Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen

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Von Mummenschanz und mariniertem Textsalat

Kommen wir nun zu den Anwendungen, die ja den Olymp des kompetenzorientierten Mathematikunterrichts darstellen. Die breite Palette der Anforderungen, welche die Vertreter dieser Entwicklung festzustellen glauben, sieht im konkreten Fall der Hamburger Aufgaben zu den immer beliebter werdenden Übergangsmatrizen – damit lassen sich Übergangsquoten bestimmen – so aus, dass der Inhalt dieser Aufgaben über die Jahre 2007 – 2013 weitgehend konstant blieb und daher gut vorhersehbar war, aber beim Text immer neue Geschichten zu irgendwelchen Tierarten zur Dekoration erfunden werden: 2007 Fischzucht, 2008 Schwarzwild, 2009 Kastanien-Miniermotten, 2010 Silberfischchen, 2011 Landschafe, 2012 Kapuzineraffen, 2013 Pinguine.5 Biologische Anwendungsbezüge werden hier mehr als künstlich herbeigeführt und haben mit der Realität nichts oder nur wenig zu tun. So erhält der Schüler im einführenden Text zu den »Kapuzineraffen« die Information, dass dies gesellige Tiere seien, die in Gruppen zusammenlebten. Eine Unterart lebt in Mittel- und Südamerika und ist durch Rodungen in ihrer Art bedroht. Eine Forschergruppe untersucht die Population mit vergleichbaren anderen Populationen in anderen Gebieten. In der Aufgabe sollen die weiblichen Tiere dieser Art betrachtet werden, die in vier Altersklassen eingeteilt werden. Die Entwicklung der Tiere wird dann in einer Matrix dargestellt. Genau wie bei allen anderen Aufgaben ist der gesamte Text für die Lösung der Aufgaben völlig belanglos. Anscheinend soll hier eine Art Umwelt- oder Naturschutzkompetenz vermittelt werden, indem auf die Verdrängung bestimmter Tierarten aufmerksam gemacht wird. Für die Lösung der Aufgabe benötigt man weder Modellierungs- noch Problemlösungskompetenz. Auch Biologen würden niemals bei der Erfassung von Arten und deren Vorkommen in bestimmten Gegenden derartige Rechnungen durchführen, die zudem in den weiteren Teilfragen spekulativen Charakter besitzen und nichts mit der tatsächlichen Populationsentwicklung der Kapuzineraffen zu tun haben.

Die stereotypen Übergangsmatrizen tauchen auch im Leistungskurs bzw. im Kurs auf erhöhtem Niveau mit konstanter Boshaftigkeit in den nachfolgenden Jahren auf: 2007 Mäuse, 2008 Insekten, 2009 Geckos, 2010 Hühner, 2011 Lachse, 2012 Straßenkatzen, 2013 Pinguine. In der »Straßenkatzen«-Aufgabe geht es um die unkontrollierte Vermehrung von Straßenkatzen. Die mathematische Modellierung wird im Erwartungshorizont wie folgt beschrieben: Schon in nur zwei Jahren ist die Population sehr stark angewachsen. Sie wird langfristig gesehen höchstens so lange weiter wachsen, bis die biologische Grenze der Nahrungsverfügbarkeit erreicht ist. Spätestens dann verändern sich die Überlebensraten, und das Wachstum hört auf. (…) Jede andere schlüssige Darstellung der Entwicklung ist als richtig zu bewerten.6 Der die Analyse durchführende Fachmathematiker Wolfgang Kühnel kommentierte dies so: »Das ist gar keine Mathematik mehr, sondern eher ein Beitrag zum Thema ›Verdrängung der Fachinhalte aus dem Abitur‹. Die folgende Lösung konnte man offenbar auch anbieten: Die Zahl kann nicht beliebig groß werden, weil die Behörden dagegen einschreiten müssten.«7

Letztendlich findet hier auch keine wirkliche Kompetenzmodellierung statt, sondern die eingeübte Vorgehensweise wird auf ein anderes Beispiel übertragen. Allen Fachmathematikern kann man nur empfehlen, sich diese Aufgaben genauer anzusehen, denn auf den ersten Blick wirken sie eher anspruchsvoll. Bei näherer Betrachtung hat man den Eindruck, dass die Schwierigkeit erst einmal darin besteht, die Aufgabe auf ihren mathematischen Kern hin von den teilweise recht umständlich formulierten Textpassagen zu befreien, in denen das Kompetenzniveau anscheinend um so höher angesiedelt ist, je komplizierter der Text formuliert ist. Das rein mathematische Anforderungsniveau bewegt sich dann eher auf bescheidenem Niveau. Umständliche Texte, die teilweise in keinem Zusammenhang mit der Aufgabenstellung stehen, und viel zu umfangreiche Fragestellungen weisen nach, dass der Schüler hier nicht nachdenken soll, sondern wie ein Börsenmakler schnellste Entscheidungen innerhalb kürzester Zeit treffen muss. Dies war schon bei der fachlichen Analyse der TIMSS-Aufgaben negativ aufgefallen.8

Neueste Analysen der 2016 geschriebenen Zentralabiturarbeiten in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen bestätigen diesen Trend. Schon 2014 hatte ein Autorenteam eine Untersuchung ausgewählter Hamburger Zentralabituraufgaben im Fach Mathematik von 2005 bis 2015 durchgeführt.9 Während 2005 der fachliche Anspruch höher und die beigestellten Texte deutlich geringer waren, hat sich dies im Zuge der Einführung kompetenzorientierter und alltagsbezogener Modellierungsaufgaben genau umgedreht. Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen sind bei den klassischen Aufgaben ohne viel Text geblieben, dafür aber mit mehr Mathematik. Nun wollte man sich in den Ministerien nicht weiter den Vorwurf gefallen lassen, man stelle zu leichte Aufgaben. Da die mathematischen Vorgaben für die Abiturprüfung aber schon weitgehend entrümpelt sind, hat man die Anzahl der Teilaufgaben in einer Zentralabituraufgabe mit noch mehr Text erhöht. Jetzt kann niemand mehr behaupten, die Aufgaben seien zu einfach gewesen. Wie die 2016 geschriebenen Zentralabiturarbeiten in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen im Fach Mathematik deutlich zeigen, wurde Qualität in der Tat durch Quantität ersetzt. Um alle Teilaufgaben lösen zu können, hatten die Schüler nicht mehr als zehn Minuten Zeit für die Bearbeitung jeder einzelnen Aufgabe. Die Mathematikaufgaben in Niedersachsen von 2016 waren vom fachlichen Anspruch her keinesfalls zu schwer, wie in Teilen der Presse direkt nach der Abiturprüfung wegen massiver Proteste der Abiturienten behauptet wurde.10 Die den Schülern vorgelegten Textaufgaben sind nichts anderes als der völlig unsinnige Versuch, »in der verschrobenen Sprache der Schulmathematik formulierte ›Sachzusammenhänge‹ in Matrizen und Gleichungen zu übersetzen. Und den Rest den Rechner erledigen zu lassen. Und die Ergebnisse abzulesen und abzuschreiben. Wie heißt es doch in ›A Mathematician’s Lament‹ (von Paul Lockhart): ›Mathematics is the music of reason.‹ In dem niedersächsischen Abitur ist es jedoch die Kakophonie stumpfer Befehle«, so Mathematiker, die gerade die Aufgaben analysiert haben.11

Selbst in Mathematik gute Schüler sind entsetzt über einen derartigen Schwachsinn und wissen oft selbst nicht genau, was von ihnen eigentlich erwartet wird. »Während die Aufgaben in Mecklenburg-Vorpommern noch unkostümiert und schlicht formuliert daherkommen, ist Niedersachsen Spitzenreiter bei Mummenschanz und manieriertem Textsalat. Das Ministerium und sein ›Landesinstitut für Qualitätssicherung‹ (NLQ) haben seit mindestens zehn Jahren nichts dazugelernt und verweigern standhaft ein Vermummungsverbot für Mathematikaufgaben.«12 Genau dieser Mummenschanz war die Ursache für die zu Recht vorgetragenen Beschwerden der Schüler, die nun vom Niedersächsischen Kultusministerium die Noten nachträglich verbessert bekommen haben.13 Als »Von allen guten Geistern verlassen« bezeichnen Fachmathematiker mittlerweile diesen mathematischen Kostümkarneval.14

Dieser im Rahmen des deutschen Kompetenzwahns auf den Weg gebrachte Karneval mit seinen oftmals grotesken und albernen »angewandten Textaufgaben« erfährt jetzt selbst von höchster Stelle der OECD und des PISA-Konsortiums massive Kritik. Andreas Schleicher scheint eine Kehrtwendung gemacht zu haben und entdeckt plötzlich einen »ungünstigen mathematischen Unterricht« – und meint damit die Textaufgaben. Die vor allem den Schulen im deutschsprachigen Raum übergestülpten anwendungsorientierten Lesekompetenzaufgaben hätten sich als kontraproduktiv herausgestellt, das konzeptuale Verständnis beispielsweise in Mathematik habe darunter gelitten. Die neue Art des Mathematikunterrichts benachteilige zudem sozial Schwache: »Deutschland ist ein gutes Beispiel, dass Schüler aus sozial ungünstigem Umfeld so unterrichtet werden, wie es ihnen letztlich im Leben weniger bringt. Da wird also mehr in einfachen mathematischen Kontexten und Textaufgaben gearbeitet, in angewandten Zusammenhängen. Und insofern werden die Schüler aus ungünstigem sozialen Umfeld doppelt benachteiligt. Zum einen haben sie das Gepäck des sozialen Umfelds, zum anderen leiden sie unter ungünstigem mathematischen Unterricht.«15

Kein Wunder, dass mögliche mathematikbegabte Migranten durch die verschwurbelt formulierten und teilweise unsinnigen und krampfhaft herbeigezogenen Anwendungsbezüge in ihrer Entfaltung massiv behindert werden und dass auch immer mehr Kinder die Lust an einem derartigen Mathematikunterricht trotz höherer Stundenkontingente zunehmend verlieren.16

Auch die 2016 in Nordrhein-Westfalen geschriebenen Mathematikaufgaben im Leistungskurs scheinen nicht gerade den höchsten Schwierigkeitsgrad gehabt zu haben. An zwei zufällig ausgesuchten Gymnasien war an einem die schlechteste Note ein »Befriedigend plus«, an einer anderen Schule gab es zwölf Mal die Note »Sehr gut« bei einem Gesamtschnitt von 1,7. Dies ist nicht weiter verwunderlich, wenn man sich die Aufgaben einmal näher ansieht. Als Paradebeispiel mag eine künstlich eingekleidete Aufgabe in der Analysis namens HT2 gelten:17 Die Profillinie der Dachoberkante hat eine geschwungene Form, die im Folgenden durch eine ganzrationale Funktion modelliert wird. Die Abbildung zeigt das Eingangsgebäude der U-Bahn-Haltestelle Dortmund Möllerbrücke. In der Abbildung werden Objekte des Raumes, die in der Realität gerade nicht in einer Ebene liegen, eben dargestellt, was in der Aufgabe selbst völlig ignoriert wird. Entsprechend liegt in der Realität ein in der Aufgabenstellung angegebener Punkt P der »Abbildungsebene« überhaupt nicht in dieser. Weiterhin wird ein Stahlseil durch den Punkt P betrachtet, das in der Realität auch nicht in der »Abbildungsebene« liegt. Insofern ist dieser Aufgabenteil sowohl im Grund- als auch im Leistungskurs nicht lösbar. In der Realität ragt das Dach vorn über die Glasfront des Gebäudes hinaus. Daher ergeben Flächenberechnungen in der vorliegenden Form keinen Sinn. Auch hier werden nur Routineverfahren eingeübt, ohne einen tatsächlichen Bezug zur Realität zu haben.

 

Laut der aktuellen Analyse, an der auch Fachlehrer beteiligt waren, benötigt man im Grundkurs nur für zwei Teilaufgaben mathematische Grundlagen aus der Qualifikationsphase. Alle übrigen Aufgabenteile lassen sich mit Kenntnissen der Sekundarstufe I und der Einführungsphase lösen. Ein Prüfling kann dabei ohne Kenntnisse aus der Qualifikationsphase 78 Prozent der Gesamtpunktzahl und damit die Note »Gut« erreichen. Im Leistungskurs könnte man immerhin 52 Prozent der Gesamtpunktzahl ohne Kenntnisse aus der Qualifikationsphase und damit ein »Ausreichend« erreichen. Fazit: »Bei derartigen kompetenzmodellierten Aufgabenstellungen werden Anwendungen an den Haaren herbeigezogen, die auch in variierter Form keinerlei Anwendung hätten. In der Vorbereitung solcher Aufgaben lernen Schüler komplett nutzloses Zeug mit billigstem mathematischem Gehalt. Das braucht man später weder im täglichen Leben noch im Studium oder Beruf«, so der an den Analysen beteiligte Fachdezernent. Danach war es in den letzten Jahren im Bereich der Analysis (Differential- und Integralrechnung) immer möglich, allein mit Kenntnissen über ganzrationale Funktionen (Polynome, beispielsweise 3x3 + 4x2 + 2x +5) und ihre Ableitungen und Stammfunktionen die gestellten Aufgaben des oben genannten Typs HT2 entsprechend dem Erwartungshorizont vollständig zu bearbeiten. Kenntnise über weitere Funktionen waren dafür nicht erforderlich. Für eine weitere sowohl im Grund- als auch im Leistungskurs zu bearbeitende Aufgabe benötigte man lediglich zusätzliche Kenntnisse über die natürliche Exponentialfunktion (eine mathematische Funktion, bei der die Veränderliche x als Exponent auftritt und die Basis die Eulersche Zahl e ist, f(x) = ex) in Kombination mit Polynomen.

Vergleicht man das fachliche Niveau dieser Aufgaben aus Nordrhein-Westfalen mit dem aus Bayern, so müssen hier die Prüflinge mit einem deutlich größeren Vorrat an Funktionen umgehen können (gebrochenrationale Funktionen, natürliche Logarithmusfunktion, Sinusfunktion) und auch die Anwendung weiterer Regeln der Differentiation (Quotientenregel) sowie Kenntnisse über anspruchsvolle parameterabhängige Funktionen nachweisen können. »Mit den Kenntnissen aus Nordrhein-Westfalen hätten auch gute Schüler Probleme, die Mathematikprüfung im Zentralabitur in Bayern zu bestehen, von einer guten Note ganz zu schweigen«, so die weitere Analyse eines Fachlehrers.

Schaut man sich die bayerischen Zentralabituraufgaben im Fach Mathematik im Längsschnitt an, so gab es 2007 noch den Unterschied zwischen Grund- und Leistungskurs im neunjährigen Schulverlauf (G9). Ab 2012 gibt es in Bayern in dem um ein Jahr gekürzten G8 für alle Schüler nur noch ein Niveau, das mit jeweils vier Wochenstunden unterrichtet wird. Aktuelle Analysen zeigen, dass die Aufgaben des Leistungskurses von 2007 erheblich schwieriger waren als die Aufgaben von 2016 auf dem einheitlichen Niveau. Umgekehrt waren die Grundkursaufgaben von 2007 einfacher als die Aufgaben von 2016. Dennoch könnte die Grundkursaufgabe aus Bayern von 2007 in Nordrhein-Westfalen 2017 schon allein aufgrund des dortigen neuen Kernlehrplans und der unterschiedlichen Anforderungen nicht einmal in einem Leistungskurs gestellt werden. Ein an der Analyse beteiligter Kollege meinte dazu trocken: »Selbst die Abi-Aufgaben von 2016 aus Bayern würden in Nordrhein-Westfalen die Intensivstationen während der Abi-Prüfung komplett lahmlegen«. Und diese Aussage trifft längst nicht nur auf Nordrhein-Westfalen zu, wie neuere Analysen eindeutig belegen.

Darüber hinaus ist es in den letzten Jahren in allen Bundesländern zu einem kontinuierlichen Niveauabfall vor allem in den Leistungskursen gekommen. Hatten diese noch in den achtziger Jahren einen Stundenumfang von sechs Stunden pro Woche, wurden sie bereits in den neunziger Jahren auf fünf Stunden pro Woche zurückgefahren. In den letzten Jahren sind viele Bundesländer dazu übergegangen, die Leistungskurse auf vier Stunden zu kürzen oder ganz abzuschaffen. Gegenüber den Grundkursen, die immer schon mit drei Stunden pro Woche zu Buche schlugen, macht dies gerade mal noch eine Stunde Unterricht pro Woche mehr aus. Einige Bundesländer haben auch die Grundkurse auf zwei Wochenstunden gekürzt, wie beispielsweise Thüringen. Was soll da noch halbwegs Anspruchsvolles in einer Doppelstunde pro Woche oder gar zwei Einzelstunden beispielsweise in Mathematik, den Sprachen oder in den Naturwissenschaften unterrichtet werden? Dass hier kaum eine vertiefte wissenschaftsorientierte Vorgehensweise mehr möglich ist, liegt auf der Hand und ist vermutlich politisch so gewollt. Denn Leistung gilt mittlerweile generell als unsozial und zementiert die bestehenden Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. Was das konkret bedeutet, zeigt sich am Beispiel von Hamburg überdeutlich. 2013 existierten beispielsweise in Hamburger Zentralabituraufgaben zulässige Kombinationen von wörtlich gleichen Aufgabenteilen, mit denen die Klausur sowohl auf grundlegendem als auch erhöhtem Niveau (vormals Grund- und Leistungskurse) klar bestanden werden konnte (mit einer nur recht geringen Punktedifferenz). Geradezu absurd dabei ist, dass das Bestehen beim erhöhten Niveau sogar leichter als beim grundlegenden Niveau war, weil man eine Stunde Bearbeitungszeit mehr zur Verfügung hatte.18 Noch bis zur Einführung von Zentralabiturarbeiten hätten Leistungskursarbeiten mit deutlich höherem fachlichen Anspruch und tiefer gehenden fachlichen Anforderungen in den einzelnen Fächern von Grundkursschülern so gut wie gar nicht erfolgreich bearbeitet werden können. Entsprechend heißen die Kurse heute auch in vielen Bundesländern nur noch Kurse auf erhöhtem Niveau. Der Begriff »Leistung« taucht dann auch folgerichtig nicht mehr auf.

Ein Blick auf unseren Nachbarn Österreich bezüglich des Anforderungsniveaus in der seit 2015 erstmals durchgeführten Zentralmatura ist in diesem Zusammenhang lohnenswert. Unsere österreichischen Nachbarn machen oftmals das Richtige, sie warten erst einmal ab, was sich denn beim großen Bruder denn so alles ereignet, und können oftmals Fehlentwicklungen vermeiden. In der neuen Zentralmatura sind sie allerdings mächtig von diesem Weg abgekommen und haben die Absenkung der Ansprüche weiter vorangetrieben. Nach einer neuen vorliegenden Untersuchung der Mathematikaufgaben kann man die Maturaklausur locker bestehen, ohne die gymnasiale Oberstufe besucht zu haben. Für das Erreichen der Note »Befriedigend« genügt es, den Stoff der Klasse fünf bis zehn zu beherrschen. In den mathematischen Grundkompetenzen wird teilweise nicht einmal das Niveau der Mittelstufe erreicht. Die Analyse von Mathematikern konnte nachweisen, dass man lediglich für die Notenstufe »Sehr gut« Differential- und Integralrechnung sowie Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Mittelstufenniveau benötigt.19 Die neuen Aufgaben von 2016 sind entsprechend gestaltet. Eine Aufgabe, die immerhin acht von 48 möglichen Punkten einbringt, besteht nur aus dem Berechnen der Einkommenssteuer mit gestaffelten Steuersätzen zu einem gegebenen Bruttoeinkommen. Dazu muss man nur Prozentrechnung können, ein Taschenrechner war auch zugelassen. Einen weiteren Punkt gab es für das Ankreuzen richtiger oder falscher Aussagen zur Zinsrechnung auf einem Sparbuch, gerechnet werden musste da nichts. Für einen mittleren Schulabschluss oder auch den an einer Berufsschule oder kaufmännischen Schule wäre das durchaus passend. Aber im Abitur? Die benutzten Aufgabenformate entsprechen denen in Deutschland: krampfhaft herangezogene textlastige Anwendungsbeispiele ohne tatsächlichen Realitätsbezug, die auch hier erst einmal auf den mathematischen Kern entkleidet werden müssen, der dann meist über Unter- oder Mittelstufenniveau nicht hinauskommt. Erschwerend kommt auch hier hinzu, dass gerade für Schüler, die nicht Deutsch als Muttersprache erlernt haben, die teilweise unklaren und schwer verständlichen Textpassagen eine unüberbrückbare Schwierigkeit darstellen, während die dahinter stehende Mathematik zumindest in Anteilen von ihnen möglicherweise beherrschbar wäre.

Aber nicht nur im Zentralabitur dreht sich die Abwärtsspirale kontinuierlich weiter. Wie gerade die Prüfungen für den Mittleren Schulabschluss (MSA) in Berlin gezeigt haben, hat die für die Aufgaben verantwortliche Behörde anscheinend überhaupt keine Probleme damit, das Niveau so weit abzusenken, dass es zu einem wahren Aufschrei in vielen Presseorganen ob derartiger indiskutabler Anforderungen gekommen ist. »Lehrer finden Berliner Mathe-Aufgaben ›Pillepalle‹«, titulierte der »Tagesspiegel« nach Bekanntgabe der Aufgaben.20

Um hier eine vergleichbare Einschätzung eines möglichen Niveauverfalls aufgrund von Fakten vorlegen zu können, wurde von dem Fachmathematiker- und Fachlehrerkreis, der auch an den Analysen der Zentralabiturarbeiten maßgeblich beteiligt ist, ein Vergleich der mathematischen Prüfungsaufgaben zum Realschulabschluss von 1971 in Baden-Württemberg21 und dem MSA in Berlin von 2016 durchgeführt, der zu folgender Bewertung führte: 1971 war deutlich mehr an mathematischen Kenntnissen gefordert, beispielsweise arithmetische Folgen und Reihen, in der Geometrie sowohl der Sinussatz wie der Kosinussatz für ebene Dreiecke sowie Volumina verschiedener dreidimensionaler Körper. 1974 kamen auch geometrische Folgen sowie Logarithmen vor. Bis 1976 befanden sich die Prüfungen auf einem ähnlichen Niveau. Die genannten Themen sind heutzutage selbst am Gymnasium entweder gestrichen (Sinussatz, Kosinussatz) oder nur noch bei erhöhtem Niveau vorhanden. »In welcher Weise der Sinussatz und der Kosinussatz eingehen, sieht man an der Musterlösung der Aufgaben von 1971.22 Die am ehesten vergleichbare geometrische Aufgabe 7 aus der MSA-Prüfung aus Berlin von 2016 erfordert zur Lösung dagegen nur den Satz des Pythagoras und die Tangensfunktion als solche durch Ablesen vom Taschenrechner«, so der Mathematiker Wolfgang Kühnel. »1971 war es allerdings noch nicht üblich, mit elementaren Wahrscheinlichkeiten zu rechnen. Die entsprechende Aufgabe zum ›Gewinnspiel‹ von 2016 ist allerdings mehr als harmlos. Man muss nur die ›günstigen‹ Ereignisse in Beziehung zur Zahl aller Ereignisse setzen, etwa wie beim Würfeln: Von 800 Losen gewinnt genau eines den Hauptpreis und sieben andere einen Trostpreis.«

Einige der Aufgaben aus Berlin befinden sich auf Grundschulniveau und führten zu öffentlichem Ärgernis nach Bekanntgabe der Aufgaben. In einer Aufgabe sollen die Schüler aus den Zahlen zwei, drei und sechs die größtmögliche dreistellige Zahl bilden. In weiteren Aufgaben reichte es aus, wenn man bei zwei vorgezeichneten Graphen erkannte, ob diese aufsteigend oder absteigend waren, oder aus vorgezeichneten Diagrammen nur die klar erkennbaren angegebenen Zahlenwerte herausschrieb. Einen weiteren Punkt erreichte man für die Umrechnung von sieben Fuß in Meter. Dazu durfte der Taschenrechner eingesetzt werden, und der Umrechnungsfaktor »1 Fuß = 0,305 m« war direkt darüber angegeben. Das sollten auch Fünftklässler zweifelsfrei erkennen können. Anscheinend traut man das diesen aber nicht mehr zu.

1971 hätte sich niemand getraut, derart läppische Aufgaben überhaupt zu stellen. Für den erweiterten Hauptschul- und den Realschulabschluss wird heutzutage die gleiche Klausur geschrieben, mit einem Punkterabatt für den ersteren (40 statt 60 Punkte). Auch Gymnasiasten schreiben diese Prüfung mit, da sie zuerst einmal den MSA erwerben müssen. Dies zeigt auch den Verfall des Niveaus am Gymnasium. »Man wird darüber spotten: Für wie doof halten die uns eigentlich?« so Wolfgang Kühnel. »Man kann vermuten, dass heutzutage die meisten Realschüler an der Klausur von 1971 scheitern würden und dass auch Abiturienten in den meisten Bundesländern die allergrößte Mühe mit den Realschulaufgaben von 1971 hätten und weitgehend daran scheitern würden, weil sie z. B. den Sinussatz nicht kennen. Die dort verlangten Rechnungen, bei denen man eine Gleichung selbst mit einer Variablen aufstellen muss, kommen im Lehrplan nicht mehr vor, weil die Modellierung einem die Funktion ja immer schon mitliefert«, so Wolfgang Kühnel weiter.

 

Ein an den Mathematikanalysen beteiligter Fachlehrer aus Baden-Württemberg führte ein kleines Experiment in seiner neunten Klasse durch, indem er diese die ersten beiden Seiten der Berliner MSA-Prüfung bearbeiten ließ. »Das Ergebnis war mit einem Schnitt von 7.2 von zehn Punkten bescheiden«, berichtet der Lehrer. Allerdings habe er seinen Schülern nur fünf Minuten Zeit gegeben, und es sei schwierig gewesen, die Klasse bei anhaltendem Gelächter und Gejohle ruhig zu halten, was die langsameren dann noch einmal ausgebremst habe. »Wenn man sich auf die Prüfung auch noch vorbereiten darf, ist sie in der Tat eher für die Klasse 7 geeignet«, so die fachliche Einschätzung des Fachlehrers. Auch der Vorsitzende des Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, wies das Niveau der Prüfung der Jahrgangsstufe sieben zu.23

Die Realschüler von 1971 dagegen dürften die heutigen Aufgaben ohne Probleme lösen können (abgesehen von der Wahrscheinlichkeitsaufgabe Nr. 5), weil sie wesentlich anspruchsvollere Aufgaben seinerzeit zu bearbeiten hatten. Während die alten Aufgaben von 1971 meist mehrschrittig waren und Ideen zur Herangehensweise verlangten, ist jede Berliner Teilaufgabe nur ein- oder zweischrittig. »Nach dem Hamburger Bildungsplan würde das schon das abiturielle Niveau III überschreiten«, so der Hamburger Mathematiker Hans-Jürgen Bandelt. Auf völliges Unverständnis traf die Bewertung der Aufgabe 6d mit dem Attribut »anspruchsvoll«. Die Aufgabe lautet: In der Jugendherberge gibt es Drei-Bett-Zimmer und Fünf-Bett-Zimmer. Es stehen 16 Zimmer mit insgesamt 66 Betten zur Verfügung. Ermitteln Sie die Anzahl der Drei-Bett-Zimmer und der Fünf-Bett-Zimmer.24

»Dies ist eine Aufgabe für Viertklässler, die schon Dividieren mit Rest beherrschen. Wenn man 66 durch 16 teilt, erhält man vier Betten pro Zimmer im Mittel und den Rest zwei; zwei Betten stehen also noch herum. Bis auf diese zwei Betten kommt also auf jeden Dreierraum ein Fünferraum, also je acht Zimmer jeder Sorte. Die zwei übrig gebliebenen Betten kommen nun in einen bisherigen Dreierraum, und alles ist gut … Das ist gesunder Menschenverstand (GMV), ohne Kalkültralala. Außerdem könnte jemand einfach zwei-, dreimal probieren, und dann findet er die Darstellung 7 mal 3 plus 9 mal 5 gleich 66. Die Probe ist die Ermittlung. Wenn die Aufgabensteller etwas anderes mit ihrem Operator Ermittle jenseits des GMV meinten (à la ›Stelle ein Gleichungssystem dafür auf und löse es‹), dann hätten sie das schreiben müssen. Das ist Verarschung: Für wie dämlich wird heute ein 16-/17-Jähriger gehalten? Und wenn er es tatsächlich ist, was hat die Schule mit ihm die ganzen zehn Jahre angestellt? Die ›66 Betten‹ von Berlin sind also schlechtes Kino, dagegen waren die ›39 Stufen‹ von Hitchcock große Unterhaltung«, so der Kollege Hans-Jürgen Bandelt. Die Mathematikerin Astrid Baumann von der FH Darmstadt meinte, dass sie die 66 Betten von Berlin noch bis zu ihrer Pensionierung im Traum verfolgen würden.

Wolfgang Kühnel betont ausdrücklich, dass der Vergleich der Aufgaben von 1971 aus Baden-Württemberg mit denen aus Berlin von 2016 »kein nostalgischer Rückblick der Art, ›früher war alles besser‹, von ›ewiggestrigen Leuten‹« sei, »sondern er basiert auf konkreten Mathematikaufgaben und damit objektiven Daten. Der Verfall des Niveaus in jüngster Zeit ist nicht zufällig und wurde auch nicht durch äußere Umstände erzwungen, sondern er ist politisch gewollt und wird sogar noch von namhaften Didaktikern für richtig erklärt.«25

Ein anderer Kernsatz aus dem Interview betrifft die Rechtfertigung des Einsatzes von Taschenrechnern: »Um einen Taschenrechner zu bedienen, muss man Mathe können.« Die Bewertung dieser Aussage sollte dem Leser dieser Zeilen überlassen bleiben.

Der Teil der Fachdidaktik, der diese für jeden sichtbare Nivellierung der Ansprüche mitträgt oder gar mit auf den Weg bringt, ist mitverantwortlich für diese inakzeptable Entwicklung, weil nicht einmal mehr versucht wird, Schüler auf einem akzeptablen fachlichen Niveau zu unterrichten und damit auf Beruf oder Studium angemessen vorzubereiten. Der von der Berliner Behörde beschrittene Weg, die hohe Zahl an Kindern, die ohne Abschluss die Schule verlassen, durch offensichtliche Niveauabsenkungen deutlich zu reduzieren, ist jedenfalls grob fahrlässig und dürfte vor allem den Betroffenen nicht weiterhelfen, vom Unmut potentieller Arbeitgeber oder dem der Hochschulen ganz zu schweigen.

Ein Hauch von Woodstock

Reichen all diese Maßnahmen für den Nachweis zufriedenstellender Leistungen nicht aus, zaubert man als neueste Errungenschaft die Präsentationsprüfung aus der schier unerschöpflichen Trickkiste der Reformer. In den letzten Jahren wurde diese Prüfungsform zusätzlich zu den bereits bestehenden in mehreren Bundesländern eingeführt. So müssen beispielsweise in Hamburg Schüler verpflichtend eine eben solche als viertes Abiturfach absolvieren, während sie in Hessen als zusätzliches Abiturfach gewählt werden kann. Mit der Einführung der Profiloberstufe ist es in Hamburg sogar für jeden Schüler verpflichtend, pro Schuljahr eine Präsentationsleistung als Klausurersatzleistung einzubringen. Auch darf der Schüler darüber hinaus in zweistündigen Fächern die eine vorgeschriebene Klausur pro Semester durch eine Präsentationsleistung ersetzen. Dies wird als weitere große Errungenschaft kompetenzorientierter individueller Prüfungsverfahren gewertet, schließlich könne man nicht von jedem Schüler das gleiche verlangen. Besondere Bedeutung wird dabei den überfachlichen Kompetenzen einer Präsentationsleistung zugewiesen. Selbstkompetenz – was immer das beinhalten mag –, soziale und lernmethodische Kompetenzen sollen die Schüler dazu befähigen, den Bildungsgang auch an einer Hochschule erfolgreich fortsetzen zu können. Die Präsentationsprüfung wird daher als eine der Kernkompetenzen des Selbstorganisierten Lernens ausgewiesen, die eine eigenständige Durchdringung der Inhalte dem Schüler abverlangen soll. Ein Blick hinter die Kulissen dieser Präsentationsprüfungen erweist sich als aufschlussreich.

Der Schüler kann das Fach für die Präsentationsprüfung in Absprache mit seinen Lehrern selbst aussuchen. Sollte man nun erwarten, dass Fächer wie Biologie oder die klassischen »Nebenfächer« bevorzugt gewählt würden, ist man zumindest auf den ersten Blick doch sehr erstaunt, dass Mathematik sich bei den Schülern – ganz im Gegensatz zum alltäglichen Unterricht – immer größerer Beliebtheit erfreut. Integral- und Differentialrechnungen als PowerPoint-Präsentationen? Die Ursachenforschung für diese Wahl führt nun zu verblüffenden Erkenntnissen. Nicht die guten oder sehr guten Schüler wählen Mathematik als Präsentationsfach, wie man es vielleicht hätte erwarten können. Nein, es sind die Schüler, die in Mathematik schon während der gesamten Qualifikationsphase kaum ausreichende, meist nur mangelhafte oder ungenügende Leistungen nachweisen konnten. Wie ist das möglich? Welcher tiefere Sinn steckt dahinter? Wie läuft die Prüfung ab?

Auch die Schüler selbst waren zu Beginn von der ihnen angebotenen Alternative überrascht, wissen aber mittlerweile genau, wie der Hase in solchen Präsentationsprüfungen läuft. Der Schüler erhält dazu in Absprache mit seinem Lehrer erst einmal eine Aufgabe entsprechend den kompetenzorientierten Vorschriften, beispielsweise Matrizen und ihre technische Anwendung. Der Schüler hat nun je nach Bundesland zwischen einer und vier Wochen Zeit, diese Präsentation vorzubereiten. Spätestens hier dürfte jedem klarwerden, wie diese ausgewiesene Form des Selbstorganisierten Lernens, die eine eigenständige Durchdringung der Inhalte dem Schüler abverlangen soll, in der Realität abläuft. Die Eltern, der Nachhilfelehrer, der in Mathematik begnadete Mitschüler, der bekannte Mathematiklehrer oder gar Professor erstellen gemeinsam mit dem Schüler diese Präsentation, und der Präsentierende wird auf das Thema konditioniert. Mittlerweile bieten Ghostwriter im Internet längst Präsentationen für jedes gewünschte Thema gegen kleines Geld an. Die Schüler sind natürlich clever und schauen erst einmal in ihren Facebook- oder Internetforen nach, ob sich nicht jemand ihrer annimmt und aus der Patsche hilft. Da wird der alte Song von Lennon/McCartney wieder höchst aktuell, mit dem Joe Cocker einst in Woodstock zu Weltruhm gelangte. Mindestens drei Schlüsselkompetenzen werden mit »With A Little Help From My Friends« erfasst: Gruppenarbeit, Teamwork, Internetrecherche. Entsprechend hat die Lösungssuche im Netz heutzutage Hochkonjunktur.26

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