Einleitung in das Neue Testament

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Wunder und Leiden

Nimmt man Mk 9,9 zusammen mit dem Bekenntnis des unbekannten Hauptmannes unter dem Kreuz, der ausgerechnet angesichts des Todes Jesu zu der Erkenntnis kommt, dass der soeben Verstorbene kein normaler Mensch, sondern ein Gottessohn war (Mk 15,39), und zieht dann auch noch mit in die Betrachtung ein, dass Markus gleich drei Leidensweissagungen in seinem Werk bietet (8,30–33;9,31;10,32–34), dann wird deutlich, dass Markus unbeschadet der Frage, welche Teile des ganzen Komplexes er schon in seiner Tradition vorfand und welche er selbst geschaffen hat, bewusst die Wundergeschichten und die Perikopen um die Hoheitstitel überliefert, dass er diese aber mit Hilfe des Schweigegebots mit dem Leiden Jesu zusammengebunden hat. Zu Jesus gehören die Wunder und das Leiden, weil er der Messias und der leidende Menschensohn zugleich ist.

Die Vermutung, die Gemeinde des Markus habe in der häretischen Gefahr gestanden, Jesus ausschließlich von der Wunder- und Hoheitsseite zu sehen, geht sicher viel zu weit, aber Markus hat nach Ausweis seines Werkes – vgl. vor allem die Abfolge von 8,27–30 und 31–33! – beide Seiten in Jesu Person zusammenbinden wollen.

Nach Markus ist der Jesus der Wunder nicht ohne das Leiden, und der Jesus des Leidens nicht ohne die Wunder zu haben. Beide Aussagereihen, Wunder und Kreuz, dürfen für ein im Sinne des Markus zutreffendes Verständnis von Person und Werk Jesu auf keinen Fall voneinander getrennt werden.

Das Schweigen der Frauen

Dass das Verbot, die Wunder weiter zu erzählen, nach dem Evangelium nicht gehalten wird, hat seinen Gegenpart in dem das Markusevangelium beendenden Schweigen der Frauen nach ihrer Flucht aus dem leeren Grab, hier nun gegen den ausdrücklichen Engelbefehl an sie, Petrus und die Jünger von der Auferweckung Jesu und von seinem Vorausgehen nach Galiläa zu unterrichten.

Wie dort entgegen dem Befehl Jesu das Wunder nicht verschwiegen, sondern öffentlich verkündigt wird, so vermag auch hier die menschliche Unzulänglichkeit der Frauen das Offenbarwerden der Auferstehung nicht zu verhindern. Die Botschaft von Jesus, von seinen Wundern und von seiner Auferstehung, setzt sich durch, auch gegen alle menschliche Unzulänglichkeit. Wie Jesu Wunder nicht verborgen bleiben konnten, so auch seine Auferstehung nicht. Obwohl die Frauen nichts erzählt haben, ist die Auffindung des leeren Grabes dennoch bekannt, und Markus kann sie erzählen.

Dass Markus mit 16,8 zum Ausdruck bringen wolle, die Jünger seien nie von der Auferstehung in Kenntnis gesetzt worden, und mit Hilfe dieser „Nachricht“ seinen Wunsch, „die Aufmerksamkeit vom Auferstandenen weg zum Gekreuzigten zu lenken“ (Kelber, Anfangsprozesse) verdeutliche, scheint mir weder der Erzählung Mk 16,1–8 noch dem Gesamtduktus des Evangeliums zu entsprechen. Dieser betont gerade nicht einseitig das Leiden, sondern auch die wunderbare Seite des Gottessohnes.

Das Leiden der Jünger Jesu

Der Notwendigkeit des Leidens Jesu geht die des Leidens der Jünger parallel, wie Markus z. B. im Nachtrag zur ersten Leidensverkündigung deutlich macht (8,34 ff.). Markus illustriert auf diese Weise, was Matthäus mit Hilfe eines Wortes der Logienquelle so sagt: „Ein Jünger steht nicht über seinem Meister und ein Sklave nicht über seinem Herrn. Der Jünger muss sich damit begnügen, dass es ihm geht wie seinem Herrn.“ (Mt 10,24 f.)

Wie schwer die Akzeptanz dieser Notwendigkeit für die Jünger war und auch noch ist, zeigt Markus an der Reaktion des Petrus auf die erste Leidensansage und in Mk 10,35 ff.

11.1.2 Das Jüngerunverständnis

Das Jüngerunverständnis, das bei Markus mehrfach begegnet (4,10.13;6,52; 7,17 f. ;8,16–18.21 ;10,35 ff.) und nicht immer so betont ist wie in 4,13 ;7,17 f.; 8,17 f. und zu dem auch der Tadel des Petrus in 8,30 und das Unverständnis gegenüber der Notwendigkeit des Leidens in 9,32 gehören, soll keineswegs eine Distanz zwischen Jesus und seinen Jüngern schaffen, sondern hat zumindest eine doppelte Funktion:

Doppelfunktion des Jüngerunverständnisses

(1.) Zum einen macht das Unverständnis der Worte und Taten Jesu auf seiten der Jünger immer wieder deren besondere Belehrung durch Jesus notwendig (4,14 ff.;7,18 ff. ;8,19 f.), so dass sie nach Ostern in der Tat besonders qualifizierte Zeugen des Jesusgeschehens sind, auf deren Überlieferung der Worte und Taten Jesu Verlass ist.

(2.) Zum anderen stellt das Unverständnis der Jünger diese aber zugleich in eine Reihe mit den Lesern des Markusevangeliums – wenn diese nicht alles sofort begreifen, müssen sie sich darüber weder wundern noch sich schämen, den Jüngern des Herrn ist es ganz genauso gegangen.

11.2 Die Parabeltheorie

Gleichnisse zur Verstockung des Volkes?

Nach Mk 4,10–12 sind die Gleichnisse gerade keine Verständnishilfe für die Botschaft Jesu, vielmehr dienen sie der Verstockung des Volkes. Diese sog. Parabeltheorie zeigt deutlich, wie weit die Entwicklung der Tradition weg vom Ursprung im Markusevangelium bereits fortgeschritten ist, denn dahinter steht ja offensichtlich die Meinung, dass die Gleichnisse Jesu mit ihren doch einfachen und schlichten Bildern für das einfache Volk nicht verstehbar sind und dass man eines besonderen Schlüssels für deren Verständnis bedarf.

Dieses markinische Verständnis der Gleichnisse wird diesen selbst nicht gerecht. Man kann das schon daran erkennen, dass Markus trotz der von ihm übernommenen Parabeltheorie nur für ein Gleichnis eine Deutung mitüberliefert – von den anderen geht auch er offensichtlich davon aus, dass sie ohne Deutung für alle und nicht nur für die eingeweihten Jünger verstehbar sind. Darüber hinaus hat Markus mit der Parabeltheorie noch einen weiteren Widerspruch übernommen, gelten doch nach dieser Theorie die Jünger als mit einem besonderen Wissen begabt, während sie nach dem übrigen Evangelium als eher unverständig und besonderer Belehrung bedürftig erscheinen.

Gerade von diesen Spannungen her muss m. E. die Frage noch einmal genau geprüft werden, ob die Verfasser der Evangelien sich ihren Stoff so zu eigen gemacht haben, wie das vor allem in den letzten Jahren unter Einfluss der Redaktionsgeschichte und der synchronischen Analyse vertreten worden ist. Diese Frage ist m. E. auch dann zu stellen, wenn man in Markus nicht den konservativen Redaktor sieht, wie ihn v. a. R. Pesch in seinem Markuskommentar gezeichnet hat. Die Evangelisten können wesentlich mehr selbständige Autoren gewesen sein, als es die Formgeschichte angenommen hat, ohne dass sie sich mit allem und jedem, das sie aus der Tradition übernahmen, identifizierten, zumal bei Markus ja noch die kaum zu klärende Frage offen ist, ob nicht auch er schon, wie Matthäus und Lukas es dann für uns nachvollziehbar getan haben, Stoff aus dem ihm überkommenen Material weggelassen hat.

Wir haben als Interpreten m. E. die Pflicht, aufeinander zu beziehen, was aufeinander beziehbar ist, und im Zweifelsfalle die Dinge für miteinander vereinbar zu halten, die der Evangelist in sein Werk integriert. Aber bei dem unmittelbaren Nebeneinander der von Gott (vgl. das theologische Passiv in 4,11) den Jüngern geschenkten Erkenntnis und deren Unverständnis gegenüber der Gleichnistradition insgesamt (4,13) stellt sich doch die Frage, ob der Evangelist auf diese Spannung zwischen seinen Überlieferungen aufmerksam geworden ist und beide Dinge zusammengebracht hat. Hat er es nicht, brauchen auch wir es nicht zu können. Und lassen sich die gottgeschenkte Erkenntnis und die Sonderbelehrung, die auf die Notiz über das Unverständnis der Jünger folgt, überhaupt miteinander vereinbaren?

Die Genieästhetitik, die teilweise die dogmatische Christologie beeinflusst hat, übt auch in der Exegese kräftigen Einfluss aus und lässt nicht nur die Evangelisten in jeder Hinsicht als ganz große Autoren erscheinen, sondern sieht auch ihre Werke als fehlerfreie Kreationen an. Aber der erste Evangelist, Markus, wäre in meinen Augen auch dann noch ein sehr großer Autor, wenn er an dieser Stelle z. B. die Spannung mit dem Kontext nicht ganz in den Griff bekommen hätte.

Man hat allerdings auch neuerdings wieder die Ansicht vorgetragen, Markus habe in V. 11 im Gegensatz zu der ihm vorliegenden Tradition kein Verstehen des Geheimnisses des Gottesreiches durch die Jünger im Vollsinne aussagen wollen und die Perspektive von V. 11 gegenüber der Vorlage ohnehin erheblich verändert. Offensichtlich sind die beiden Aussagen, so wie sie jetzt unmittelbar aufeinander folgen, für uns nur schwer zu vereinbaren.

Die sog. Parabeltheorie weist in die gleiche Richtung wie das Jüngerunverständnis und zeigt die Jünger als die von Jesus selbst besonders eingeweihten Zeugen des Jesusgeschehens. Die Ablehnung der nachösterlichem Verkündigung erklärt Markus seinen Lesern in Mk 4,10–12 mithilfe des (Jes 6 entnommenen) Verstockungsgedankens.

12. Das „geheime Evangelium nach Markus“

Im Jahre 1973 wurde ein Text veröffentlicht, der 1958 in der Nähe Jerusalems auf den hinteren Seiten einer Ausgabe der Ignatiusbriefe von 1646 entdeckt worden war – geschrieben in einer Minuskel des 18. Jahrhunderts. Da den Text danach niemand mehr gesehen hatte, lag der Vorwurf der Fälschung nahe. Inzwischen haben sich aber weitere Zeugen für diesen Text gemeldet und es sind Fotografien veröffentlicht worden. Gleichzeitig wird behauptet, der Text sei wegen seines homosexuellen Jesusbildes inzwischen vernichtet worden. Der Verdacht der Täuschung bzw. Manipulation steht aber weiterhin im Raum. Der Text enthält einen Auszug aus einem Brief des Clemens von Alexandrien an einen Theodorus, der vor einem verfälschten Markusevangelium warnt und eine geistlichere Fassung dieses Evangeliums zitiert. Er besteht aus zwei sehr ungleichen Teilen, der längere spielt deutlich auf Joh 11 und auf synoptische Abschnitte an. Sollte der Brief echt sein, so ist er wohl nur Zeuge für ein erweitertes Markusevangelium im zweiten Jahrhundert und keineswegs eine ursprüngliche Variante. Für solche Erweiterungen gibt es zahlreiche Parallelen.

 

13. Traditionelle Fragen und heutiger Zugang zu den Evangelien

Ausgangspunkt Alte Kirche?

Bei der Behandlung des Markusevangeliums war deutlich zu spüren, dass nicht eigentlich das Werk selbst unsere Überlegungen geleitet hat, sondern die Traditionen der Alten Kirche über das Werk. Unsere Arbeit daran bestand zu einem großen Teil in dem Versuch, diese Nachrichten aus der Alten Kirche auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, und die Ergebnisse waren nicht besonders positiv. Diese Art, sich dem Einleitungsstoff in den Evangelien zu nähern, wurde nicht nur deswegen gewählt, weil sie in der Einleitungswissenschaft nun einmal traditionell ist, sondern für diese Art der Behandlung spricht die Tatsache, dass außer den Nachrichten der Alten Kirche kaum Material vorhanden ist, das weiteren Aufschluss in den Fragen gewährt, die die Einleitungswissenschaft zu stellen hat.

Der Erkenntnisgewinn aus der Tradition

Aber es muss jetzt, also nach der Behandlung der das älteste Evangelium betreffenden Probleme auf die herkömmliche Art, die Frage gestellt werden, ob wir aus dieser Art der Behandlung für das Verständnis des Evangeliums den größtmöglichen Nutzen gezogen haben. Waren wir nicht weitgehend mit Fragen beschäftigt, die wir von selbst so nicht oder überhaupt nicht gestellt hätten? Das ist noch kein Argument, diese Fragen aufzugeben, wenn uns die Nachrichten aus der Tradition diese wirklich stellen, aber genau das ist m. E. die Frage: Erzielt man angesichts der Diskussion der von der Tradition aufgegebenen Fragen wirklich den größtmöglichen Erkenntnisfortschritt auf das Evangelium hin oder werden hier überwiegend Fragen traktiert, die zum besseren Verständnis des Evangeliums keinen großen Beitrag leisten?

Aus diesem Grunde machen wir beim nun zu behandelnden Matthäusevangelium den Versuch, die von der Tradition vorgegebenen Fragen jedenfalls nicht an den Anfang zu stellen, sondern beginnen damit, was sich aus der Lektüre des Evangeliums selbst noch für dessen Verständnis erschließen lässt. Danach können auch noch die Nachrichten der Alten Kirche zur Sprache kommen.

Literatur

1. Kommentare

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2. Monographien und Aufsätze

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§ 6Das Evangelium nach Matthäus

Vergleichende Lektüre?

Bei einem modernen schriftstellerischen Werk, das bekanntermaßen nicht nur auf Quellenlektüre basiert, sondern auch Quellen übernimmt, wie dies z. B. bei „Zettels Traum“ von Arno Schmidt der Fall ist, käme wohl niemand auf die Idee, dieses Werk allein aufgrund der Vorlagen zu interpretieren. Allerdings gehört zu einer gründlichen wissenschaftlichen Beschäftigung mit einem solchen Werk sicher außer der Bearbeitung des Textes selbst auch die Beschäftigung mit seinen Quellen. Nun hat ein modernes Werk ein ganz anderes Verhältnis zu seinen Quellen als die Werke der Antike, wie wir u. a. schon bei der Behandlung des synoptischen Problems feststellen konnten. Die Art der wörtlichen Übernahme, die wir hier finden, würde einem modernen Autor unweigerlich den Vorwurf des Plagiats einbringen. Aber gerade wegen dieser eindeutigen Übernahme der Quellen, die deren Bearbeitung im Sinne des Evangelisten einschließt, wird man bei der Interpretation des Matthäus- und Lukasevangeliums mit Sicherheit neben dem Text selbst auch die jeweilige Vorlage mit berücksichtigen müssen, weil der Interpretation damit eine wichtige Verstehenshilfe gegeben ist, die den Blick für allein am Text nicht Erkanntes öffnen kann. Allerdings ist die Frage nach dem genauen Verhältnis von innertextlicher Analyse und Quellenvergleich schwierig und umstritten. So erhellend der Vergleich mit der Markusvorlage auch ist, so wenig wird Matthäus sich Leser vorgestellt haben, die sein Werk immer auf der Matrix des Markusevangeliums lesen. Insofern muss das Evangelium auch in sich selbst lesbar und aus sich selbst verstehbar sein. Der Blick auf die Änderungen an der Markusvorlage kann u. U. auch eine Gefahr bedeuten, insofern die Aufmerksamkeit für die vom Autor gesetzten innertextlichen Signale und für die matthäische Gesamtkonzeption geschwächt wird.

Für das Verständnis des Matthäus- und Lukasevangeliums ist aufgrund der Anlehnung an das Markusevangelium und die Logienquelle Q für das Textverständnis nicht nur eine Beschäftigung mit dem Text selbst, sondern auch eine vergleichende Lektüre mit den Quellengeschichten wichtig.

1. Die sachliche Gliederung des Textes

Die Redeabschlussformel

Schon eine erste Durchsicht des Matthäusevangeliums selbst zeigt, dass der Autor in sein Werk zahlreiche Verstehenssignale eingefügt hat, so z. B. wenn er den Abschnitt 4,23–9,35 mit derselben Formel beginnen und enden lässt und so eine Inklusion schafft. Am deutlichsten ist dieses Signal jeweils am Ende der fünf von ihm geschaffenen Redekomplexe, die der Evangelist mit einer Formel beendet, die im Griechischen viel voller klingt, als dies in der Einheitsübersetzung der Fall ist: „Und es geschah, als Jesus (diese Reden) beendet hatte“ (Mt 7,28; 11,1; 13,53; 19,1; 26,1). Dieses wiederholende Element ist so auffällig und unübersehbar, dass man es als bewusst gesetzt verstehen muss. Deswegen ist es auch immer wieder als Gliederungssignal verstanden und mit Hilfe der Fünfzahl den Reden eine besondere Bedeutung (z. B. Anlehnung an die fünf Bücher Moses, das Matthäusevangelium als neuer Pentateuch) zugewiesen worden. Aber dass der Evangelist trotz der von ihm eindeutig bewusst gewählten Formel damit kein Merkmal zur Gliederung des Stoffes geben will, zeigt zum einen der eher verbindende, denn abtrennende Inhalt dieser Redeabschlüsse und zum anderen die Tatsache, dass eine dieser Formeln innerhalb des durch die gleichen Formulierungen in 4,23 und 9,35 sich als zusammengehörig erweisenden Abschnittes steht. Man wird also gut daran tun, diese Abschlussformeln der größeren Reden, die übrigens nicht bei allen Reden begegnen, nicht in jedem Falle als Gliederungsmerkmale zu verstehen. Ihre Funktion dürfte vielmehr sein, den Worten Jesu, die Matthäus auch sonst, z. B. im Erzählstoff, besonders hervorhebt, Nachdruck zu verleihen. Nicht umsonst legt der Evangelist dem auferstandenen Jesus die Worte in den Mund: „und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“ (28,20) und nimmt damit auf seine Reden Bezug.

 

Die Quellen der Reden

Diese Reden sind von Matthäus, wie man leicht durch einen Blick in die Synopse feststellen kann, durch die Zusammenfügung von Material aus der Logienquelle Q, aus dem Markusevangelium und von Sondermaterial zum großen Teil selbst gestaltet worden. Ansätze zu solchen Sammlungen von thematisch zusammengehörigem Material, wie sie sich bei Matthäus in den Reden finden, waren auch schon bei Markus zu erkennen, der in 2,1–3,6 Streitgespräche, in 4,1–34 Gleichnisse und in 4,35–5,43 Wundergeschichten zusammen überliefert und dabei möglicherweise schon auf vormarkinische Sammlungen zurückgreift. Bei Matthäus hat sich dieser Trend zur Bildung von thematischen Blöcken noch verstärkt, wie man durch einen Vergleich seines Gleichniskapitels mit dem des Markus erkennen kann, denn dort fügt Matthäus eine ganze Reihe kleinerer Bildreden in das markinische / vormarkinische Gleichniskapitel (Mt 13/Mk 4) ein. Diese Tendenz ist aber auch an den übrigen Reden erkennbar, stellen diese doch Weisungen Jesu (5–7), die Anweisungen an die Jünger zur Aussendung (10), Gemeindeweisungen (18) und Ausführungen wider die Pharisäer sowie eschatologische Abschnitte (23–25) zusammen. Auffällig ist allein der Umstand, dass Matthäus seine die Reden betonende Abschlussformel nicht auch zwischen Mt 23 und 24 eingefügt oder sonst einen Übergang zwischen diesen beiden Reden geschaffen hat, um die Differenz der antipharisäischen von der eschatologischen Rede zu markieren.

Keine Gliederungssignale

Wirklich gliedernde Signale hat der Autor wohl nicht gesetzt, es ging ihm mehr um den Zusammenhang als um Strukturierung mit Hilfe von Segmentierung. Aufgrund dessen weichen die vorgeschlagenen Gliederungsversuche auch erheblich voneinander ab, lassen sich wie auch schon beim Markusevangelium meistens von inhaltlichen Merkmalen leiten und sind teilweise auch stark am Markusevangelium orientiert. Die bei den Gliederungsversuchen bestehenden Schwierigkeiten kann man sich sehr schön daran verdeutlichen, dass viele solcher Versuche mit 4,17 und 16,21 jeweils einen neuen Hauptabschnitt beginnen lassen, weil in beiden Versen die gleiche Formulierung begegnet. Dabei kann dann der ebenfalls gleichen und eine Inklusion schaffenden Formulierung in 4,23 und 9,35 natürlich nicht die gleiche Bedeutung zugewiesen werden, und das Problem, ob die in 4,17 und 16,21 gewählte Formulierung „Von da an begann Jesus …“ nicht eher verbindenden denn trennenden Charakter trägt, wird überspielt. Immerhin kann dieses Sätzchen exklusiv, also trennend, aber auch inklusiv, also als den Zusammenhang mit dem Vorangehenden betonend, verstanden werden. Aber auch 4,23 und 9,35 sind als Gliederungssignale keineswegs eindeutig, insofern das in 4,23 signalisierte Neue noch nicht unmittelbar in 4,24 f., sondern erst in 5,1 beginnt und der auf 9,35 folgende Text ebenfalls noch deutlich überleitenden Charakter trägt. Das Neue beginnt erst in 10,1.

Die folgende Gliederung des Evangeliums versucht, formale und inhaltliche Merkmale zu berücksichtigen.


1,1–4,16Kindheitsgeschichten und Vorbereitung des Auftretens Jesu
1–2Die Kindheitsgeschichten
3,1–4,11Johannes der Täufer, Taufe und Erprobungen Jesu
4,12–16,20Jesu öffentliches Wirken in Galiläa und Umgebung
4,12–25Der Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu und die Berufung der ersten Jünger
5–7Die Bergpredigt
8–9Jesus, der Messias der Tat: Erster Zyklus von Machtaten und Einzellogien
10,1–11,1Die Berufung der Zwölf und die Aussendungsrede
11,2–12,30Zunehmende Auseinandersetzungen, weitere Machttaten und Streitgespräche
13,1–52Die Gleichnisrede am See Genesareth
13,53–16,12In Galiläa um den See Genesareth: Weitere Auseinandersetzungen und Machttaten
16,13–20,34Jesus auf dem Weg von Caesarea Philippi nach Jerusalem
16,13–17,27Das Petrusbekenntnis und die echte Nachfolge
18,1–35Die Gemeinderede
19–20Auf dem Weg nach Jerusalem
Letzte Tage in Jerusalem, Tod und Auferstehung Jesu
21–22Einzug, Tempelaktion und Auseinandersetzungen mit Jerusalemer Gegnern
23. 24–25Die Pharisäerrede und die Endzeitrede Jesu
26–27Passion, Tod und Begräbnis Jesu
28Die Auffindung des leeren Grabes und die Ostererscheinungen Jesu in Jerusalem und in Galiläa (sog. „Missions- und Taufbefehl“)

2. Gründe für die Abfassung des Matthäusevangeliums

2.1 Kenntnis weiterer Stoffe

Der wichtigste Grund für den Autor des ersten Evangeliums, den wir traditionsgemäß Matthäus nennen, sich an die Arbeit zu machen, dürfte die Kenntnisnahme des Markusevangeliums gewesen sein. Zwar kann die Gattung Evangelium damals auch quasi in der Luft gelegen haben, so dass es nicht unbedingt des Markusevangeliums als Anlass bedurft hätte, aber wahrscheinlicher ist doch, dass das Markusevangelium Matthäus den entscheidenden Anstoß zur Abfassung seines Werkes gegeben hat. Neben der Kenntnis des Markusevangeliums hat für den konkreten Entschluss wahrscheinlich auch die Tatsache eine Rolle gespielt, dass der Autor des Matthäusevangeliums zu einer großen Menge von Material Zugang hatte, das nicht in das Markusevangelium aufgenommen war, das aber seiner Meinung nach die Aufnahme in ein solches Werk verdiente (Q und Sondergut). Außer diesen Anstößen mehr im Formalen gab es auch inhaltliche Gründe, die Matthäus zur Verwirklichung der Evangelienschrift veranlassten.

2.2 Inhaltliche Gründe

Trennung vom Judentum

Dazu gehörten nach Ausweis seines Werkes u. a. die Frage des Verhältnisses der Jesusbewegung zum Judentum und das Problem der Heidenmission, der nachlassende Eifer für die Botschaft des Evangeliums und in der Gemeinde vorhandene Spannungen, z. B. über Fragen des Gesetzes und die Trennung der Gemeinde vom Judentum, oder umgekehrt, die Trennung der jüdischen Gemeinde von der des Matthäus. Wie diese Trennung verlief, lässt das Evangelium leider nicht mehr erkennen. Jedenfalls hat diese die Gemeinde des Matthäus in eine tiefe Krise geführt, in der durchaus die Identität der Gemeinde auf dem Spiel stand. Der Evangelist will die Gemeinde durch scharfe Abgrenzung vom Judentum einerseits und Hinweis auf die Überlegenheit des eigenen Tuns andererseits stabilisieren (vgl. Mt 6 und 23). Dass es bei solchen Stabilisierungsmaßnahmen nicht immer fair und gerecht zugeht und dass die Schwächen des Gegenübers dabei gnadenlos überzeichnet werden, ist sowohl aus der Soziologie als auch aus Trennungen im privaten Bereich allgemein bekannt und muss bei der Auslegung der entsprechenden Abschnitte mit in Anschlag gebracht werden, wenn man nicht zu einer völligen Verzeichnung des jüdischen Gegenübers der matthäischen Gemeinde gelangen will. Diese Überzeichnungen der Gegensätze zwischen Israel und der Kirche – Matthäus hat die Trennung keineswegs auf die Gemeinden in seiner Stadt beschränkt, sondern auf die Ebene des Grundsätzlichen erhoben, vgl. 21,43; 27,24 f. – haben aber nicht nur für die Darstellung dieser beiden Größen, sondern z. B. auch für die Darstellung Jesu und für die Bedeutung des Gesetzes im Matthäusevangelium Konsequenzen. Im Zuge dieser Trennung wird es auch in der „christlichen“ Gemeinde durchaus unterschiedliche Ansichten z. B. zum zukünftigen Verhältnis zum Gesetz gegeben haben, und die Auseinandersetzungen um eine adäquate Antwort auf diese Fragen lassen sich teilweise im Evangelium noch erkennen, so dass das Evangelium auch als Teil dieser innergemeindlichen Auseinandersetzung und Stabilisierungsarbeit anzusehen ist.