Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen

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Betrachten wir nun die Aufgabe aus Mecklenburg-Vorpommern genauer. In der ersten Teilaufgabe muss der Schüler eine Pflanzenzelle zeichnen und mindestens sechs Zellbestandteile beschriften. Dazu erhält der Schüler kein Informationsmaterial. Entweder der Schüler kennt eine Pflanzenzelle und deren Bestandteile, oder er muss passen. Diese als Einstieg einzubringende Leistung entspricht dem korrekt angegebenen Anforderungsbereich I. In Teilaufgabe 2 wird vom Schüler eine Analyse einer Grafik verlangt, aus der ersichtlich ist, dass aufgrund der Sonneneinstrahlung und Temperaturerhöhung die Algenproduktion in den Sommermonaten höher ist. Er muss wissen oder aus dem Material schließen, dass Phosphate und Nitrate die dafür verantwortlichen Pflanzennährstoffe sind. Dies bekommt er keineswegs im Text vorgegeben. In Teilaufgabe 3 wird vom Schüler erwartet, dass er mindestens zwei ökologische Folgen benennt, die sich aus der Massenentwicklung von Algen ergeben. Informationsmaterial dazu, aus dem er die Antworten entnehmen könnte, gibt es wiederum keins. Teilaufgabe 4 hat nun allerhöchstes fachliches Niveau, und es ist mit einiger Sicherheit davon auszugehen, dass diese Frage in mindestens zehn von 15 Bundesländern von den dortigen Schülern nicht mehr beantwortet werden kann, weil derart grundlegende Fachinhalte aus dem Themenkanon sowohl der Qualifikationsstufe als auch aus dem Zentralabitur längst verbannt worden sind.



Der Schüler erhält im Material Experimente zum Ablauf der Photosynthese einer Algensuspension. Um die Aufgabe ohne irgendwelche Informationsvorgaben entsprechend dem Erwartungshorizont lösen zu können,

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 muss der Schüler die biochemischen und molekularbiologischen Grundlagen der Photosynthese mit der Kopplung von lichtabhängigen und lichtunabhängigen Reaktionen komplett präsent und verstanden haben, ansonsten ist eine Anwendung auf die konkreten Versuche und deren Deutung nicht möglich. Hier sind zusätzlich prozessbezogene Kompetenzen auf der Basis von Fachinhalten zu erbringen.



Auch in Hessen gibt es den Themenbereich »Ökologie und Stoffwechselbiologie«, wodurch in jedem Fall ein anderes fachliches Niveau erreicht wird. Reine Populationsökologieaufgaben kommen auch dort nicht vor. Außerdem muss der Schüler zumindest in den ersten meist materialunabhängigen Teilfragen nachweisen, dass er fundierte Kenntnisse zum Thema als Wissensgrundlage mitbringt. Schaut man sich eine Aufgabe des Jahres 2015 aus diesem Bereich zum Thema »Stoffkreisläufe in mikrobiellen Matten« einmal näher an, lautet die erste Aufgabe:

Beschreiben Sie den Ablauf der lichtabhängigen (nichtzyklischen) Reaktionen der Fotosynthese grüner Pflanzen

. Das

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 muss man wissen. Dazu gibt es kein Informationsmaterial. Da die weiteren Teilaufgaben sich weiterführend mit diesem Thema beschäftigen, ist der Nachweis von grundlegendem Fachwissen vonnöten. Auch der vom Schüler eingeforderte Vergleich mit den Stoffwechselvorgängen bei farblosen Schwefelbakterien weist fachlich ein hohes Anforderungsniveau auf und könnte niemals von Neuntklässlern bearbeitet werden.



Nicht nur in Hamburg, Berlin, Brandenburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen sind derartige Aufgabenstellungen mittlerweile unbekannt, da es dort nicht erlaubt ist, materialungebundenes Fachwissen beim Schüler vorauszusetzen. Der Einsatz der Aufgaben aus Mecklenburg-Vorpommern würde in diesen Ländern sofort den Sturm der Kultusministerien nach sich ziehen. Nicht, dass die Schüler in diesen Bundesländern weniger intelligent sind oder weniger können, man traut es ihnen nicht einmal mehr zu. Hohe Abiturquoten, Abiturdurchschnitts- oder -bestnoten oder gar das Bestehen der Prüfung insbesondere in Schulformen außerhalb des Gymnasiums wären unkalkulierbar. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass auch dort noch viele Lehrer die Schüler nach wie vor auf fachlich hohem Niveau unterrichten, wenngleich auch hier seitens der Praktiker Klagen über den von oben vorgegebenen fachlichen Niveauverlust in den letzten Jahren unüberhörbar geworden sind. Selbst Fachdezernenten, die für die Aufgaben letztlich zuständig sind, quittieren aufgrund dieser Nivellierung teilweise entmutigt den Dienst und lassen sich frühzeitig in den Ruhestand vesetzen, um dafür nicht mehr die Verantwortung tragen zu müssen. In diesen Ländern sind dann auch nicht die Lehrer schuld an derartigen Lesekompetenzaufgaben, die sie im Auftrag der vorgeschalteten Behörden erstellen müssen. Sie bekommen von dort strikte Vorgaben gemacht, wie die Aufgaben zu verfassen sind. Für die Erstellung der Aufgaben von 2017 haben gerade die entsprechenden Schulen umfangreiche Kriterien mitgeteilt bekommen, nach denen sich die Aufgabenstellungen zu richten haben. In Nordrhein-Westfalen wird dort explizit vorgeschrieben, dass selbst die reproduktiven Teile des Anforderungsbereichs I – also die fachlichen Grundlagen – keineswegs von den Schülern abverlangt werden dürfen, sondern immer aus dem Informationsmaterial zu erschließen sein müssen:

Die Teilaufgaben haben direkten Materialbezug. Auch Reproduktionsaufgaben müssen sich auf das Material bzw. eine Materialvorgabe beziehen.

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 Immerhin erhalten die Lehrer dort neuerdings den Hinweis, dass Lösungselemente in den Aufgabenstellungen oder Texten vermieden werden sollen.



Auch in Bayern können zell- und stoffwechselbiologische, neuro- und soziobiologische Themen sowie solche zu Genetik und Evolution vorkommen. In einigen Teilfragen tauchen in Bayern zumindest teilweise Sachfragen auf, die dem Material nicht zu entnehmen sind. So lautet beispielsweise eine Teilfrage zum Thema »Honigbienen« aus dem Zentralabitur von 2014 knapp:

Die Honigbienen nutzen Honig als Wintervorrat. Beschreiben Sie ausgehend von Glucose die wichtigsten Schritte des aeroben Stoffabbaus und geben Sie an, wo diese in der Zelle lokalisiert sind.

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 Das muss man wissen, Informationsmaterial gibt es dazu keins. Wie in Mecklenburg-Vorpommern kommt also auch hier eine Kombination von Ökologie und Stoffwechselbiologie mit einem deutlich höheren fachlichen Anspruchsniveau vor. Eine genaue Bewertung des Schwierigkeitsgrades ist leider nicht möglich, da Bayern trotz mehrfacher Bitten die Erwartungshorizonte zu seinen Zentralabituraufgaben nicht zur Verfügung gestellt hat. Wer die Aufgaben im Abitur in Bayern von der Zeit vor oder um die Jahrtausendwende noch kennt, weiß jedoch, dass es seit der Umstellung auf materialgebundene Aufgaben seit 2007 auch hier zu einem deutlichen Rückgang der fachlichen Anforderungen gekommen ist. Die bayerischen Abiturienten erhielten noch in den achtziger und neunziger Jahren zu Recht einen Bonus auf ihre Abiturnote gegenüber allen anderen Bundesländern.



Thüringen verwendet seit Jahren einen materialungebundenen und einen materialgebundenen Teil in der Zentralabiturprüfung und hat ebenfalls die Gebiete Zellbiologie, Stoffwechselbiologie und Neurobiologie regelmäßig mit im Programm. Aufgaben wie

Fertigen Sie eine beschriftete Skizze eines Mitochondriums an. Erläutern Sie an einer Struktur dieses Organells den Zusammenhang zwischen Bau und Funktion

 aus der Abituraufgabe von 2014

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 dürfen in vielen alten Bundesländern ohne zusätzliche Informationsmaterialien so nicht mehr gestellt werden.



Die Aufgaben im Fach Biologie in Mecklenburg-Vorpommern sind nicht nur wegen ihres hohen fachlichen Anspruchs beispielhaft. Sie beinhalten immer auch fachübergreifende Fragestellungen sowie vom Schüler in der Abiturprüfung selbst durchzuführende Experimente, Letztere gibt es auch in Thüringen im Zentralabitur. Diese Art von anspruchsvollen Zentralabiturprüfungen und der dahinter zu vermutende Fachunterricht garantieren die notwendige Kohärenz mit dem Fach Biologie, wie es an der Universität betrieben wird. Lesekompetente Ostereiersuche ist dort unbekannt, und immer mehr Studierende in den ersten Semestern reiben sich verwundert die Augen, wenn sie sich gerade in den Bachelor-Studiengängen zuerst einmal das grundlegende Fachwissen aneignen müssen, das dann auch in den entsprechenden Prüfungen als Basis für ein sinnvolles Studieren nachzuweisen ist. Ganz im Gegensatz zu den beschriebenen Lesekompetenzaufgaben, die einen anderen fachunabhängigen Schwierigkeitsgrad besitzen, indem sie vom Schüler die möglichst schnelle Abarbeitung von bis zu fünf Seiten Material auf fachlich bedenklichem Niveau ähnlich einer Gebrauchsanweisung mit den stets gleichen Routineverfahren abverlangen. Die nachgewiesene Routinekompetenz ist eine reine Methodenkompetenz und benötigt beliebig gegeneinander austauschbare Inhalte nur als Beiwerk. Grundsätzlich trifft diese Entwicklung auch auf alle anderen Fächer zu. Das Fach Geschichte ist besonders davon betroffen.

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Derzeit werden die Zentralabituraufgaben für die Fächer Mathematik und Biologie von sieben Bundesländern analysiert. Daran beteiligt ist eine Gruppe von rund 25 Fachprofessoren und im Fach ausgewiesenen Fachdidaktikern und Fachlehrern, die ohne Forschungsauftrag und Forschungsgelder die Analysen in Eigenregie durchführt, die Ergebnisse könnten ja möglicherweise den eingeschlagenen Bildungsmainstream der Big Player OECD, Bertelsmann Stiftung, EU, BMBF und die empirische Bildungsforschung in Frage stellen. Wieso nur sieben Bundesländer? Man kann es sich schon denken. Eine freundliche Anfrage an alle Kultusministerien der Bundesländer mit der Bitte, die Zentralabituraufgaben und deren Erwartungshorizonte in digitaler Form für wissenschaftliche Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen, ergab in einer ersten Runde, dass nur ein einziges Bundesland bereit war, dieser Bitte direkt nachzukommen (Mecklenburg-Vorpommern). Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat ihren Mitgliedern empfohlen, lediglich die Aufgabenstellungen, nicht aber die Erwartungshorizonte verfügbar zu machen. Das KMK-Schreiben lautet wie folgt:

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Die Ministerien haben sich darauf verständigt, dass sie Ihnen die Abituraufgaben – soweit dies mit vertretbarem Aufwand leistbar und in den Ländern rechtlich zulässig ist – übermitteln werden. Von einer Übermittlung der Erwartungshorizonte und Bewertungshinweise wird dabei abgesehen. Aufgrund von verschiedenen Kontextvariablen in den Ländern kann ein formaler Vergleich dieser Erwartungshorizonte und Bewertungshinweise nicht zu validen Ergebnissen führen. So geben z. B. einige Länder für die Abiturprüfung keine normativen Erwartungshorizonte heraus, sondern Lösungshinweise, die nur eine grundsätzliche Orientierung bieten und die große Breite an Möglichkeiten von Antworten in der Abiturprüfung nicht abbilden können.



Man kann sich leicht vorstellen, dass eine fachliche Analyse der Aufgabenstellung zu keinen validen Ergebnissen führt, wenn man die Erwartungshorizonte nicht kennt. Darüber hinaus scheint Deutschland inzwischen außerordentlich forschungskompetente Kultusminister und Ministerialbeamte zu haben, die offensichtlich in der Lage sind, darüber zu befinden, welche Forschung Sinn ergibt und welche nicht. Das war längst nicht immer so. Einst konnten Professoren einmal selbst entscheiden, woran sie denn forschen wollten, und das war ihr Alleinstellungsmerkmal. Genau deshalb hatte man sie ja seinerzeit zu Professoren berufen.



Nach einem erneuten Schreiben mit Hinweis auf das Informationsfreiheitsgesetz und einem zu befürchtenden Druck durch Teile der Presse haben dann immerhin sechs weitere Kultusministerien eingelenkt, neben den Aufgabenstellungen auch die Erwartungshorizonte zu liefern: Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Thüringen. Die restlichen Bundesländer haben entweder gar nichts (Berlin, Saarland, Bremen, Sachsen) oder nur die Aufgaben geliefert (Bayern, Brandenburg, Niedersachsen). Baden-Württemberg hat nach langem Hin und Her die Aufgaben freundlicherweise in Papierform in einem Riesenpaket – ohne Erwartungshorizonte – zur Verfügung gestellt. Letzteres erleichtert vergleichende Analysen mit ansonsten digitalem Material ganz erheblich. Einige Länder haben sehr kreative Lösungen vorgeschlagen. Für das Bundesland Sachsen wurde folgendes mitgeteilt:

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Die von Ihnen gewünschten Abituraufgaben der Fächer Mathematik, Deutsch, Englisch, Latein, Biologie, Geschichte und Geographie der letzten zehn Jahre können Ihnen in Form von pdf-Dateien zur Verfügung gestellt werden. Dazu ist seitens des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus (SMK) vorgesehen, in einer Nutzungsvereinbarung Nutzungszweck und Personenkreis der Nutzer näher zu bestimmen und die Erstattung notwendiger Auslagen zu vereinbaren. Nach Ihrer Zustimmung können wir Ihnen die gewünschten Aufgaben im Monat September zukommen lassen. Grundlage für die vorgesehene Höhe der Auslagenerstattung ist: 9. Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums der Finanzen über die Bestimmung der Verwaltungsgebühren und Auslagen (Neuntes Sächsisches Kostenverzeichnis – 9. SächsKVZ), Anlage 6 zu § 1 Nr. 4, Schreibauslagen nach § 13 Sächs VwKG, Tarifstelle 2. Ausfertigung und Abschrift in elektronischer Form 2,50 € je Datei. Die Pauschale von 2,50 € bezieht sich auf eine pdf-Datei pro Fach und Anforderungsniveau (Grundkursfach oder Leistungskursfach) in einem Jahr.



Die Bremer Senatorin für Kinder und Bildung bevorzugt eine andere innovative Lösung:

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In Ihrem Schreiben äußern Sie ein Interesse an Lehrerhandreichungen und Erwartungshorizonten und berufen sich gleichzeitig auf das Informationsfreiheitsgesetz. Ich bitte daher, auch um ein Missverständnis auszuschließen, zunächst um Mitteilung, ob ich Ihr Schreiben als Antrag auf Bescheidung gemäß § 7 Absatz 1 Bremer Informationsfreiheitsgesetz (BremIFG) werten soll, und erlaube mir in diesem Zusammenhang den Hinweis, dass ein solcher Bescheid unter Umständen gebührenpflichtig wäre. Falls Sie einen solchen Antrag stellen möchten, würde ich Sie zudem bitten, Ihren Antrag gemäß § 7 Absatz 1 Satz 2 BremIFG hinreichend bestimmt zu fassen, da ich nur so Ihren Antrag sachgerecht bearbeiten kann. Erst wenn Ihr konkretisierter Antrag vorliegt, kann ich im Detail prüfen, ob einem Auskunftsanspruch Ausschlussgründe oder Rechte Dritter (z. B. wegen des Schutzes geistigen Eigentums gemäß § 6 BremIFG) entgegenstehen. Nur der Vollständigkeit halber verweise ich in diesem Zusammenhang bereits jetzt auf § 8 BremIFG, danach ist in jedem Fall bei Beteiligung Dritter diesen Dritten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und eine etwaige dem Antrag auf Informationszugang stattgegebene Entscheidung ist ihnen später auch bekannt zu geben. Erst wenn die Entscheidung dem oder den Dritten gegenüber bestandskräftig geworden ist oder die sofortige Vollziehung angeordnet worden ist und seit der Bekanntgabe der Anordnung zwei Wochen verstrichen sind, könnte dann der Informationszugang gewährt werden.



Selbstverständlich war auch Berlin nicht dazu bereit, die erbetenen Unterlagen für wissenschaftliche Analysen zur Verfügung zu stellen. Man bittet freundlich um Überlassung der bereits geschriebenen Zentralabiturarbeiten und der Lehrerhandreichungen, die für nichts mehr benutzt und auch nicht mehr eingesetzt werden, und scheint in ein Wespennest getreten zu sein. Auch NRW hatte bei der Publikation der Streifenhörnchen-Experimente mit Neuntklässlern mögliche Zitierungen aus dem mit Passwort geschützten Bereich des Ministeriums untersagt, mit dem aufschlussreichen Hinweis, dass man an derartigen Untersuchungen durchaus interessiert sei. Bedingung dafür wäre aber, vorher im Gespräch die Vorgehensweise und vor allem auch die Handhabung der Ergebnisse abzusprechen.

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 Auch das ist nichts Neues, selbsterfüllende Prophezeiungen sind im drittmittelgesteuerten Forschungsbetrieb unter Berücksichtigung der Interessenlage der Auftraggeber auch im Hochschulbereich längst gängige Praxis. Jedenfalls scheint sich die Überlassung von Zentralabiturarbeiten und den Lösungsvorschlägen auf offiziellem Wege noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hinauszuzögern. Das »Handelsblatt« titulierte die generelle Verweigerungshaltung der Bundesländer zur Veröffentlichung ihnen anscheinend unliebsamer Daten zu Recht als »Kartell der Verblödung«. Anscheinend sei es den Politikern egal, wenn man auf das Bildungsniveau von Mexiko zurückfalle, so die Autorin.

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Nach den derzeitigen, noch längst nicht abgeschlossenen Analysen scheint sich eine sicherlich wenig überraschende Tendenz anzuzeigen: Je fachlich anspruchsvoller die Zentralabiturarbeiten, desto geringer die Abiturientenquote in den entsprechenden Bundesländern, wobei berücksichtigt werden muss, dass aufgrund unterschiedlicher Regelungen in den einzelnen Bundesländern die Zentralabituraufgaben nur zwischen 24 und 32 Prozent der gesamten Abiturnote ausmachen. Der deutlich überwiegende Anteil stammt aus den Vornoten der Qualifikationsphase und der mündlichen Abiturprüfung. Ganz offensichtlich scheinen aber auch diese Noten in direkter Korrelation zu den Ergebnissen der Lesekompetenzaufgaben im Zentralabitur von den gleichen Bundesländern ebenfalls auf teilweise deutlich erhöhtem Niveau verteilt zu werden. Betrachtet man die Ergebnisse der Zentralabiturarbeiten im Vergleich zu den Ergebnissen vor ihrer Einführung, stellt man fest, dass die Noten nicht nur im Fach Biologie durchweg besser geworden sind. Die Notenstufe »Ungenügend« wird gar nicht, die Note »Mangelhaft« nur noch in wenigen Ausnahmefällen vergeben (Blackout des Prüflings unter anderen). Den Einser-, Zweier- und Dreierbereich erreichten bereits im Zentralabitur 2009 landesweit an Gymnasien in NRW über 90 Prozent der Schüler, an vielen Gymnasien sind es 100 Prozent, für Gesamtschulen und Gymnasien zusammen immerhin noch 80 Prozent (diese Daten werden in Nordrhein-Westfalen den Schulen im passwortgeschützten Rückmeldungsbereich zur Verfügung gestellt). Die Zahl der Bestnoten in den Zentralabiturarbeiten (14 und 15 Punkte) nimmt dagegen überraschenderweise ab. Eine Befragung von sehr guten Schülern liefert dafür die Erklärung. Sie können einfach nicht glauben, dass die im Arbeitsmaterial bereits vorgegebenen Informationen für die Beantwortung ausreichen. Die sehr guten Schüler wiederholen sie nicht, sondern vermeiden Redundanzen, in der Folge fehlen ihnen Punkte. Eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Thematik verwehrt die Aufgabenstellung oder fließt in die Bewertung aufgrund des genau formulierten Erwartungshorizontes kaum ein. Ein wiederholendes Variieren der Informationen aus den Texten reicht aus, von einem wissenschaftspropädeutischen Anspruch findet sich kaum noch eine Spur. Der kritische Blick in die Aufgaben zeigt eindeutig: Es findet eine Nivellierung der Ansprüche statt, die Scheitern weitgehend ausschließt, aber auch Leistungen nicht mehr herausfordert.




Über Pulsmessungen, Mummenschanz, einen Hauch von Woodstock und sieben Brücken



»Keine Mathematikaufgabe ohne Anwendungsbezug« lautet das Credo der Befürworter lesekompetenzorientierter Aufgabenstellungen. Auch der Mathematikunterricht erfuhr seit PISA eine Umstellung, die weg von reinen Rechenaktionen hin zu einem anwendungsorientierten Unterrichtsansatz führen sollte. Die Leistung des Schülers sollte fortan nicht mehr in der erfolgreichen Bewältigung grundlegender Rechenoperationen liegen, sondern im Verstehen und Modellieren einer kontextbezogenen Fragestellung. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn denn die grundlegenden Rechenarten verstanden und gekonnt sind und der Kontext tatsächlich der Realität entspricht. Entsprechend kam es zu einer deutlichen Veränderung der Aufgabenformate auch im Fach Mathematik mit längeren einleitenden und begleitenden Texten, die sich erheblich von den bis dahin verwendeten eher rein mathematischen Aufgabenstellungen unterscheiden. Diese enthielten zumindest in der obligatorischen Transferfrage ebenfalls einen kleinen Text mit Sachbezug, keinesfalls aber längere Textpassagen mit teilweise vorgegebenen Lösungen, die vom Schüler aus dem Text heraus oder im Taschenrechner zu identifizieren sind. Die neuen Aufgabenformate enthalten dann auch zumindest Teilaufgaben, in denen Lesekompetenz als das entscheidende Kriterium für die vollständige Lösung solcher Aufgaben ausreicht. Rechenaktionen müssen bei solchen Aufgaben keine oder nur relativ einfache durchgeführt werden. Um dies zu veranschaulichen, sei als Beispiel eine Mathematik-Zentralabituraufgabe aus Nordrhein-Westfalen etwas ausführlicher betrachtet. In einer ersten Teilaufgabe geht es dabei um die Pulswerte eines Radsportlers, die während seiner Belastung in einem Graphen aufgezeichnet wurden. Der Schüler erhält dazu folgendes Informationsmaterial, eine Grafik und die Aufgabenstellung:

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Ein Radsportler setzt zur Belastungskontrolle während des Trainings ein Pulsmessgerät ein, das die momentane Herzfrequenz des Sportlers aufzeichnet. Die aus den ermittelten Werten erstellte Herzfrequenzkurve eines 30-minütigen Trainingsabschnitts kann annähernd durch den Graphen der Funktion f (siehe Abbildung) mit f(t) = 0,03 ∙ t

3

− 1,5 ∙ t

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 + 21 ∙ t + 80, 0 ≤ t ≤ 30 dargestellt werden. Dabei wird die Zeit t in Minuten (min) seit dem Start (t = 0) und die Herzfrequenz f(t) in Schlägen pro Minute (S/min) angegeben. (Zur Information: Für die Maßzahl der maximalen Herzfrequenz eines Mannes gilt ungefähr: 220 − Lebensalter).










Abbildung 1:

 Herzfrequenz zweier Sportler in Abhängigkeit von der Trainingsdauer





a) Beschreiben Sie den Verlauf des Graphen der Funktion f im Sachzusammenhang. Begründen Sie, dass die Funktion f für einen längeren, über t = 32 hinausgehenden Trainingsabschnitt keine sinnvolle Beschreibung der Herzfrequenzwerte liefern kann. (10 Punkte)





Die Aufgabe sieht auf den ersten Blick anspruchsvoll aus. Mittlerweile wissen die Schüler aber durch vorbereitende

Teaching-to-the-Test

-Verfahren, dass man sich von der Aufgabe nicht bluffen lassen soll. Der Verlauf des Graphen der Funktion f der ersten Teilfrage ist im Sachzusammenhang dann auch schnell durch eine einfache Kurvenbeschreibung und eine Zuordnung der Hoch- und Tiefpunkte zur x-Achse durch einfaches Ablesen auch von jedem Nichtmathematiker problemlos zu erledigen: Der Radsportler startet mit einer Pulsfrequenz von etwa 80 Schlägen pro Minute. Nach etwa zehn Minuten steigt die Pulsfrequenz aufgrund der zunehmenden Belastung auf ungefähr 170 Schläge pro Minute an. In den nachfolgenden Minuten sinkt die Herzfrequenz wieder auf ca. 140 Schläge pro Minute und steigt gegen Ende der Belastungsphase erneut auf ca. 170 Schläge pro Minute. Diese Beschreibung, mit der sicherlich auch ein Neuntklässler kaum Probleme haben dürfte, erfüllt dann auch den Erwartungshorizont dieses Teils der Aufgabe komplett, der den Lehrern zur Korrektur von der Behörde vorgegeben wird.

 



Der zweite Teil der Aufgabe wirkt schwieriger, ist es aber ebenfalls nicht. Die Begründung, dass die Funktion f über einen längeren, über t = 32 hinausgehenden Trainingsabschnitt keine sinnvolle Beschreibung der Herzfrequenzwerte liefern kann, ist im begleitenden Informationsmaterial bereits vorgegeben. Die maximale Herzfrequenz ist dort mit 220 minus Lebensalter angegeben. Bei 32 Minuten liegt die Herzfrequenz bei ca. 200 Schlägen pro Minute, das verrät schon ein kurzer Blick auf die zu verlängernde Funktion f. Um auf diese Lösung zu kommen, reicht es aus, mit einem Lineal die Verlängerung der x-Achse auf t = 32 zu erweitern, eine senkrechte Gerade noch oben zu zeichnen und die Verlängerung der Funktion f an ihrem Ende ebenfalls mit einem Lineal vorzunehmen. Ein lesekompetenter Schüler kann auch herausfinden, wie alt der Fahrer nach den vorgegebenen Informationen ist: Der Radfahrer ist etwa 20 Jahre alt (220−20=200). Ebenso und fast noch einfacher könnte man argumentieren, dass beim Einsetzen sehr großer Werte für t der Funktionswert f(t) offensichtlich gegen unendlich strebt, das Herz aber kaum unendlich schnell schlagen kann. Für die Lösung dieser Teilaufgabe sind also weder Rechenoperationen durchzuführen noch ist ein Alltagswissen einzubringen. Die Aufgabe lässt sich durch aufmerksames Lesen und Kenntnis derartiger Aufgabenstellungen leicht lösen. Grundkenntnisse aus der Analysis sind für die Lösung dieser Aufgabe nicht erforderlich. Die Verwendung des Operators

Begründen

 erweist sich mehr als übertrieben.



Bestätigt wurden diese Annahmen durch das Bearbeiten der gesamten Aufgabe nach den gültigen Abiturvorschriften durch Schüler der Jahrgangsstufe 11 (G9), die Analysis-Aufgaben noch gar nicht als Schwerpunktthema bis zu diesem Zeitpunkt thematisiert hatten. Durch Auswertung der Klausuren unter Berücksichtigung vorgegebener Korrekturvorschriften im Abitur konnte gezeigt werden, dass diese Schüler in dieser Teilaufgabe in der Lage waren, dem Erwartungshorizont nach dem dargestellten Schema voll zu genügen.

2

 Für die Lösung der gesamten Aufgabe kamen nur zwei Schüler über ein »Mangelhaft« nicht hinaus, 14 erreichten den Vierer- und zwei sogar den Dreierbereich. Ähnlich wie in anderen Fächern reicht also auch in Mathematik zumindest in Teilaufgaben Lesekompetenz, sowie die Kenntnis über die Art der Aufgabenstellung aus, um zumindest den Viererbereich zu erreichen. In einer Kontrollklausur mussten die gleichen Schüler eine Klausur zum gleichen Thema aus der Zeit vor der Einführung des Zentralabiturs bearbeiten. Mit Ausnahme eines Schülers scheiterten alle anderen an der Kontrollklausur, sieben landeten im Fünferbereich, 14 erhielten ein »Ungenügend«. Die »alte« Abiturklausur war deutlich anspruchsvoller, was den Funktionstyp angeht (gebrochenrationale Funktionen mit einem Scharparameter, trigonometrische Funktion). Sie erfordert Kenntnis von und den Umgang mit Begriffen wie Symmetrie, Nullstelle, Asymptote, Verhalten im Unendlichen, Hochpunkt, Wendepunkt, dritte Ableitung, Scharparameter und Approximation. Bei den neuen textlastigen Aufgabenstellungen scheitern allerdings viele Schüler an der teilweise umständlichen und wenig überzeugenden Fragestellung, die einen inhaltlichen Schwierigkeitsgrad vortäuscht, der in der Regel nicht vorhanden ist. In diesem Zusammenhang interessant war auch die Bewertung eines eigentlich in Mathematik laut Aussage des Lehrers sehr guten Schülers, der überraschenderweise und entgegen dem Trend in der fachlich anspruchsvolleren Klausur ein »Gut

«

, in der fachlich einfacheren kompetenzorientierten Zentralabiturklausur aber nur ein »Ausreichend« erreichte. Seine Aussage dazu bringt die Sache auf den Punkt, und dieser ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen: Er habe in der Zentralabiturklausur nach mathematischen Schwierigkeiten gesucht, die dort nicht vorhanden gewesen seien. Insofern fühle er sich mehr als »verarscht«

3

.



Aus mathematikdidaktischer Sicht ist hervorzuheben, dass diese Aufgabe weder die Anwendung noch die Mathematik ernst nimmt. Einerseits ist kaum vorstellbar, dass ein Sportler oder sein Trainer, die über einen derartigen Herzfrequenzplotter verfügen, aus den Messwerten mit mathematisch aufwendigen Interpolationsverfahren einen diese Werte approximierenden Funktionsterm (zufällig dritten Grades) bestimmen, um dann mit dessen Hilfe Fragen zu beantworten, die sie unmittelbar an dem Graphen ablesen können. Verfügten sie aber über entsprechende Software, welche die Interpolation vornimmt, dann würde diese mit Sicherheit auch Antworten auf alle in der Aufgabe aufgeworfenen Teilfragen auf Knopfdruck ausspucken. Andererseits ist das Gebiet der Analysis, eine der großen Leistungen des menschlichen Geistes, nicht geschaffen worden, um elementare Fragen zu ganzrationalen Funktionen dritten Grades zu beantworten; derartige Probleme wusste man schon lange vor der Analysis befriedigend zu lösen. Mutter solcher Aufgaben ist weder die Realität noch die Mathematik: Es ist die kompetenzorientierte Aufgabenstellung des Zentralabiturs.



Der Verfall des fachlichen Niveaus in Mathematik lässt sich zweifelsfrei an dem Verlauf des Mathematikunterrichts der letzten 25 Jahre aufzeigen. Noch im Abitur Anfang der neunziger Jahre waren ganzrationale Funktionen nicht erlaubt; sie entstammten aus der Klasse 11 und wurden als zu leicht bewertet. In der Analysis dagegen standen gebrochenrationale Funktionen, anspruchsvolle e-Funktionen und auch Logarithmusfunktionen, anspruchsvolle Integrale, Extremwertaufgaben mit diffizilen Nebenbedingungen verpflichtend auf dem Plan. Hinzu kamen ambitionierte Aufgaben aus der Vektorrechnung und analytischen Geometrie und wahlweise aus der Stochastik. Heute beherrschen ganzrationale Funktionen, simple e-Funktionen und nur noch Grundintegrale die Szene. Hinzu gesellen sich abgespeckte Aufgaben aus der Vektorrechnung (kaum noch anspruchsvolle Abstandsberechnungen im Raum, kaum noch Kugeln oder Kreise) und gegebenenfalls Stochastik als Wahlthema, häufig als simpler Mittelstufenstoff und Reproduktion bekannter Verfahren. Das einzige neue Thema sind Übergangsmatrizen, ein Thema, welches eine achte Klasse bei zweiwöchiger Übung größtenteils ebenfalls mit Erfolg bearbeiten könnte.



Wenn man heutzutage in der Qualifikationsphase oder auch im Abitur im Fach Mathematik den Schülern über die Schulter schaut, staunt man nicht schlecht, dass hier ganz offensichtlich nicht oder nur wenig kopfgerechnet wird. Bei Beobachtung der Schüler aus der Ferne könnte man den Eindruck haben, sie seien mit ihren nach unten gerichteten Köpfen in ihren Handys in den sozialen Netzwerken unterwegs. Bei näherem Hinsehen sieht man aber, dass es sich um geringfügig größere Taschenrechner handelt, die fast in noch schnellerer Abfolge traktiert werden als Eingaben in WhatsApp. Um den Schüler von grundlegenden Rechenaktionen zu entlasten – diese werden im kompetenzmodellierten Mathematikunterricht als nicht das eigentliche Ziel ausgewiesen –, kommt dem Taschenrechner zunehmend eine zentrale Rolle zu. Dieser soll die Schüler von den eher als trivial bewerteten Rechenaktionen zugunsten von Textverständnis und dessen kompetenzorientierter Modellierung entlasten. Mittlerweile sind sogar grafikfähige Taschenrechner (GTR) oder sogar welche mit Computeralgebrasystem (CAS) im Einsatz, die den Schülern auch bei der Bearbeitung von Analysisaufgaben Teile der Arbeit abnehmen. Der Schüler braucht also beispielsweise die Koordinaten der Extrempunkte nicht mehr zu berechnen, das erledigt der Taschenrechner. Gleiches gilt für den dazugehörigen Graphen. Die höherwertige Schülerleistung sei schließlich die Problemlösungskompetenz zur Analyse der vorgegebenen Textaufgabe und nicht die Durchführung der dazu notwendigen grundlegenden Rechenoperationen. Das böse Erwachen kommt bei der Aufnahme eines Studiums, wenn Erstsemestern plötzlich nicht nur die grun