliums damit zu rechnen haben, dass in der Kirche des beginnenden zweiten Jahrhunderts keine zutreffenden Kenntnisse über die Verfasser der Evangelien (mehr) vorhanden waren. Das mag vielfältige Ursachen haben, angefangen von der Tatsache, dass die Verfasser aus theologischen Gründen sich selbst nicht namentlich in ihrem Werk erwähnen, bis zu der Frage, ob die Verfasser auch nur annähernd eine solche Verbreitung erwarten konnten, wie sie dann tatsächlich erfolgte. Wenn man dagegen auf Mk 13,10 und 14,9 verweist und daraus einen weltweiten Wirkungsanspruch erhebt, muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass der Verfasser dieses Evangeliums trotz der weltweiten Perspektive – nahm er sie wirklich wörtlich? – dennoch offensichtlich keine Notwendigkeit sah, seinem Werk eine autorqualifizierende Überschrift oder sonst einen Hinweis auf den Autor beizugeben. So wie er selbst um des Evangeliums Jesu Christi willen seine Autorschaft nicht betont hat, so wenig hat die Gemeinde damals möglicherweise die Autoren beachtet. Die Frage nach ihnen verdankt sich eventuell erst einer späteren Fragestellung.

„Evangelium nach Matthäus“

Dass dem heute im Kanon an erster Stelle stehenden Evangelium schon im ersten Jahrhundert nach Christus die Überschrift „Evangelium nach Matthäus“ beigegeben wurde und deswegen die Zuweisung dieses Evangeliums an den Apostel Matthäus noch wesentlich älter ist als das Zeugnis des Papias, erscheint mehr als unwahrscheinlich, da der erste Evangelist sein Werk ausdrücklich nicht als Evangelium bezeichnet hat, wenn er auch im Gegensatz zu Lukas und Johannes diesen Begriff durchaus verwendet. Es muss nach meiner Ansicht schon einige Zeit veranschlagt werden, bis sich vom Gebrauch im Markusevangelium her die Bezeichnung Evangelium für diese Art von Werken durchgesetzt hat und auch auf das Matthäusevangelium übertragen worden ist, so dass es als „Evangelium nach Matthäus“ bezeichnet werden konnte. Die Annahme, das Werk habe von Anfang an einen Titel zur Unterscheidung, z. B. vom Evangelium des Markus, gehabt, scheint mir ebenso wenig bewiesen zu sein wie die Behauptung, Matthäus habe Markus nicht verdrängen wollen und sein Evangelium sei deswegen schon sehr früh in den Gemeinden zusammen mit dem Markusevangelium aufbewahrt worden. Die Annahme, dass Matthäus aufgrund des ihm zur Verfügung stehenden viel umfangreicheren Materials der Meinung war, sein Werk sei das vollständigere und sei deswegen z. B. in der gottesdienstlichen Lesung dem des Markus vorzuziehen, scheint mir mindestens ebenso plausibel wie die gegenteilige Ansicht. Insofern ist es vielleicht doch etwas weniger erstaunlich, dass schon in den zwanziger Jahren des zweiten Jahrhunderts keine zutreffenden Kenntnisse mehr über die Autoren der Evangelien vorhanden waren.

3.5.2 Gründe für die Zuweisung des Evangeliums an Matthäus

Die besondere Rolle des Matthäus

Aber unsere Erkenntnis, dass die Nachricht des Papias kaum zutreffen dürfte, wäre wesentlich besser nachzuvollziehen, wenn wir ihr Zustandekommen noch erklären, also deutlich machen könnten, wie es zu der Ansicht des Papias, für die dieser sich ja auf den ► Presbyter stützt, gekommen ist. Deswegen muss wenigstens der Versuch gemacht werden, die Zuschreibung des ersten Evangeliums an den in jeder Zwölferliste genannten Matthäus zu erklären.

Da im ersten Evangelium der von Markus in 2,14 Levi genannte Zöllner Matthäus heißt, Matthäus in der Zwölferliste nur in diesem Evangelium ausdrücklich den Zusatz „der Zöllner“ erhält (10,3) und auf diese Weise sichergestellt wird, dass der in 9,9 an der Zollstätte Berufene mit dem Apostel Matthäus identisch ist, kann die Autorangabe „Evangelium nach Matthäus“ nicht auf Zufall beruhen, sondern muss in einem Zusammenhang mit diesen beiden Angaben stehen. Da ein Augenzeuge Jesu als Verfasser des Evangeliums nicht in Frage kommt und der von der Zollstätte wegberufene Matthäus kaum seine eigene Berufung in enger Anlehnung an das Zeugnis eines Nicht-Augenzeugen verfasst hätte (vgl. Mk 2,13–17 parMt 9,9–13), verweist diese Erwähnung des Matthäus nicht auf den Verfasser des Evangeliums. Welcher Grund auch immer hierfür entscheidend war, in jedem Fall dürfte diese Änderung in einem besonderen Verhältnis des Evangelienautors und / oder seiner Gemeinde zum Apostel Matthäus ihren Grund haben – ob er der Gründer der matthäischen Gemeinde oder gar des entsprechenden Kirchensprengels oder sonst von irgendeiner besonderen Bedeutung für den Autor und seine Gemeinde gewesen ist, wissen wir nicht, müssen es aber aus der Art, wie der Zöllnerapostel nur im Matthäusevangelium behandelt wird, schließen. Die Zuweisung des Evangeliums an diesen Apostel dürfte mit dieser besonderen Bedeutung, die er für das Evangelium und die Gemeinde des Matthäus hat, zusammenhängen.

Der Autor des Matthäusevangeliums ist unbekannt. Zwar haben einige Exegeten in ihm einen Heidenchristen gesehen, er dürfte aber aufgrund der vielfältigen Verknüpfungen seines Werkes mit dem Judentum diesem entstammen. Die dagegen angeführten Argumente lassen sich weitestgehend entkräften.

4. Die Abfassungszeit des Matthäusevangeliums

Wie bei fast allen unseren Fragen gibt das Evangelium auch hier keine direkten Antworten, allenfalls indirekte. Darin liegt auch der Grund für die immer wieder begegnenden Divergenzen in den Antworten auf unsere Fragen. Hier sind besonders auffällig die Frühansetzungen aus der letzten Zeit, die sich nicht darauf beschränken, unser Evangelium vielleicht noch kurz vor dem Jüdischen Krieg entstanden sein zu lassen, sondern dessen Entstehung bis in die 40er Jahre zurückdatieren. Allerdings gibt es auch Datierungen ins 2. Jahrhundert (Sim).

Voreingenommenheit

Es verdient an dieser Stelle noch einmal hervorgehoben zu werden, dass auch eine frühe Entstehung des Matthäusevangeliums nicht zu einer Zurücknahme unserer am Text des Evangeliums gewonnenen Einsichten führen würde. Von diesen Einsichten her ist eine sehr frühe Entstehung der Evangelien zwar nicht besonders plausibel, aber es ist nicht so, dass es etwa ein besonderes Interesse an einer späten Entstehung der Evangelien gäbe, um einen möglichst großen Abstand zwischen das „Geschehen“ und seine Verschriftlichung zu legen und so dessen Nicht-Historizität um so leichter behaupten zu können. Viele der gewonnenen Erkenntnisse sind völlig unabhängig vom Entstehungsdatum des Evangeliums gültig und nicht zwingend auf eine Spätansetzung angewiesen. Die Tatsache, dass man auch als Exeget in einem bestimmten „Milieu“ verankert ist und dieses Milieu eine bestimmte Sicht von den Abfassungsverhältnissen der Evangelien hat, ist noch kein Argument, sondern liefert allenfalls eine zu beweisende Vermutung. Zu den Problemen der Einleitungswissenschaft gehört es allerdings gerade, dass die hier verwendeten Argumente nicht besonders hart sind und offensichtlich Spielräume zulassen. Freilich sollten auch die Autoren, die sich vehement für eine Frühansetzung des Matthäusevangeliums einsetzen, die Tragkraft ihrer Argumente genauso kritisch einschätzen wie die ihrer sogenannten Gegner und z. B. nicht die Regel außer acht lassen, dass Papyrologen für ihre Altersschätzung bei den Papyri in der Regel einen Spielraum von 50 Jahren angeben, so dass der einem exakt auf den 24. Juli 64 datierbaren Papyrus sehr ähnliche p64 durchaus auch zu einer Entstehungszeit zwischen 70 und 110 passt.

 

Frühdatierung

Obwohl wir hinter unsere Einsicht, dass das Matthäusevangelium von dem nach 70 entstandenen Markusevangelium literarisch abhängig ist, nicht zurück können, sollen doch zunächst die beiden Hauptgründe, die immer wieder für eine Frühdatierung herangezogen werden, einer Nachprüfung unterzogen werden. (Zu den Gründen im einzelnen vgl. Gundry 602.606; Robinson 115 f. und v. a. Schulz 226 ff., der m. E. die Grenze zur Spekulation überschreitet, wenn er formuliert: „Es ist aber nicht einzusehen, warum ein solcher ‚Spitzensatz neutestamentlicher Verkündigung‘ und die umschriebene Praxis, die der von Röm 14,5 ff. und Kol 2,16 f. sehr genau entspricht, bis in die 80 er Jahre warten sollte, um in einem Evangelium Gestalt zu gewinnen“ [234 f.].)

Zu diesen Hauptgründen gehören:

Sadduzäer

a) Der in der Tat auffallende Umstand, dass im ersten Evangelium die Sadduzäer anders als bei Markus und Lukas nicht nur je einmal, sondern gleich siebenmal begegnen, woraus geschlossen wird, dass die Sadduzäer für den Evangelisten noch eine lebendige und sein Interesse auf sich ziehende Größe gewesen sein müssen, was nach 70 wegen ihres Verschwindens mit dem Jüdischen Krieg nicht denkbar ist.

Tempelsteuer

b) Die Gemeinde des Matthäus zahlt nach 17,24–27 freiwillig noch die Tempelsteuer, was nach 70 nicht mehr möglich war, da der fiscus Iudaicus von allen Juden zwangsweise eingetrieben wurde, so dass auch die aus dem Judentum stammenden Mitglieder der matthäischen Gemeinde zwangsweise zu dieser Steuer herangezogen wurden.

Zu a) Dass diese Interpretation möglich ist, kann m. E. nicht bestritten werden. Mindestens ebenso gut möglich ist aber auch eine andere, nämlich die, dass Matthäus die Sadduzäer eher stereotyp und ohne besonderes Interesse an ihnen einführt. Für letztere Deutung spricht sogar, dass von den sieben Belegen einer aus Markus übernommen ist (22,23) und ein zweiter in der Überleitung zur nächsten Perikope das Nomen anstelle des bei Markus vorhandenen Personalpronomens gebraucht (22,34), freilich dabei gutes Gefühl für die Differenzen zwischen den Pharisäern und Sadduzäern erkennen lässt. In den übrigen fünf Belegen werden die Sadduzäer immer stereotyp zusammen mit den Pharisäern genannt, woraus nun doch wirklich nicht auf ein besonderes Interesse an ihnen geschlossen werden kann. Wenn auf der einen Seite dem Matthäus vorgeworfen wird, seine Darstellung der Pharisäer und Sadduzäer (in Mt 16,11 f.) könne kaum von einem Judenchristen stammen (s. oben Nr. 3), dann kann man doch dieser Stelle kaum eine konkrete Auseinandersetzung der Gemeinde des Matthäus mit den Sadduzäern entnehmen – sonst würde er genau über die Kenntnisse verfügen, deren Fehlen an dieser Stelle moniert wird. Deutlicher kann die Tatsache, dass die Einleitungswissenschaft es mit ausgesprochen weichen und deswegen nur mit äußerster Vorsicht zu extrapolierenden Daten zu tun hat, nicht demonstriert werden.

Zu b) Dass die Gemeinde des Matthäus noch die Tempelsteuer zahlt, kann der Perikope keineswegs mit Sicherheit entnommen werden, so sehr diese Problematik auch die Entstehung der Perikope veranlasst haben dürfte. Der Autor des ersten Evangeliums kann die Perikope ebenso gut wegen der in ihr zur Sprache kommenden grundsätzlichen Freiheit der „Söhne“ übernommen haben, ohne dass die Frage der Tempelsteuer für ihn und seine Gemeinde noch aktuell gewesen sein muss.

Erste Rezeption

Sind die Argumente für die Frühdatierung keineswegs zwingend, so kann nun eine Datierung des ersten Evangeliums nach der Ausarbeitung des Markusevangeliums, die den frühesten Zeitpunkt für die Abfassung des Matthäusevangeliums bildet, versucht werden. Den zweiten Pol, auch als ante quem („vor dem“ das Evangelium entstanden sein muss) bezeichnet, bilden eine Reihe von Dokumenten aus der Alten Kirche: Der Erste Petrusbrief, der noch im ersten Jahrhundert verfasst sein dürfte, nimmt nach einer neueren Untersuchung auf das Matthäusevangelium Bezug (Metzner; vgl. auch Luz, Matthäus I 76; I 103 f.). Das Gleiche gilt für die schon genannten Briefe des Bischofs Ignatius von Antiochien, die mit großer Wahrscheinlichkeit eine Kenntnis des Matthäusevangeliums widerspiegeln, deren Abfassungszeit um 110 inzwischen aber häufig zugunsten einer zumindest etwas späteren Datierung (z. B. 130, aber auch später) aufgegeben wird. Auch die in Syrien angesiedelte, in der Regel auf das auslaufende erste oder das beginnende zweite Jahrhundert datierte ► Didache, die z. B. das „Vater unser“ mit ganz geringen Abweichungen in der matthäischen Form bietet und dabei ausdrücklich wie auch an anderen Stellen auf „das Evangelium des Herrn“ Bezug nimmt, kann hierfür herangezogen werden. Der Einwand, das „Vater Unser“ der Didache sei erst in der handschriftlichen Überlieferung an das des Matthäusevangeliums angeglichen worden, trifft nicht zu. Dagegen sprechen die eindeutig stehen gebliebenen Abweichungen! Die Abfassungszeit muss also in der Zeit nach 70 und vor dem ausgehenden ersten (1 Petr) oder spätestens zu Anfang des zweiten Jahrhunderts (Didache) liegen.

Dieser Zeitraum wird häufig noch mit Hilfe von Angaben aus dem Evangelium selbst etwas eingeschränkt. Dabei greift man vor allem auf 22,7; 23,38 und 21,41 zurück, Angaben, die allesamt die Zerstörung Jerusalems widerspiegeln sollen. Obwohl das nicht unbestritten ist (vgl. Schulz, 225, der Mt 22,7 aus der Rückschau der Jahre 80–100 für nicht befriedigend erklärbar hält und für einen vorausschauenden Charakter des Wortes plädiert, das in der Erregung über die Verstocktheit der herrschenden Kreise des jüdischen Volkes seinen Grund hat. Schöner kann man m. E. nicht demonstrieren, wie stark der subjektive Faktor bei den vorausgesetzten Plausibilitäten ist. Anders z. B. Theißen, 285), erübrigt sich an unserer Stelle eine Auseinandersetzung mit diesen Argumenten, da die Abfassung nach der Zerstörung Jerusalems sich aus der Benutzung des Markusevangeliums schon zwingend ergibt. Da das Markusevangelium eine Zeitlang gebraucht haben wird, bis es bei Matthäus angekommen ist, wird man kaum mit einer Abfassung des ersten Evangeliums vor 80 rechnen können. Ob es aber nun eher um 80 oder eher um 90 verfasst worden ist, lässt sich nicht mehr feststellen, da Argumentationen mit Hilfe theologischer Entwicklungen angesichts der unterschiedlichen Entwicklung der Gemeinden und ihrer Theologie im ersten Jahrhundert kaum zu überzeugen vermögen.

Das Matthäusevangelium ist aufgrund seiner Abhängigkeit vom Werk des Markus nach 70 entstanden. Da es zu Anfang des 2. Jahrhunderts bekannt ist, dürfte es zwischen 80 und 100 entstanden sein.