Einleitung in das Neue Testament

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Wenn dieser Markus mit dem Johannes Markus der Apostelgeschichte und insoweit mit dem Markus der paulinischen Tradition identisch ist, wissen wir nicht, wann dessen Wechsel von Paulus zu Petrus erfolgt ist. In jedem Falle aber haben wir in 1 Petr 5,13 ein Zeugnis der Verbundenheit von Petrus und einem Markus, das entweder das Zeugnis des Presbyters veranlasst haben könnte oder aber mit diesem auf einer gemeinsamen Tradition beruht.

1 Petr 5,13 bezeugt, dass die Verbindung zwischen (einem) Markus und Petrus schon vor Papias bekannt war. Das relativiert die Bedeutung des Papiaszeugnisses für die Verfasserfrage des Markusevangeliums erheblich.

Woher der Presbyter seine über 1 Petr 5,13 hinausgehenden Kenntnisse hat, lässt sich nicht mehr erkennen. Der dargestellte apologetische Charakter der Nachricht des Presbyters jedenfalls spricht nicht gerade dafür, dass wir es hier – was die Behauptung des Papias, Markus sei der „Dolmetscher“ des Petrus gewesen, angeht – mit einer historisch zutreffenden Überlieferung zu tun haben.

Der Autor des Markus Evangeliums ist unbekannt. Er trägt nach der altkirchlichen Tradition den Namen Markus. Dieser Name wird auch in der Neuzeit weiterhin für den anonymen Verfasser gebraucht.

Die Frage, ob der Verfasser ein Heiden- oder Judenchrist war, werden wir zusammen mit dem Problem der Zusammensetzung seiner Gemeinde erörtern (s. u. Nr. 5).

4. Die Abfassungszeit des Markusevangeliums

4.1 Die Nachrichten aus der Alten Kirche

Man kann auch die Erörterung dieses Problems mit Hilfe der Nachrichten aus der Alten Kirche zu lösen versuchen, da es einige Nachrichten aus dieser Zeit gibt, nach denen das Evangelium entweder noch zu Lebzeiten des Petrus oder nach dessen Tod verfasst worden sein soll. Es besteht aber Einmütigkeit unter den Exegeten, dass mit Hilfe dieser Nachrichten, die im übrigen weitgehend von dem oben angeführten Papiastext abhängig sein dürften, zu keiner weiteren Klarheit über die Abfassungszeit des Evangeliums zu gelangen ist.

4.2 Die fortgeschrittene Entwicklung des Materials

Markus und Q

Einige allgemeine Beobachtungen führen zu einer nicht zu frühen, aber auch nicht zu späten Ansetzung. So weist die in dem Markus-Stoff erkennbare Weiterentwicklung gegenüber dem Stoff der Logienquelle Q (z. B. die Reflexion der Bedeutung des Leidens Jesu) auf eine spätere Abfassung als Q, die gegenüber den Evangelien des Matthäus und Lukas erkennbare, noch nicht so weit fortgeschrittene Entwicklung, dass z. B. von Kirchenordnung und Hierarchie noch nichts zu erkennen ist, auf einen zeitlichen Abstand zu diesen.

Der Trennungsprozess zwischen „Kirche und Synagoge“

Allerdings muss man mit solchen Parallelisierungen vorsichtig umgehen, da hierbei in der Regel eine ähnliche und gleichzeitige Entwicklung an allen Orten vorausgesetzt wird. Diese Annahme, die nicht einmal für die katholische Kirche des 19. Jahrhunderts passt, widerspricht aber den noch in den Evangelien erkennbaren Tatbeständen. Denn trotz eines in der Regel nicht als unerheblich angesehenen zeitlichen Abstandes zwischen der Abfassung des Matthäus- und des Johannesevangeliums haben beide die Trennung vom Judentum hinter sich und das Johannesevangelium erweckt den Eindruck, als säßen die Wunden dieser Trennung noch tief und wären noch nicht vernarbt. Die Trennung vom Judentum dürften die Gemeinden des Matthäus und des Johannes also durchaus zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt vollzogen haben, so dass der in den Evangelien sich jeweils spiegelnde Entwicklungsstand der Gemeinden nicht einfach nach dem Schema: „weiterentwickelt, also später“ gedeutet werden darf. Es ist vielmehr mit unterschiedlichen Entwicklungen in einzelnen Orten zu rechnen. Von daher sind die angeführten Vergleichsargumente mit Q und den ► Seitenreferenten des Markus nur mit Vorsicht zu verwenden.

Frühdatierung des Markusevangeliums?

Auf eine nicht allzu frühe Entstehungszeit weist Mk 10,35 ff. hin: die beiden Zebedäussöhne Jakobus und Johannes dürften zur Zeit der Abfassung des Evangeliums bereits gestorben sein. Da Johannes beim Apostelkonzil eine wichtige Rolle innehatte (vgl. Gal 2,9), scheiden die auch in jüngster Zeit wieder vertretenen Frühansetzungen des Evangeliums in den 30er oder 40er Jahren aus. Auch der Umstand, dass die Verkündigung des Evangeliums von Jesus bereits weltweit geschieht (Mk 13,10;14,9), dass das jüdische Gesetz kein grundsätzliches Problem mehr darstellt (Mk 7) und die Parusieverzögerung ebenfalls bereits ihre Spuren im Evangelium hinterlassen hat, wenn auch das Problem im zweiten Evangelium keineswegs so groß ist wie etwa im Matthäusevangelium (vgl. Mk 13,30;9,1;13,32 mit Mt 25,1–13), spricht gegen eine Frühansetzung. Gleichwohl lassen alle diese Hinweise einen weiten Spielraum für die Abfassungszeit des Markusevangeliums.

4.3 Die Endzeitrede Mk 13 und die Datierung des Markusevangeliums

Hier vermag nach einer auffälligen Übereinstimmung unter den Exegeten nur die sogenannte synoptische Apokalypse (Mk 13) zu weiterer Konkretisierung zu verhelfen und diese verweist auf eine Abfassungszeit des Evangeliums um die Zeit des Jüdischen Krieges. Konkret geht es um die Frage, ob der Text Mk 13 bereits auf das Ende des Jüdischen Krieges und damit auf die Zerstörung Jerusalems zurückschaut oder ob der Text Signale enthält, dass dieser Krieg noch Gegenwart ist.

Mk 13 und der jüdische Krieg

Über diese Frage dauern die Kontroversen seit Generationen an. Während die einen sich sicher sind, dass Mk 13,2 nur als vaticinium ex eventu, d. h. als eine fiktive Prophezeiung, die bereits auf das vorhergesagte Ereignis zurückblickt, zu verstehen ist, und der Verfasser des Markusevangeliums so bereits die Zerstörung Jerusalems kennt und voraussetzt, halten die anderen den Zeitpunkt der Zerstörung Jerusalems in Mk 13 noch für zukünftig, den Krieg aber für bereits in vollem Gange. Vergleicht man die Berichte des Flavius Josephus und des Dio Cassius über die Einnahme des Tempels und die Zerstörung Jerusalems, so legt sich die Annahme eines vaticinium ex eventu in der Tat nicht nahe, und es dürfte auch nicht von ungefähr kommen, dass Lukas das Motiv von Mk 13,2 erweitert und auf die ganze Stadt Jerusalem bezogen hat. Für die Bewertung dieses Tempelwortes spielt auch eine Rolle, dass entsprechende Weissagungen im Alten Testament und im Judentum zahlreich vorhanden sind (vgl. 1 Kön 9,7 f.;Jer 7,14;26,6.9.18;Mich 3,12;äHen 90,28). Vor nicht geringere Schwierigkeiten stellt die zweite zur Datierung des Markusevangeliums immer wieder herangezogene Stelle, Mk 13,14. Hier bereitet schon die Deutung erhebliche Probleme, weswegen auch hier nicht eindeutig ein vaticinium ex eventu zu identifizieren ist.

Krieg und Endzeit

Nimmt man aber den Bezug des Gesamttextes auf den Jüdischen Krieg wirklich ernst, d. h. führt seine Entstehung auf die Zeit des Krieges (66–70) zurück und beachtet die Unterscheidung zwischen Krieg und Endzeit, dann kommt es dem Text gerade darauf an, den Krieg noch nicht als das Ende, sprich die Wiederkunft Christi, anzusehen.

Ein vormarkinisches „Flugblatt“ in Mk 13?

Ist diese Deutung von Mk 13 zutreffend, so wird die Aufnahme dieser Rede bzw. ihrer traditionellen Teile – die einschlägigen Autoren rechnen in Mk 13 mit der Übernahme einer Vorlage, z. B. eines Flugblattes, durch den Evangelisten, wobei in diese Vorlage evtl. auch schon weiteres Traditionsmaterial, etwa aus der Zeit der Krise um die Aufrichtung der Statue Caligulas im Tempel von Jerusalem, eingegangen sein soll – in das Evangelium gut verständlich und diese setzt den Jüdischen Krieg voraus, wobei offen bleiben kann, wie weit der Krieg bei der Abfassung der Vorlage des Markus bereits gediehen war. Insofern Abfassung des Stückes und Abfassung des Evangeliums nicht dasselbe sind, wird zwischen beiden durchaus eine gewisse Zeitspanne liegen – die Vorlage musste von Jerusalem bzw. dessen Umgebung noch zu Markus gelangen! –, und bei der Abfassung des Evangeliums dürfte der Krieg dann in der Tat zu Ende gewesen sein, was den Nachvollzug der Aussage, der Krieg sei noch nicht das Ende der Welt, sicher erleichtert hat.

Es ist am einleuchtendsten, auch wenn eindeutige Hinweise in Mk 13 wie z. B. vaticinia ex eventu fehlen, mit einer Abfassung des Markustextes nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 zu rechnen. Diese Datierung wird gerade in letzter Zeit häufiger vertreten.

5. Der Abfassungsort des Markusevangeliums

5.1 Hinweise aus der Alten Kirche

Clemens und Irenäus als Zeugen für Rom

Die Abfassung des Markusevangeliums wird häufig nach Rom verlegt. Diese Annahme basiert wie die Zuschreibung des Evangeliums an Markus auf einer Nachricht aus der Alten Kirche, die direkt erstmals bei Clemens von Alexandrien (t vor 215) begegnet:

„Beim Evangelium nach Markus waltete folgende Fügung. Nachdem Petrus in Rom öffentlich das Wort gepredigt und im Geiste das Evangelium verkündet hatte, sollen seine zahlreichen Zuhörer Markus gebeten haben, er möge, da er schon seit langem Petrus begleitet und seine Worte im Gedächtnis habe, seine Predigten niederschreiben. Markus habe willfahrt und ihnen der Bitte entsprechend das Evangelium gegeben. Als Petrus davon erfuhr, habe er ihn durch ein mahnend Wort weder davon abgehalten noch dazu ermuntert.(Eusebius, Kirchengeschichte VI 14,6)

Da auch schon Irenäus von Lyon († um 200) die Petrus-Rom-Tradition kennt und Markus wie Papias als Schüler und Interpreten des Petrus bezeichnet (vgl. Haer. III 1,2, gr. überliefert bei Eusebius, Kirchengeschichte V. 8,2 f.), könnte auch er evtl. die Abfassung des Markusevangeliums in Rom voraussetzen. Zum Ausdruck bringt er dies direkt allerdings nicht. Auch im sog. anti-marcionitischen Prolog, der zwischen 160/180 und der Mitte des 3. Jahrhunderts entstanden sein dürfte, werden Petrus, Markus und Italien zusammen genannt. Die Romfrage ist auch deswegen von Bedeutung, weil es neuerdings einen gewissen Trend gibt, das Markusevangelium auf dem Hintergrund des römischen ► Kaiserkultes sozusagen als dessen Antityp zu lesen, was bei einer Abfassung in Rom natürlich wesentlich leichter wahrscheinlich zu machen wäre als bei einer Abfassung in Syrien.

 

5.2 Hinweise mit Hilfe der Sprache des Markusevangeliums

In der neueren Diskussion hat man diese Nachricht dadurch abzusichern versucht, dass man das Markusevangelium nach Latinismen durchforscht hat, und man ist dabei durchaus auch fündig geworden.

Die Latinismen als Hinweis auf Rom?

Worte wie Caesar, census (12,14 Vermögensschätzung, Volkszählung), centurio (15,39.44 f. Führer einer Zenturie), flagellare (15,15 auspeitschen), legio (5,9.15 Legion) und praetorium (15,16 Amtswohnung des Statthalters) begegnen bei Markus insgesamt auffällig häufig, sind aber wohl dennoch kein Beweis für die Abfassung des Markusevangeliums in Rom, da nicht nur die Latinismen, sondern auch die Prägung der markinischen Sprache durch das Hebräische und Aramäische deutlich sind und die Herkunft der Latinismen durch die Anwesenheit der Römer im Osten genügend erklärbar ist. Dafür, dass die Anwesenheit der Römer als Erklärung genügt, spricht, dass die meisten der genannten Worte auch als Lehnworte Eingang in die Sprache der Rabbinen gefunden haben. So fehlt bei den o. g. Worten in Bauer / Alands Wörterbuch zum griechischen Neuen Testament nur zu praetorium der Hinweis auf die Übernahme in die rabbinische Sprache.

Die Ambivalenz der Argumente wird im übrigen schön deutlich, wenn man sieht, wie Ebner in seiner Einleitung (171) in Mk 12,42 mit der Erwähnung der kleinsten römischen Münze, des Quadrans, das entscheidende Argument für eine Abfassung in Rom findet, während Theissen (Entstehung 79) gerade unter Verweis auf diese Stelle gegen Rom plädiert.

Massiv gegen Rom spricht m. E. aber der Umstand, dass Markus der erste ist, der in großem Umfang das mündlich in den Gemeinden umlaufende Material sammelt (was kleinere Vorgänger-Sammlungen nicht ausschließt, s. u. Nr. 7 und oben § 4 zur Logienquelle Q) und in den Zusammenhang eines Lebens Jesu bringt. Dafür war er auf eine gewisse Nähe zum Ursprung und zum Zentrum der Jesusbewegung angewiesen.

Nähe zum Ursprung der Jesusbewegung

Es ist kaum denkbar, dass die Traditionen, die in das Markusevangelium Eingang gefunden haben, allesamt schon um das Jahr 70 auch in Rom bekannt gewesen sind. Schon Paulus dürfte sie ja trotz mehrmaligen Aufenthaltes in Jerusalem nicht oder jedenfalls nicht viele davon gekannt haben, sonst hätten sich sicher mehr Spuren davon in den Paulusbriefen erhalten als die drei Herrenworte, auf die Paulus ausdrücklich Bezug nimmt (1 Kor 7,10 f.;9,14;11,23 ff.;[1 Thess 4,13 ff.]).

Auch eine deutlich noch vorhandene Nähe zum Judentum – jüdische Fragen spielen durchaus noch eine Rolle im Markusevangelium, vgl. z. B. 7,1–15 oder die Auseinandersetzungen mit den jüdischen Gruppen in den Streitgesprächen sowie die Nähe zum Jüdischen Krieg in Mk 13 – lassen es nicht geraten sein, das Markusevangelium zu weit vom jüdischen Mutterland entfernt entstanden zu denken, wenngleich die an der Erläuterung jüdischer Sitten erkennbare Ausrichtung zumindest auch auf Heidenchristen eine Entstehung in Judäa oder Galiläa ausschließt.

Das Markusevangelium erfordert die Annahme einer gewissen Distanz, aber zugleich einer gewissen Nähe zu Palästina. Diese beiden Bedingungen erfüllt am ehesten der syrische Raum, so unbefriedigend diese allgemeine Zuweisung ist. Das Markusevangelium dürfte also am ehesten in Syrien entstanden sein.

6. Die markinische Gemeinde

Gemeinde aus Juden- und Heidenchristen

Die gleichzeitige Distanz und Nähe zum Judentum – einerseits interessieren Fragen des Gesetzes noch so, dass die darum kreisenden Perikopen in das Evangelium aufgenommen werden, andererseits kommt aber eine gesetzestreue Haltung offensichtlich nicht mehr in Frage und Gesetzesbräuche müssen sogar erläutert werden – ist am ehesten als Hinweis auf eine aus Heiden-und Judenchristen gemischte Gemeinde zu verstehen, weil man andernfalls annehmen müsste, Markus habe die jüdische Gesetzesfragen behandelnden Perikopen allein aus historischem Interesse in sein Werk übernommen.

Zwar ist solches Interesse gerade bei Markus nicht von vornherein auszuschließen, weil zum einen die Sorge um den Verlust und das Zerredetwerden der Tradition ein wichtiges Motiv für die Abfassung seines Werkes gewesen sein könnte, und zum anderen keineswegs alle Züge in seinem Werk bzw. in den Einzelperikopen auf ein aktuelles Interesse zurückgeführt werden können, obwohl diese Behauptung dem gegenwärtigen Trend der Forschung eher zuwiderläuft. Aber die Übernahme einer Vielzahl von entsprechenden Traditionen spricht doch dafür, dass an ihnen auch ein Interesse in der Gemeinde des Markus bestand und dieses wird am ehesten in einer zumindest auch judenchristlich beeinflussten Gemeinde verständlich.

Der Vielzahl der im Einzelnen erörterten Ungenauigkeiten in palästinischer Geographie und jüdischen Bräuchen bei gleichzeitigem Interesse an diesen wird vielleicht am ehesten die Annahme gerecht, im Verfasser des zweiten Evangeliums einen heidnischen Frommen aus dem Umkreis der Synagoge, also einen früheren sog. Gottesfürchtigen, zu sehen, der für eine aus Juden- und Heidenchristen gemischte Gemeinde schreibt.

Der Evangelist und seine Gemeinde

Die Gemeinde des Markus hat sowohl die Traditionen, die er in seinem Evangelium verarbeitet, als auch den theologischen Standpunkt des Markus mit Sicherheit in erheblichem Maße beeinflusst, allerdings wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach auch ein Vorgang auf Gegenseitigkeit gewesen sein. Inwieweit er bei seiner Arbeit vor allem seine eigene Gemeinde im Blick hatte, wissen wir nicht. Dass er auch für sie geschrieben hat, ist von vornherein wahrscheinlich, dass er ausschließlich für sie geschrieben hat, ist angesichts der literarischen Eigenart seines Werkes weniger naheliegend, was nun wiederum nicht meint, dass er sein Erzählwerk von vornherein als bevorzugtes Instrument der weltweiten Verkündigung des Evangeliums, von der er ja selbst zweimal spricht, angesehen hat.

Die angezielte Leserschaft

Da Markus sich entschieden hat, keinen Brief, sondern ein Evangelium zu schreiben, und dies mit Hilfe der in seiner Gemeinde umlaufenden und auch sonst erreichbaren Traditionen zu tun, kann er durchaus von Anfang an eine Leserschaft angezielt haben, die weit über den Rahmen seiner Heimatgemeinde hinausging, ja, angesichts der Tatsache, dass er der Erste war, der die Traditionen umfassend zu sammeln versuchte, kann die Absicht, ein Werk für die ganze Kirche zu schreiben, jedenfalls nicht von vornherein völlig ausgeschlossen werden. Denn das, was Markus für die Einzelperikope akzeptiert (Mk 14,9), könnte er durchaus auch auf sein Werk übertragen haben (Mk 13,10).

Die Perspektive des Markusevangeliums geht über die Gemeinde des Verfassers hinaus und schließt möglicherweise die ganze Kirche ein.

7. Der Markusschluss

Fortsetzung hinter Mk 16,8?

Die Bibelausgaben und-Übersetzungen bieten zwar hinter Markus 16,8 noch weiteren Text, es wird aber immer darauf hingewiesen, dass es sich dabei nach Ausweis der ► Handschriften um eine spätere Hinzufügung handelt, die im zweiten Jahrhundert entstanden sein dürfte, wenn auch ihre älteste textliche Bezeugung wesentlich jünger ist.

Dass auf die Flucht der Frauen vom Grabe Jesu keine Fortsetzung mehr erfolgt sein soll, ist nicht nur angesichts der Fortsetzungsberichte der ► Seitenreferenten, sondern auch innerhalb der Erzählung des Markus überraschend. Denn der Engel erteilt den Frauen im Grabe ausdrücklich den Befehl, die Jünger von der bevorstehenden Erscheinung des Auferstandenen in Galiläa in Kenntnis zu setzen, und auch der irdische Jesus hat in 14,28 auf ein Treffen nach der Auferstehung in Galiläa verwiesen.

Deswegen wurde im Laufe der Forschung immer wieder eine ursprüngliche Fortsetzung postuliert, die im Laufe des Überlieferungsprozesses verloren gegangen sein sollte, und es wurden auch immer wieder Rekonstruktionen dieses angeblich verlorenen Markusschlusses vorgelegt. Jedoch ist der Verlust eines Blattes in den ältesten ► Handschriften genau an dieser Stelle, wo ja die Perikope von der Auffindung des leeren Grabes mindestens zu einem gewissen Abschluss gekommen ist, sehr schwer zu erklären, zumal dieser Verlust schon sehr früh, zumindest vor der Abfassung des Matthäus- und Lukas Evangeliums, erfolgt sein müsste, da die Seitenreferenten hinter Mk 16,8 erkennbar eigene Wege gehen und offensichtlich in ihrer Mk-Quelle für diese Fortsetzung keinen Stoff mehr gefunden haben. Der an sich überraschende Schluss mit dem Ungehorsam der Frauen gegenüber dem Engelbefehl ist dann weniger überraschend, wenn man darauf achtet, wie sehr der Evangelist innerhalb seines Werkes Widersprüche zwischen Schweigen und Reden schafft (vgl. dazu unten 11.1.1)

Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass der ursprüngliche Text des Markusevangeliums mit 16,8 endete und dass der Ungehorsam der Frauen gegenüber dem Befehl des Engels vom Evangelisten bewusst gestaltet wurde. Ohne die auf die Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes bei Matthäus und Lukas folgenden Erscheinungserzählungen hätte wohl niemand eine Fortsetzung des Markusevangeliums hinter 16,8 erwartet.

8. Die Quellen des Markusevangeliums

Welche Quellen dem Verfasser des Markusevangeliums schriftlich vorgelegen haben, ist nach wie vor umstritten, aber hinsichtlich einiger Kapitel gibt es doch weit verbreitete Zustimmung, dass Markus hier auf eine vormarkinische Sammlung zurückgreifen konnte.

Das gilt vor allem für die Sammlung der Streitgespräche in 2,1–3,6, für die Gleichnisse in Kap. 4, natürlich mit Ausnahme von 4,11 f., für das Spruchmaterial in 10,1–12.17–27.35–45 und Teile der Passionsgeschichte, wobei man sich in der Regel auf 14–16 beschränkt und der von R. Pesch u. a. in seinem Markus-Kommentar vertretenen Ansicht, Markus benutze bereits ab 8,27 ff. weitestgehend eine ihm vorliegende, sehr alte und aus der Jerusalemer Urgemeinde stammende Passionsgeschichte, nicht folgt. Darüber hinaus kommen auch die Wundergeschichten in 4,35 ff. und Teile der synoptischen Apokalypse (s. o. Nr. 4.3) als Teile vormarkinischer Sammlungen in Frage.

Selbst neuere Arbeiten, die die Einheitlichkeit des Stiles des zweiten Evangeliums und die daraus resultierende Schwierigkeit, die dem Evangelium zugrunde liegenden Quellen noch erheben zu können, betonen, gehen nicht davon aus, dass der Evangelist sein Werk ohne Quellen verfasst hat.

9. Das Problem des Urmarkus

Ur- oder Deuteromarkus

Auch heute noch wird in der Forschung, wie beim Problem der synoptischen Frage kurz erwähnt, gelegentlich die Annahme vertreten, nicht der Verfasser des uns heute vorliegenden Markusevangeliums habe als erster die Gattung Evangelium geschaffen, sondern er habe bereits einen Vorgänger gehabt.

Für diese Annahme stützt man sich vor allem auf die Übereinstimmungen zwischen den Evangelien des Matthäus und Lukas gegen Markus im mit dem Markusevangelium gemeinsamen Stoff (also auf die sog. „kleineren Übereinstimmungen“) und auf die sog. „große“ oder „lukanische“ Lücke im Lukasevangelium, in der Mk 6,45–8,26 ausgelassen sind und die Lukas in seiner Markusvorlage deswegen nicht gefunden haben soll.

Da jedoch auch die Urmarkus-Hypothese nicht in der Lage ist, diese kleineren Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus im mit Markus gemeinsamen Stoff, zu erklären und zudem das Urmarkus-Exemplar des Lukas von dem des Matthäus noch abgewichen sein muss, wenn die Urmarkushypothese das Fehlen von Mk 6,45–8,26 nur bei Lukas erklären soll, verzichtet man besser auf die Annahme dieser weiteren Unbekannten.

Dasselbe gilt, wenn man statt eines Urmarkus als Vorlage für die ► Seitenreferenten einen sog. Deuteromarkus, also eine veränderte Neuausgabe des Markusevangeliums, annimmt. Auch dessen Annahme hat sich, obwohl sie immer wieder und aufgrund des vehementen Eintretens von A. Fuchs vertreten wird, bislang nur gelegentlich durchsetzen können (s. dazu § 3 Nr. 6.2).

10. Die Sprache des Markusevangeliums

Der Zuschreibung des Werkes an einen gottesfürchtigen Frommen aus der Umgebung einer Synagoge widerspricht auch die Sprache des Evangeliums nicht. Wie schwierig das Griechisch des zweiten Evangeliums zu beurteilen ist, kann man an der unterschiedlichen Beurteilung seiner Sprachfertigkeit erkennen.

 

Unterschiedliche Beurteilungen der Sprache des Mk

Auf der einen Seite kann der Autor aufgrund seiner aus den Übersetzungen erschlossenen Hebräisch-/Aramäisch-Kenntnisse und mancher Eigenarten seines Sprachgebrauchs als in Palästina geborener Jude deklariert werden, andererseits kann er aber auch wegen seines im übrigen doch einigermaßen flüssigen, wenn auch gelegentlich als barbarisch bezeichneten und doch wiederum der Übersetzung der ► Septuaginta überlegenen Griechisch als schon lange in der griechisch sprechenden Diaspora lebend angesehen werden.

Nun finden sich aber eine ganze Reihe von Eigenarten des markinischen Griechisch durchaus auch in nicht semitisch beeinflusster Volksliteratur, und als semitisch beeinflusst geltende Sprach-Merkmale des zweiten Evangeliums lassen sich in nicht geringer Zahl ebenfalls in dieser Literatur nachweisen. Sprache, Komposition und inhaltliche Bearbeitung des Evangelien-Stoffes durch Markus sind im Verhältnis zum sicher nicht semitisch beeinflussten ► Alexanderroman sogar als feinfühliger und geschickter bezeichnet worden. Von daher ist die Zuschreibung des Markusevangeliums an einen Autor semitischer Muttersprache keineswegs mehr so sicher wie einige Zeit angenommen. Dies gilt umso mehr, als andere Autoren der Meinung sind, ein längerer Aufenthalt des Markus in Palästina genüge, um die Übersetzungen und Anklänge an ► Semitismen zu erklären, zumal wir auf die Notwendigkeit solcher Übersetzungen auch schon in der vormarkinischen Tradition hingewiesen haben.

Die Sprache des Evangelisten wird in der neueren Literatur als einheitlicher angesehen als früher, wo man noch die Zuversicht hatte, zwischen der Hand des Evangelisten und seinen Quellen unterscheiden und sauber zwischen Redaktion und Tradition trennen zu können.

Der Evangelist und seine Quellen

Diese Zuversicht kommt der Forschung aus mehreren Gründen immer mehr abhanden. Das hängt zum einen mit den großen Differenzen der Ergebnisse solcher Scheidungsversuche, zum anderen mit der Hoffnung zusammen, die synchronische Betrachtung des Textes werde einhelligere Ergebnisse liefern als die diachronische. In letzterer Hinsicht darf man sehr gespannt sein. Aber auch das Verhältnis des Autors zur mündlichen Tradition wird in der neueren Literatur anders beurteilt als zu Zeiten der klassischen Formgeschichte. Die mündlichen Erzählungen werden bei weitem nicht mehr als so fest in ihrer Form angesehen wie damals und dementsprechend die sprachliche Formung durch den Evangelisten weit höher angesetzt. Ob dem nicht unsere Überlegungen über das Mitschleifen der Übersetzungen hebräisch-aramäischer Termini widersprechen, wird weiter zu prüfen sein.

Die Sprache des Evangelisten spiegelt zwar einen gewissen semitischen Einfluss, aber dieser geht nicht so weit, dass man daraus mit Sicherheit auf einen Judenchristen als Autor schließen könnte.

11. Die theologische Absicht des Evangelisten Markus

Hauptintention: die Christologie

Die primäre Aussageabsicht des markinischen Werkes ist christologisch, so dass die Abschreiber, die schon früh dem Initium „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“ (1,1) die Ergänzung „dem Sohne Gottes“ anfügten, durchaus in der Linie der markinischen Absichten blieben, wenn der Titel im Initium nicht ursprünglich sein sollte. Es geht um ein zutreffendes Verständnis Jesu, von dem Markus an markanten Stellen seines Werkes als Sohn Gottes spricht, dessen Bedeutung aber allein mit diesem Titel keineswegs schon zutreffend und umfassend umschrieben ist.

Sohn Gottes

Selbst der Titel „Sohn Gottes“ allein ist noch missverständlich, da dieser nach Ausweis der von Markus übernommenen Traditionen schon in der Kirche des ersten Jahrhunderts unterschiedlich verstanden wurde. Dieser und andere Titel konnten in der Tradition mit Wundergeschichten verbunden werden, die Jesu Würde als Gottessohn oder Davidssohn / Messias zum Ausdruck bringen. Dieses Verständnis lehnt Markus nicht ab, aber er hält es für außerordentlich missverständlich und ergänzungsbedürftig, weswegen er dieser ► theologia gloriae eine weitere Dimension hinzufügt, die des niedrigen und notwendig ins Leiden gehenden Jesus.

Der Jesus der Wunder und der Jesus des Leidens gehören für den Evangelisten untrennbar zusammen. Eine einseitige Betonung nur einer dieser zwei Seiten wird dem Jesusereignis nach Ansicht des Markus nicht gerecht. Zu einem angemessenen Verständnis Jesu gehört dessen ganzes Schicksal.

Wie nicht nur ein Titel genügt, um den Glauben an Jesus zutreffend zum Ausdruck zu bringen, und Jesus deshalb in allen Evangelien, nicht nur bei Markus, eine ganze Reihe von Heilbringertiteln erhält, so können diese Titel unterschiedliche Inhalte umfassen, die nach Markus beim Titel Gottessohn zusammengehören und nicht getrennt werden dürfen.

11.1 Das Messiasgeheimnis

Bekenntnis vs. Schweigegebote

Um freilich sein genaues Verständnis dieses Jesus deutlich zu machen, ist Markus Wege gegangen, die bis heute für uns nicht ganz durchschaubar sind. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts spricht man über das von W. Wrede so genannte „Messiasgeheimnis im Markusevangelium“, womit der auffällige Widerspruch zwischen offenem Bekenntnis der messianischen Würde Jesu z. B. durch die Dämonen und das sich anschließende Schweigegebot von Seiten Jesu oder der Zusammenhang zwischen Jüngerbekenntnis und Schweigegebot in Mk 8,27–33 gemeint sind.

Eine theologische Konstruktion

Dass es sich hierbei um eine Konstruktion und nicht um die exakte Wiedergabe einer historischen Einzelheit handelt, wird schon bei der Perikope vom Töchterlein des Jairus deutlich, wo zunächst der Tod des Mädchens sozusagen vom ganzen Dorf beklagt und im Anschluss an die Totenerweckung von Jesus die Weisung erteilt wird, niemandem etwas davon zu erzählen (Mk 5,22–24.35–43).

Die Komponenten des Messiasgeheimnisses

Im einzelnen sind im Zusammenhang mit dem Messiasgeheimnis folgende Komplexe zu unterscheiden:

(a) das Verbot bei manchen Wundergeschichten, das Wunder weiter zu erzählen (5,43;7,36) – dazu gehört auch, dass dieses Verbot z. T. übertreten wird, vgl. 7,36 und 1,44 f.,

(b) das Wissen der Dämonen um Jesu besondere Würde und der dazu gehörige Schweigebefehl (1,25.34;3,12),

(c) Das Wissen der Jünger um die besondere Würde Jesu und das Schweigegebot (8,27–30;9,9) einerseits, das Unverständnis der Jünger gegenüber den Worten Jesu andererseits (4,13; 8,14–21),

(d) Die Parabeltheorie (4,10–12, siehe dazu 11.2)

11.1.1 Das Wissen um die besondere Würde Jesu und die Schweigegebote

Die ersten drei Komplexe kommen darin überein, dass die Verbreitung entweder eines christologischen Hoheitstitels, der von den Dämonen (5,43;7,36) oder den Jüngern (8,27–29) zur Sprache gebracht wird oder auf andere Weise bekannt wird (9,2–9), oder dass die Verbreitung eines von Jesus vollbrachten Wunders untersagt wird.

Funktion der Schweigegebote

Die literarische Funktion dieser Konstruktion kommt in ihrem künstlichen, eher für schriftliche als für mündliche Literatur bezeichnenden Charakter zum Ausdruck: Die Verbreitung des Wunders wird verboten, aber das Wunder und das entsprechende Verbot werden erst einmal erzählt.

Grenze der Schweigegebote

Auf der Ebene des Markus ist dieser Widerspruch kein Problem, weil er in 9,9 Tod und Auferstehung Jesu als Grenze für das Schweigegebot bezeichnet hat – danach darf offen darüber gesprochen werden!