Die Schamanin

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14.

Auf den Rat ihrer Tante Chénoa und ihrer Mutter Clara promoviert Solveig dann doch noch. Sie hatte im Urwald ein Mittel gefunden, das als Heilmittel geradezu genial ist, und sie hat darüber eine Abhandlung geschrieben. Kurz, aber präzise. In der Welt der Mediziner sind Solveig damit einige Türen geöffnet worden. Für Solveig hat sich das Medikament sogar als äußerst gewinnbringend erwiesen. Es wird synthetisch nachgebaut, und die Lizenzgebühren bringen Solveig regelmäßige Einnahmen, die sie finanziell unabhängig machen.

In der Welt der Pferdeliebhaber ist ihr Ruf längst unbestritten. Sie gilt als „die Mutter aller Tiere“ und als geniale Tierflüsterin. Dieser Ruf ist für Solveig viel wichtiger als so ein Titel. Sie weitet jetzt ihr Wirkungsfeld systematisch aus: in die USA, nach Russland, China, Burma und Pakistan, und in viele andere Länder, die von Clans geführt werden, die sich und ihren Kindern teure Gestüte und ein Leben im Luxus gönnen, bevor sie diese Kinder wieder in verantwortungsvolle Posten hieven, die der Familie noch mehr Geld einbringen werden.

Mittlerweile hat Solveig selbst eine Tochter. Sie hatte sich in einen Indio verliebt, sie hatten eine Weile zusammengelebt, aber der Vater ihrer Tochter war als Ingenieur stets unterwegs und auch Solveig war oft unterwegs.

15.

In den nächsten fünfzehn Jahren bewegt sich Solveig zunehmend aus ihrer kleinen und abgeschiedenen Stadt hinaus. Sie lernt andere Kulturen, andere Gesellschaften und andere politische Machtstrukturen kennen. Sie lernt, dass ihre kleine Welt zuhause zwar wohlgeordnet scheint, aber dass dieses große Ganze nicht so ist, dass man zufrieden mit sich und der Welt sein kann.

Sie hat ihre Mutter Clara, ihren Onkel Nakoma und ihre Tante Chénoa oft davon reden hören, aber jetzt sieht und hört Solveig vieles, was weit über das persönliche Maß an Betroffenheit hinausgeht.

Das sind nicht nur wirtschaftliche Ungleichgewichte und menschliche Defizite. Es gibt gewaltige neue Umweltveränderungen durch jahrhundertelangen Raubbau an der Natur. Ihre Familie arbeitet seit langem an Lösungsansätzen in diesen Bereichen. Sie stellen Sonnenkollektoren her, biologisch saubere Nahrung, Meerwasserentsalzungsanlagen und Wellenkraftwerke. Sie sind an neuen Technologien beteiligt, wie der Umstellung von Fahrzeugen vom Erdöl auf umweltverträgliche Energiearten.

Solveigs Blick schärft sich in diesen Jahren, und sie gewinnt die Überzeugung, dass nur der Weg der friedlichen Koexistenz all die bestehenden Probleme langfristig lösen wird.

Sie irrt, aber das weiß sie nicht. Die Cantara wissen das längst, und sie haben damit begonnen ihre eigenen Maßnahmen auf den Weg zu bringen, um eines der Grundübel zu beseitigen, die Bevölkerungsexplosion der Gattung Mensch, aber dazu kommen wir noch.

16.

Solveig hat längst auch gelernt, in jenes Zwischenreich einzutreten, das zwischen Leben und Tod existiert. Manche Menschen erleben das nur, wenn sie durch einen Unfall an diese Grenze stoßen, eintreten in dieses Reich und schließlich wieder zurück geholt werden, weil ihre Zeit noch nicht um ist.

Solveig kann bewusst in diese Zwischenwelt eintreten. Dort findet Solveig auch jenes unbekannte „Etwas“. Es hält seine unsichtbare Hand über den Familienclan. Er beschützt und wacht über sie. Zu ihm kann Solveig gehen, wenn sie nicht weiter weiß. Auch das hat sie von Mama Clara, Opa Leon, Onkel Nakoma und Chénoa gelernt. Sie hat vor allem gelernt, dass jeder Mensch seinen eigenen Weg gehen, und für seine eigenen Taten gerade stehen muss. Sie kann immer nach dem Rat von Mama oder Tante Chénoa fragen, aber sie kann auch in diesen Tunnel gehen und mit diesen „Etwas“ Kontakt aufnehmen, wenn nichts anderes mehr hilft. Dieses „Etwas“ gibt ihr nicht immer klare Auskünfte oder Anweisungen. Dann muss sie darüber grübeln und nach dem Sinn suchen. Dieser Erkenntnisprozess, an dem dann oft mehrere Familienmitglieder beteiligt sind, der führt die Familie stets zu Lösungen, wenn sie einmal nicht weiter weiß.

Solveig macht sich manchmal Gedanken darüber, warum gerade ihre Familie mit diesen Energieströmen ausgestattet worden ist, aber das ist letztlich müßig, darüber nach-zudenken. Tante Chenoa hatte das einmal mit der Evolution erklärt, und das scheint eine nachvollziehbare Erklärung zu sein. Dieses „Etwas“ ist für Solveig so etwas, wie eine gemeinsame Energie aller Clanmitglieder, die sich in bestimmten Situationen zusammenschließt, um nach Lösungen zu suchen, auch über weite Distanzen hinweg.

Wer denkt schon an eine intelligente Gattung, die aus dem All zu uns gekommen ist. Dazu ist Solveig viel zu sehr Realistin.

Es ist ihre Familie, die mit dieser treuhänderischen Aufgabe betreut worden ist, wie ein Wächter, und Solveig ist genau genommen dankbar dafür.

Kapitel 2. Die Schamanin

1.

Schauen wir ein paar Jahre in der Zeit zurück.

Noch während ihrer Studienzeit ist Solveig einmal in Kasachstan unterwegs.

Es gibt dort in diesem dünn besiedelten Land einflussreiche Familien, die viele Rohstoffe und Transportwege kontrollieren. Gas, Uran, Gold, Mangan, Schwefel, Kupfer, Eisen, Zink, Salze, seltene Erden, aber auch Baumwolle, und sie haben dort im Grenzgebiet zwischen den Großregionen Russland, China, Indien und den muslimischen Ländern des Südens etwas zu sagen. Viele sonst verbotene Transporte werden quer durch das Land geführt, und im Bereich Internetbetrug haben sich die Familien einen großen Einfluss gesichert. Es gibt dort in Zentralasien viel Geld, aber nur konzentriert auf wenige Familien und Clans. Darüberhinaus gibt es viel Abhängigkeit und Armut.

Die „befreundete“ Sippe beherrscht das flächenmäßig neunt-größte Land der Erde aus dem Verborgenen.

Es gibt dort Wüsten, Steppen, waldreiche Gebiete und große Seen, darunter auch große Salzseen. Es gibt aber auch Gebiete, wo immer noch das Betreten verboten ist, seit hier vor etwa achtzig Jahren einmal mehrere hundert Atomtests durchgeführt worden waren, viele davon überirdisch. Ein Gebiet in der doppelten Größe Bayerns war damals völlig verstrahlt worden.

Solveig besucht eine Baumwollpflanzerdynastie. Sie besitzen Baumwollfelder, etwa in der Größe der Bundesrepublik Deutschland. Sie wohnen auf Landgütern in der Größe von Schlössern. Die Familie besitzt Immobilien in verschiedenen Städten, Transportfirmen, Banken und Minen, und sie leistet sich mehrere Gestüte und Falknereien. Das ist hier der Nationalsport der Reichen. Zumindest der traditionelle Teil der prestigeträchtigen Freizeitaktivitäten.

In der Familie ist es üblich, die Nachkommen in diesen überlieferten Traditionen der Nomaden zu unterrichten, auch wenn viele Mitglieder der Familie erfolgreiche Bänker, Anwälte, Ärzte oder Unternehmer geworden sind, die sich heute auch teure Autos, Flugzeuge und Yachten leisten, die in Luxussporthäfen im schwarzen Meer dümpeln, zu denen nur Wenige im Land Zugang haben.

Es ist eine eigentümliche Familie. Tradition vermischt sich mit Moderne, es gibt in der Familie IT Spezialisten, Ingenieure, Anwälte, Richter, hohe Staatsbeamte, Immobilienmakler und Wissenschaftler, ähnlich wie in Solveigs Familie auch. Ein Großteil der Einnahmen stammt aber tatsächlich aus illegalen Geschäften, und die Familie beherrscht ihn genial, diesen Spagat zwischen legalen und illegalen Geschäften. Es ist einfach, diese schwarzen Gelder zu waschen und in legales Geld zu verwandeln. Man muss das jetzt nicht im Detail ausführen. Solveig ist ganz im Groben über die Geschäfte informiert, weil sie von Chénoa und Elvira eingewiesen worden war, und weil sie sich bereits in einige der Köpfe der Mitglieder dieser Organisation gesummt hatte, aber sie mischt sich da nicht ein, getreu ihrem Motto der Unparteiigkeit.

Solveig ist unterwegs, um sich verschiedene Pferde und die kostbaren Greifvögel der Sippe anzusehen. Die Zucht und die Ausbildung von Adlern und Falken hat hier eine lange Tradition und diese Zucht ist berühmt. Reiche Araber zahlen dieser Familie für einen gut ausgebildeten Adler oder Falken problemlos zwischen 100.000 und 150.000 Euro. Aber auch im Land selbst pflegt man diesen Sport. Pferde gehören traditionell zum Image, auch wenn heute jeder reiche Kasache mindestens eine Luxuslimousine und mehrere teure Geländewagen und italienische Rennwagen in der Garage stehen hat. Stutenmilch gilt auch ihnen als eine Art Fitnesstrunk.

Der Termin war schon seit längerem ausgemacht.

Als sie am Flughafen ankommt, wird sie gebeten, sofort in einen bereitstehenden Helikopter umzusteigen. Die Familie sei sehr in Sorge, es sei eilig, und vielleicht könne Solveig helfen.

Diesmal geht es der Familie nicht um Pferde oder Greifvögel.

Eines der Kinder der Sippe war beim Reiten unglücklich gestürzt. Es war von vielen Pferdehufen getroffen worden. Es gab Brüche und innere Verletzungen. Das Kind sei auf die Intensivstation des Krankenhauses gebracht worden, aber es läge seit fünf Wochen im Koma. Die Klinik weiß keinen Rat mehr, die Ärzte in der eigenen Familie fühlen sich hilflos, und so hatte die Familie das Kind in einem lebensgefährlichen Transport „nach Hause“ geholt, statt es sinnlos in diesem Krankenhaus liegen zu lassen.

Es gibt einen eigenen Trakt, nur für das Kind, mit Ärzten, Pflegern, Krankenschwestern, einem Koch, und Helfern, die sofort springen, wenn sie gerufen werden.

Der Junge liegt unter einem Sauerstoffzelt, bleich und weggetreten. Er wird künstlich ernährt und er wird von Zeit zu Zeit künstlich beatmet, nur um sicherzugehen. Man lässt nichts unversucht. Die äußeren Wunden waren behandelt worden. Es hatte Blutgerinsel im Kopf gegeben, aber man hatte sich nicht getraut, das zu operieren, aus Angst, das Kind dann sofort zu verlieren. Die Blutgerinsel liegen wirklich an einer sehr sensiblen Stelle. Man hatte auch Ärzte aus dem Ausland konsultiert, aber die hatten abgewunken, trotz der königlichen Honorare, die man ihnen bot.

 

Wenn sie den Tod des Kindes verursachen würden, dann müssten sie um ihr Leben fürchten. Zumindest dachten sich das diese Kapazitäten, nachdem sie sich über die Familie kundig gemacht hatten.

Solveig kennt die Familie schon seit einigen Jahren. Sie sieht sich das Kind an, sie lässt sich die Röntgenbilder und Computertomografien zeigen, dann bittet sie um einen abgelegenen Raum. Sie springt sofort nach Südamerika zurück, und nimmt Kontakt zu ihrer Cousine Lara auf, die in Sachen Naturmedizin eine Ausnahmestellung innerhalb der Familie genießt, mehr noch als ihr genialer Vater Nakoma, Solveigs Onkel. Solveig bittet sie darum, einige ihrer pflanzlichen Sammlungen zur Verfügung zu stellen. Dann springt sie, bewaffnet mit einem großen Rucksack, zurück nach Kasachstan.

Sie sucht den Clanführer auf und bittet um ein Gespräch unter vier Augen.

Sie will wissen, ob er soviel Vertrauen zu Solveig hätte, dass er ihr das Kind für eine Weile anvertrauen würde, ohne Fragen zu stellen. Kein Sauerstoffzelt, aber einige Begleiter, Pferde, Jurten und ein Ausritt für mehrere Tage oder Wochen.

Der Clanführer sieht Solveig lange an. Er kennt ihre unvergleichlichen Fähigkeiten mit Tieren, deshalb hatte er sie schließlich hierher geholt, und er hatte auch viel über Solveigs Heilkünste an Menschen gehört. Solveig gilt als Kapazität, obwohl sie noch sehr jung ist.

Er schließt die Augen und atmet lange tief ein- und aus. Dann sieht er Solveig durchdringend an und beschließt, „du sollst alles haben, was du brauchst.“ Auch in seiner Familientradition hatte es in früheren Jahrhunderten Schamanen mit besonderen Fähigkeiten gegeben. Solveig ist mit solchen Fähigkeiten ausgestattet. Der Clanführer hat keinen Zweifel. Er hat zwar Angst um seinen Lieblingsenkel, aber wenn irgend jemand helfen kann, dann wahrscheinlich Solveig.

2.

Zwei Tage später bricht Solveig auf, begleitet von dem Vater des Jungen, von einem der großen Brüder, und von mehreren Knechten und Treibern.

Solveig hat sich ein großes Tuch geben lassen. Sie steigt auf das Pferd und lässt sich den achtjährigen Abay in das Tuch geben. Dann bricht die ganze Gruppe auf. Solveig trägt das Kind in ihrem Tuch. Das Pferd dirigiert sie nur mit ihren Füßen und leichten Zurufen. Sie benutzt nicht einmal einen Sattel.

Während des langsamen Rittes ist Solveig wie weggetreten. Sie hat ein Energiefeld um sich gebreitet. Sie summt und singt. Sie wiegt sich im Schritt des Pferdes. Auch das Pferd hat längst begriffen, dass es da eine wertvolle Fracht trägt, die es zu beschützen gilt. Tiere haben für solche Dinge ein feines Gespür, und dieses Pferd nimmt die feinen Schwingungen auf, die von Solveig und dem Kind ausgehen.

Mittags bittet sie darum anzuhalten. Sie lässt einen Tee zubereiten, aus den Kräutern, die sie mitgebracht hat, und benetzt die Lippen des Kindes damit. Sie führt einen dünnen Schlauch in den Magen und gibt ihm von diesem Tee. Sie selbst trinkt Wasser, das sie mit einigen anderen Kräutern zubereiten lässt, dann trinkt sie etwas Stutenmilch, und kaut auf mitgebrachten Blättern, die sie in eine Art Trance versetzen. Erst dann reiten sie weiter.

Sie reiten, bis sie einen kleinen klaren See erreichen, der in einem Talkessel liegt. Dort lässt Solveig die Gruppe anhalten, und sie bittet darum, die Jurten aufzustellen.

Während die Männer die Schlafkojen vorbereiten, summt und singt Solveig, die sich im Schneidersitz auf ein Fell gesetzt hat, das Kind in ihren Armen. Auch jetzt ist sie wieder völlig weggetreten. Das Energiefeld ist fest und weist jeden Eindringling von außen ab. Die Mitglieder der Reise wissen das schon. Es ist, wie eine undurchdringliche Mauer.

Solveig kann aber auch unvermittelt aus dieser Selbstvergessenheit auftauchen und klare Bitten oder Anweisungen aussprechen. Jetzt bittet sie um eine eigene Jurte, ein Stück getrennt von den anderen.

In dieser Nacht kommen die Männer nicht zum Schlafen. Solveig entfacht in der Jurte ein Blitzlichtgewitter, das so heftig wird, dass es zu Detonationen kommt. Der Donner rollt durch das Tal und die Pferde sind so unruhig, dass sie sich fast losreißen.

Der Vater trommelt die Mannschaft zusammen, sie gehen ins Freie und beginnen zu singen und sie beten zu Allah und zu Mohammed, seinem Propheten.

Erst am Morgen hört das Blitzlichtgewitter auf. Solveig tritt aus dem Zelt, bekleidet mit einem leichten Gewand, das nackte Kind auf den Armen, dann geht sie, wie in Trance, zum Ufer des Sees. Sie geht ins Wasser, bis sie mit dem Kind unter der Wasseroberfläche verschwunden ist.

Bei Allah, was hat sie vor? Der Vater hat Ängste, wie selten zuvor.

Plötzlich steigen heftige Blasen auf, sie hören ein Gurgeln, und Solveig schießt plötzlich aus dem Wasser, hängt sich im Sprung das Kind über die Schulter, das jetzt schreit, dann taucht sie wieder unter, um kurz darauf schnell an Land zu waten.

Sie legt das Kind auf eines der Felle, und macht Wiederbelebungsversuche. Sie drückt auf die Brust. Sie beatmete es durch den Mund, dann kommt ein Schwall Wasser aus der Lunge und noch einer und das Kind beginnt zu husten.

„Decken und ein Feuer“, befiehlt Solveig, „schnell.“

Dann setzt sie die Wiederbelebung fort.

Das Kind spuckt erneut Wasser, dann schlägt es die Augen auf. Die Männer stehen schon mit Tüchern und Decken bereit. Solveig lässt das Kind warm einpacken und trocknet den Kopf.

Sie verfällt in ihre „Weltsprache“, die der Vater des Jungen schon aus früheren Begegnungen kennt.

Das Kind atmet jetzt normal. Solveig will ihren Rucksack, sie richtet den Jungen etwas auf und gibt dem Jungen etwas von dem Tee, den sie gebraut hatte.

Der Junge hat die Augen offen. Er schluckt den Tee und dann sieht er sich in der kleinen Gruppe um.

„Vater, was machen wir hier?“

Erdem, der Vater, ist fassungslos vor Überraschung und Glück. Er fällt auf die Knie und schickt ein Stoßgebet zum Himmel.

Später sitzen sie um dieses Feuer und Solveig hält den Jungen auf ihrem Schoß, eingepackt in Decken, und sie summt fast unmerklich.

Solveig bleibt noch zwei Wochen an diesem See. Sie badet und schwimmt jeden Tag mit dem Jungen. Sie hilft ihm, seine Beine wieder zu gebrauchen, die nach den Wochen des Liegens an Kraft verloren haben.

Jeden Tag erhält der Junge jetzt von der frisch gezapften Stutenmilch, er bekommt Tee und Blütenblätter und Beeren, auf denen er kaut. Die Gesichtsfarbe wechselt von einem käsigen Weiß in ein zartes helles Braun mit roten Wangen.

Solveig setzt sich jeden Tag mit dem Jungen auf ein Pferd und reitet langsam um den See. Später wird das Tempo schneller.

Sie beginnt mit dem Jungen spielerisch um die Wette zu laufen und mit ihm zu balgen. Sie hebt mit dem Jungen Steine auf und stemmt sie, wie in einem Gewichtshebertraining.

Nachts spannt sie ihren Energiegürtel und entfacht ihr Feuer aus Energie.

Dem Jungen geht es von Tag zu Tag besser. Sie fangen Fische. Sie zünden Feuer an. Sie machen Wanderungen zu Fuß.

Nach zwei Wochen reitet der Junge selbständig auf einem der Pferde mit ihnen zurück, so, als wäre er nie krank gewesen.

3.

Der Vater des Kindes hatte bereits einen der Helfer zurückgeschickt, um zu berichten. Als sie jetzt in das schlossartige Anwesen der Familie zurückkehren, werden sie empfangen, wie bei einem Staatsempfang.

Manal, der Clanführer, würde nie vor einer fremden Person knien. Er begrüßt zunächst sein Enkelkind, dreht es mehrfach um die Achse, und als Abay dem Alten lachend Einhalt gebietet, nimmt der Alte Solveigs Hände, und er senkt minutenlang den Kopf. Das ist seine Form der Hochachtung, während die gesamte Sippe in tiefes Schweigen verfällt.

Seine Dankbarkeit zeigt er, indem er Solveig versichert, sie könne alles von ihm haben, was er ihr erfüllen könne.

Solveig hält seine Hände. Er spürt diese Wärme und sie bittet, „lass mich noch drei Wochen hier bleiben. Ich möchte sie mit dem Jungen verbringen und das tun, weshalb ich hierher gekommen bin. Abay kann mir dabei helfen. So habe ich ihn ständig unter Beobachtung.“ Sonst sagt sie nichts. Keine andere Bitte, kein Verlangen nach Geld. Nur die Fürsorge für den Jungen, die Pferde und die Greifvögel. Der Alte ist schwer beeindruckt. In den nächsten Tagen muss er erfahren, dass Solveig das ernst meint, was sie da gesagt hatte: „In unserer Familie gibt es eine lange Tradition“, und sie hatte hinzugefügt. „Freunde helfen Freunden, ohne lange zu fragen. Auch ihr habt in eurem Land so einen Brauch. Wenn ich einmal eure Hilfe brauche, dann werde ich euch darum bitten, aber erst dann. Jetzt aber lasst uns das tun, was wir auch sonst tun. Wir alle haben unsere Arbeit. Wir müssen unsere Familien versorgen.“

Abay scheint völlig genesen zu sein. Solveig kümmert sich um den Jungen, um die Pferde und die Greifvögel. Sie lässt ihn helfen. Sie beobachtet ihn und leitet ihn an. Sie summt das Kind ein und sie wird zur „Tante“ für den Jungen. Sie ist sich sicher, dass Sie hier Freunde fürs Leben gefunden hat.

Sie erhält ihr übliches Honorar und darf sich ein paar dieser struppigen Pferde aussuchen, die man ihr „gratis“ nach Peru schicken wird. Sie stellt keine Forderungen.

Manal hatte sich mit seinen Söhnen beraten. Zum Abschied überreicht er Solveig ein kleines Kästchen. Darin liegt eine Art Siegelring aus Gold.

„Du hast meinem Enkel das Leben wieder geschenkt. Du hast nicht um einen Gefallen und um Dank gebeten, sondern du hast uns weiter deine Hilfe uneingeschränkt zur Verfügung gestellt. Das ist etwas, was nur wenige Menschen wirklich können. Deshalb wollen wir dir etwas von uns geben, das dir einmal das Leben retten kann, wenn du in Not bist. Nimm es bitte von uns an. Wenn du in unseren Ländern unterwegs bist, dann trage diesen Ring. Er ist seit vielen hundert Jahren ein Zeichen unserer Familie. Er kann dir einmal sehr nützlich sein“, bekräftigt der Alte.

Solveig dankt und nickt, ohne den wahren Wert zu kennen, aber sie trägt diesen Ring nun regelmäßig, wie um sich immer wieder daran zu erinnern, dass sie eine Aufgabe hat, eine Vision.

Später sollte Solveig noch erfahren, dass der Ring viel mehr ist, als bloß ein Ring. Er ist das Zeichen einer geheimen Bruderschaft, die Verbindungen in viele Länder hat. Dieser Ring ist etwas Besonderes. Er trägt Zeichen, die Solveig als als einen Führer des Clans auszeichnen und die Inschrift bedeutet in etwa „Mutter der Sippe“. Solveig ist durch diesen Ring zu einer Art Ratgeber geworden, der bei wichtigen Entscheidungen hinzuzuziehen ist.

Was Solveig zu diesem Zeitpunkt auch nicht wusste, der Ring ist zwar eine Kopie, und es gibt mehrere Träger dieses Rings, aber das Original ist seit fast 1.000 Jahren in der Sippe dieses Clans weitergegeben worden. Solveig hatte die Rolle eines Clanführers erhalten, mehr noch, wie eine Art Königinnenmutter.

Für den Jungen Abay ist Solveig ab dieser Zeit so etwas wie eine ehrenwerte Tante. Manchmal ruft er sie auf dem Handy an, oder auch über das Tablet. Das sind sehr teure Gespräche, rund um den Globus. Manchmal braucht Abay den Rat von Tante Solveig und Solveig ist stets für Abay da, wenn er sie wirklich braucht.

Abay ist der Liebling seines Großvaters Manal. Vielleicht war diese Auszeichnung deshalb. Wer will das schon so genau wissen. Zumindest ist es sehr ungewöhnlich, dass ein solcher Ring an Außenstehende gegeben wird. Offenbar hatte Manal in Solveig mehr gesehen, als nur eine Schamanin. Die Zukunft wird zeigen, dass Manal sehr weise gehandelt hatte.