Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen

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Polarfüchse, Bienenwölfe, Kannenpflanzen und allerlei anderes Getier



Nach Bekanntwerden der Untersuchung wurde nicht nur von dem betroffenen Landesministerium behauptet, diese Aufgabe sei eine Ausnahme und solche Aufgaben kämen zudem in anderen Bundesländern nicht vor. Wie eine gerade fertiggestellte Analyse aller Zentralabituraufgaben im Themenbereich »Ökologie« aus Nordrhein-Westfalen von 2007 bis 2015 eindeutig nachweist, ist die Streifenhörnchenaufgabe keinesfalls eine Ausnahme. Dies erkennt man schon unschwer an den Titeln, wie beispielsweise »Rabenvogelstreit und seine populationsdynamischen Hintergründe« (2007), »Lebensgemeinschaft von Ameisen und Ameisenpflanzen« (2008), »Wie wirken sich Mastjahre und Parasiten auf Nagetierpopulationen aus?« (2009), »Wärmehaushalt des Zaunkönigs« (2010), »Die europäische Forelle in Neuseeland« (2011) oder »Ökologie des Bienenwolfs« (2011). Ab 2012 tauchen überraschenderweise für Grundkurs und Leistungskurs die gleichen Themen auf: »Die Gefährdung des Polarfuchses« (2012), »Ökologie der Kannenpflanze« (2013), »Schädlinge in Kakaoplantagen

«

 (2014), »Interspezifische Beziehungen am Yellowstonesee« (2015). Der Unterschied besteht für den Leistungskurs nur darin, dass die Schüler hier bei deutlich verlängerter Arbeitszeit eine Teilaufgabe mehr zu bearbeiten haben.



Am Beispiel des Polarfuchses macht schon die erste Teilaufgabe klar, wie der Hase läuft. Der Schüler erhält im Arbeitsmaterial die Informationen, dass Rotfuchs und Polarfuchs auf der Nordhalbkugel vorkommen, der Polarfuchs sich dabei auf die Polargebiete beschränkt, dass er dort in der Tundra lebt, einer baumlosen Landschaft mit Böden, die neun Monate im Jahr an der Oberfläche gefroren sind, sowie auf Eisfeldern, in tiefen Höhlen oder Schneelöchern. Weiterhin erfährt er, dass die Temperaturen ganzjährig unter null Grad oder knapp darüber liegen und dass der Polarfuchs Temperaturen von minus 40 bis minus 50 Grad toleriert. Über den Rotfuchs erhält der Schüler die Hinweise, dass dieser auf der gesamten Nordhalbkugel bis zum südlichen Rand der Polargebiete vorkommt und sein Fell im ganzen Jahr oberseits rostbraun ist, dass der Anteil der kälteisolierenden Wollhaare beim Rotfuchs ca. 20 Prozent, beim Polarfuchs dagegen rund 70 Prozent beträgt, und dessen Fell im Sommer braun und im Winter weiß gefärbt ist.

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Schreibt der Schüler diese Informationen wortwörtlich ab oder formuliert sie um, befindet er sich auf der sicheren Seite und erreicht entsprechend dem Erwartungshorizont die volle Punktzahl in diesem Aufgabenteil:



Die weiße Fellfarbe tarnt den Polarfuchs im arktischen Winter (…) Der Rotfuchs kommt überwiegend in nicht arktischen Gebieten vor, im Winter liegt nicht immer Schnee. Daher tarnt ihn die rostbraune Färbung in seinem Lebensraum (…) Das dichte Fell des Polarfuchses mit 70 % Wollhaaren isoliert gegen die Kälte. Beim Rotfuchs ist der Anteil der Wollhaare mit 20 % geringer als Angepasstheit an die eher milden Winter. Der Polarfuchs toleriert wesentlich tiefere Temperaturen als der Rotfuchs.

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Wenig zielführend wäre auch hier, wenn der Schüler versuchen würde, weitere ihm bekannte Sachverhalte in seinen Text einzubauen; das hält auf, am Ende fehlt Zeit für die Beantwortung aller Teilfragen, und mehr Punkte als die vorgegebenen kann er ohnehin nicht erreichen. Es ist mehr als offensichtlich, dass man für die Bearbeitung derartiger Aufgaben nicht am Biologieunterricht hätte teilnehmen müssen.



Im Leistungskurs 2011 geht es um den Bienenwolf. Der Schüler schreibt am besten auch hier gleich aus dem Informationsmaterial ab: dass der Bienenwolf Bienen jagt – wer hätte das gedacht – und die gelähmten Bienen die Nahrung für seine Larven sind, die drei Tage nach der Eiablage schlüpfen und zunächst das Fettgewebe und dann die Organe der gelähmten Biene fressen, und dass sich die Bienenwolfweibchen von Pflanzennektar ernähren.

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 Eine solche Leistungskursabituraufgabe sollte jeder Neuntklässler mit Lesekompetenz problemlos lösen können, unter der Voraussetzung, dass man ihn vorher ausdrücklich darauf hinweist, dass auch hier alle Antworten im Text oder den Grafiken bereits vorhanden sind.



Auch die Aufgabe zu den Kannenpflanzen (2013), die zu den fleischfressenden Pflanzen gehören, ist sehr aufschlussreich. Im Material erfährt der Schüler, dass fleischfressende Kannenpflanzen im Normalfall nicht auf bestimmte Beutetiere spezialisiert sind und daher ein breites Spektrum an Gliederfüßlern nutzen, dass der Kannenrand und der Deckel auffällig gefärbt sind und am Kannenrand befindliche Drüsen Nektar absondern, dass die innere Kannenwand bei vielen Arten mit sehr glatten Wachskristallen ausgekleidet ist und sich in der Flüssigkeit in dem unteren Teil der Kannen auch zahlreiche Enzyme befinden. In der Aufgabenstellung soll der Schüler zuerst einmal die bei Kannenpflanzen zur Sicherstellung der Stickstoffversorgung auftretenden Besonderheiten benennen.

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 Entsprechend dem Erwartungshorizont ist auch hier ein zusammengefasstes Ab- oder Umschreiben des Informationsmaterials ausreichend für den Erhalt der vollen Punktzahl:

Kannenpflanzen bestehen aus zu Kannen umgebildeten Blättern mit einem auffällig gefärbten Deckel und Kannenrand, darüber hinaus sitzen Nektardrüsen am Kannenrand und sehr glatte Wachskristalle an der inneren Kannenwand sowie Enzyme in der Kanne.

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 Die weitere Teilfrage bezieht sich durch die Nutzung des Operators

Diskutieren

 auf den höchsten Anforderungsbereich III. Der Schüler soll die Funktion der in der Kannenflüssigkeit nachgewiesenen Enzyme diskutieren. Diese Aufgabe könnte kein Neuntklässler erfolgreich bewältigen, und sie ist daher sehr anspruchsvoll gestellt. Der Schüler soll ein tiefes Verständnis grundlegender biologisch-chemischer Zusammenhänge verschiedener Enzymaktivitäten nachweisen. Das ist zweifelsfrei Leistungskursniveau. Man mag es aber schon fast erahnen, dass der Schüler hier zum Erreichen der höchsten Kompetenzstufe wieder einmal nur aus dem Arbeitsmaterial abschreiben muss. Die Kannenflüssigkeit enthält

… auch zahlreiche Enzyme: Peptidasen, die Peptidbindungen aufbrechen, Ribonukleasen, die Nukleinsäuren zerlegen, sowie Chitinasen, die das chitinhaltige Außenskelett von Insekten und anderen Gliederfüßern auflösen.

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Die nur selten vorkommenden Gewässerökologieaufgaben entsprechen dem gleichen Schema. Unter dem Titel der Leistungskursaufgabe von 2010 »Johannisbach und Obersee – Gewässergüte und Sanierungskonzept« soll der Schüler u. a. sein grundlegendes Verständnis über die Bestimmung der Gewässergüte und die dafür zugrunde liegende Berechnung von Gewässergüteklassen unter Beweis stellen:

Ermitteln Sie anhand von Material C über den Saprobienindex die Gewässergüte des Johannisbaches am Messpunkt A.

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Das klingt ebenfalls anspruchsvoll. Ähnliche Aufgaben gab es auch schon in den achtziger und neunziger Jahren, die sich durch ein um bis zu 90 Prozent reduziertes Informationsmaterial von den heutigen Aufgabenformaten unterschieden. An Fachwissen musste der Schüler einbringen, dass an einer bestimmten Messstelle je nach der Güte eines Gewässers unterschiedliche Tierarten zu finden sind. Einige bevorzugen eher sauberes Wasser, während andere mehr oder weniger verschmutztes Wasser vorziehen. Weiterhin war die Kenntnis einer relativ einfachen Formel zur Berechnung der Gewässergüteklasse vonnöten. Um diese anwenden zu können, bekam der Schüler zwei Zahlenkolonnen vorgegeben: den für jede Tierart feststehenden Gewässergütewert s und den Häufigkeitswert h. Entsprechend der vereinfachten Formel nach Bauer mussten dann die einzelnen Tierfunde aufgelistet und die s- und h-Werte miteinander multipliziert und durch die Anzahl dividiert werden. Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht den Vorgang. Diese Bestimmung der Gewässergüteklasse kann problemlos in der Mittelstufe vorgenommen werden. Im Leistungskurs wurde zusätzlich immer auch der g-Wert für das Indikationsgewicht der jeweiligen Art mit in die Formel einbezogen. Hier musste der Saprobienindex nach Zelinka und Mervan genauer bestimmt werden. Alle diese Schritte waren vom Schüler selbständig zu erbringen. Da es sich um einfache Additionen und Multiplikationen handelt, wären auch hier sicherlich Neuntklässler in der Lage, diese Rechnungen erfolgreich durchzuführen. Schaut man sich nun das dem Schüler im Zentralabitur für die Bearbeitung der Aufgabe zur Verfügung gestellte Informationsmaterial an, fragt man sich, ob man nicht einer optischen Täuschung erlegen ist (s. Abb. 2).



Hier ist nichts aus Listen zu entnehmen, hier wird nichts in eine vorgegebene Formel eingetragen, nichts angewendet, nichts berechnet, nicht einmal einfachste Additionen und Multiplikationen auf Grundschulniveau sind durchzuführen. Entgegen der Aufgabenstellung ist hier also auch nichts zu ermitteln, hier ist bereits alles ermittelt! Der Schüler bekommt also den kompletten Erwartungshorizont direkt im Informationsmaterial vorgegeben.




Biologische Untersuchung

Art

h

s

h · s

Eintagsfliegenlarve

3

2,0

6,0

Bachflohkrebs

4

2,0

8,0

Köcherfliegenlarve

3

2,0

6,0

Schlammröhrenwurm

2

3,8

7,6

Wasserassel

3

2,8

8,4

Großer Schneckenegel

3

2,4

7,2

Schlammfliegenlarve

2

2,4

4,8

Rollegel

4

3

12,0

Abwasserpilz

2

3,6

7,2



h: Häufigkeit s: Gütefaktor

 



Saprobienindex S = 2,58



Abbildung 2:

 Biologische Untersuchung aus Material C: Datenblatt zur Gewässeruntersuchung des Johannisbaches sowie Tabelle zur Auswertung (nach 7, verändert)



Für den weiteren Vergleich mit einer anderen Messstelle muss der Schüler nur wissen, dass die Zahl 2,58 größer oder kleiner ist als eine andere ihm vorgegebene einfache Zahl von 1 bis 4. Einzelne Landesregierungen trauen ihren Schülern im Biologieunterricht anscheinend nicht einmal mehr mathematische Grundschulkenntnisse des Einmaleins zu. Das könnte möglicherweise die gewünschte Abiturquote gefährden. Da geht man lieber auf Nummer sicher.



Wenn in Nordrhein-Westfalen ein Lehrer in den neunziger Jahren bis zum Zeitpunkt der Einführung des Zentralabiturs 2007 eine der vorgestellten Aufgaben als Abiturvorschlag bei der Bezirksregierung eingereicht hätte, wäre der zuständige Dezernent aufgrund tiefer Besorgnis um den Gemütszustand des Kollegen sofort beim zuständigen Schulleiter vorstellig geworden und hätte um die unmittelbare Konsultation des Kollegen beim Amtsarzt gebeten.



Viele Schüler können diesen Spuk kaum glauben und äußerten sich schon 2011 in den »Uni-Protokollen« nach geschriebener Leistungskursklausur für Physik wie folgt: »jaa das ganze beschreiben war total nervig ich glaub ich habe mehr text als in meiner englisch klausur geschrieben (…) mathematischen anspruch hatte es so irgentwie gar nicht (…) finde ich auch sehr schade«, und: »LTH

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 war ja echt mal nen Witz ^^ Hätte überhaupt nichts lernen brauchen, war auch ne halbe Stunde vorm Ende fertig. Richtig geil.«

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Für die Leistungskursaufgabe zum Bienenwolf in Biologie gab es die folgenden Kommentare: »… Fand das aber irgendwie zu leicht. Das meiste stand in den Infotexten«, oder: »… und ganz ehrlich (…) ich kam mir echt doof vor, das meiste stand im text. (…) hatte echt das gefühl, dass ich einfach nur von den materialien abschreibe (…) ganz ganz seltsam.«

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Auch die Sprachen sind davon betroffen: »Der Sachtext war eigentlich sehr einfach fand ich und Vorwissen zu Shakespeare brauchte man wie erwartet absolut gar nicht. Ich hasse ja eigentlich Shakespeare, aber egal der Text war ok. Ich habe das gleiche Thema mit einem ähnlichen Sachtext schon in der Vorabi Klausur gehabt daher war das im Prinzip nur ne Wiederholung.«

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Weiße Haie, Hamburger See-Elefanten, springende Tiger und Versteckspielen



Nun war Nordrhein-Westfalen nicht gerade erfreut über das Ergebnis dieses Experiments mit Schülern der neunten Klasse, da ja hier mehr als deutlich wurde, dass Fachwissen als Basis zur Lösung der Aufgaben und der nachzuweisenden Kenntnisse so gut wie kaum vonnöten war. Nordrhein-Westfalen muss sich aber nicht grämen, die zuständigen Behörden in dem einen oder anderen Bundesland schaffen das schier Unmögliche, nämlich derartige Aufgabenstellungen in ihrer fachlichen Anspruchslosigkeit noch zu toppen.



Ende des Jahres 2012 wurde in Hamburg eine vielbeachtete Studie der erstaunten Öffentlichkeit vorgestellt, in der die Kompetenzen und Einstellungen der Hamburger Schülerinnen und Schüler überprüft wurden (KESS 12 = zwölfjähriger Abiturjahrgang). Die zentralen Aussagen dieser behördenintern durchgeführten Studie fanden deutschlandweite Beachtung. Die Leistungen der Hamburger Abiturienten des ersten G8-Jahrgangs von 2011 seien nicht nur in Englisch, sondern auch in Mathematik und den Naturwissenschaften mindestens so gut und teilweise sogar besser als die der Abiturienten von 2005 nach neunjähriger Schulzeit. Gleichzeitig konnte die Abiturientenzahl deutlich erhöht werden (plus 33 Prozent). Nach Angaben des Bildungssenators räumte die Studie gleich mit zwei Vorurteilen auf: »Es gibt deutlich mehr Abiturienten, obwohl das Niveau nicht gesunken ist. Und: Die Schulzeitverkürzung G8 am Gymnasium hat nicht geschadet, sondern zu diesem Erfolg beigetragen.«

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 Der Studienleiter Ulrich Vieluf gab in einer kontroversen Diskussion in der »Tageszeitung« an: »Wir führen in Hamburg zunehmend mehr Kinder zum Abitur und erhöhen damit den Faktor Bildung für die Volkswirtschaft.«

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 In der Berichterstattung wurde dieses Ergebnis als Sieg der Verkürzung der Schulzeit von G9 auf G8 gewertet. »Turbo-Abiturienten lernen besser«, konnte man nahezu einheitlich der teilweise auch sichtlich erstaunten Presse entnehmen.

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 Die Ergebnisse nicht nur dieser Studie widersprechen allein schon dem gesunden Menschenverstand, sofern der vor lauter Studien nicht schon längst verloren gegangen ist. Man kürzt eine Ausbildung um ein Jahr und stellt das Ergebnis als Optimierung der Bildung mit deutlich verbesserten Leistungen dar. Anscheinend geschehen nicht nur in Hamburg immer noch Zeichen und Wunder im deutschen Bildungswesen nach PISA.



Es ist oft mehr als erstaunlich, wie Studien und ihre Ergebnisse heutzutage als der endgültige Beweis für die Beantwortung von allen möglichen Fragestellungen gelten und als Wort Gottes aufgenommen werden. Eine erste Überprüfung der KESS-12-Studie, die die Kompetenzen und Einstellungen der Hamburger Schülerinnen und Schüler behördenintern überprüft, ergab dann auch wenig überraschend, dass dort gar keine Zentralabituraufgaben oder auch mündliche Teile der Abiturprüfung getestet wurden, wie man eigentlich nach der frohen Botschaft aus Hamburg hätte erwarten können. Es wurden Aufgaben aus den TIMS-Studien (Trends in International Mathematics and Science Study) der neunziger Jahre für die Naturwissenschaften – teilweise auf Mittelstufenniveau – und aus dem TOEFL-Test (Test of English as a Foreign Language) eingesetzt, die mit den gültigen Lehrplänen und der Allgemeinen Abiturprüfungsordnung gar nichts zu tun haben und auch methodisch keineswegs überzeugen.

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 Die von einer Gruppe von Fachmathematikern, Fachdidaktikern und Fachlehrern durchgeführten Analysen zum fachlichen Niveau der Hamburger Zentralabituraufgaben der entsprechenden Jahre in Mathematik und Biologie ergaben folglich ein ganz anderes Bild.

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Auch in Hamburg steht im Fach Biologie der Themenbereich Ökologie hoch im Kurs. In Schülerkreisen genießt insbesondere die Ökologie mittlerweile den Ruf eines »Laberfachs«. Ähnlich wie in mittlerweile vielen Bundesländern nimmt auch hier die Populationsökologie einen breiten Raum ein. So mussten sich 2005 die Schüler mit dem Thema »Seehundbestand« beschäftigen. Im Vergleich mit einer ähnlichen Aufgabe von 2010 – 2011 bis 2013 gab es in Hamburg im Fach Biologie kein Zentralabitur – enthielt diese aber deutlich weniger Informationsmaterial, und der Schüler musste zumindest in Teilaufgaben eigenes Fachwissen einbringen, ohne das die Aufgaben nicht vollständig hätten gelöst werden können. Die Aufgabe von 2010 – mittlerweile bekannt als »Die Hamburger See-Elefanten« – ist komplett in »Zeit Online« mit Erwartungshorizont eingestellt,

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 und es lohnt sich, diese Aufgabe einmal näher zu betrachten. Sie ist nach dem bekannten Muster der Streifenhörnchen-Aufgabe konzipiert und enthält ausführliche Informationen und Grafiken. In der ersten Teilaufgabe erhält der Schüler im Material neben einem ausführlichen Informationstext erst einmal eine einfache Grafik zu deren Populationsentwicklung (s. Abb.).

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Abbildung 2:

 Entwicklung der See-Elefanten-Population auf der südlichen Farallon-Insel im Zeitraum von 1999 bis 2001



Die erste Teilaufgabe lautet nun, die Populationsentwicklung an Hand dieses Materials zu beschreiben und zu begründen. Der Beschreibung ist Genüge getan, wenn der Schüler aus dem Kurvenverlauf erkennt, dass die Population der See-Elefanten in den Jahren von 1998 bis 2001 jeweils zwischen 800 und 1200 Tieren schwankt und dass im ersten Quartal jeweils der Anstieg und im letzten der Abstieg erfolgt. Das sollte jeder Siebtklässler mühelos erkennen können. Im zweiten Teil der Frage ist nach der Begründung gefragt. Zur Begründung können wir aus dem ausführlichen Informationsmaterial folgende Textstellen wörtlich entnehmen und erfüllen den Erwartungshorizont vollständig:

Die Jungtiere werden nach 11 Monaten Tragzeit etwa im Januar geboren, ungefähr drei Wochen nach der Geburt paaren sich die Weibchen erneut mit den Männchen. Während dieser Zeit leben die Jungtiere in ständiger Gefahr, von den aggressiven Bullen erdrückt zu werden. Sie bleiben knapp drei Monate an Land, müssen dann das Schwimmen und den Beutefang erlernen. Dabei laufen sie Gefahr, selber gefressen zu werden.

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 Diese Angaben schreiben wir entweder wortwörtlich ab oder formulieren sie um. Sie enthalten die komplette Lösung entsprechend den Vorgaben im Erwartungshorizont. Damit haben wir bereits 30 Prozent der Abituraufgabe vollständig gelöst. Überraschenderweise wird diese Analyse von der Behörde bestätigt. Im Erwartungshorizont heißt es wörtlich:

Der Operator »beschreiben« weist auf die Anforderungsbereiche I–II hin. Da die geforderte Lösung direkt aus dem Material herauszulesen ist, entspricht dies dem Anforderungsbereich I. Der Operator »begründen« weist auf die Anforderungsbereiche II–III hin. Da die geforderten Argumente dem Material direkt zu entnehmen sind, entspricht dies dem Anforderungsbereich II.

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 Es bleibt festzuhalten, dass wir entsprechend dem verwendeten Operator

Beschreiben

 weder Strukturen, Sachverhalte noch Zusammenhänge unter Verwendung der Fachsprache in eigenen Worten wiedergegeben haben. Erst recht nicht haben wir den Sachverhalt auf Gesetzmäßigkeiten und kausale Zusammenhänge zurückgeführt, wie dies durch die Verwendung des Operators zwingend gefordert ist.



In der nächsten Teilaufgabe soll der Schüler die Schlüsselkompetenz der Grafikinterpretation anwendungsorientiert nachweisen. Konkret sollen die Aussagen der beiden Abbildungen 3 und 4 interpretiert werden.

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Ähnlich wie bei den Streifenhörnchen geht es erst einmal darum zu erkennen, wer hier der Räuber und wer die Beute ist und wer in welchem Gebiet wen jagt. Schon die Abbildungsbeschriftungen weisen eigentlich genau aus, wer hier hinter wem her ist. Sollten wir das übersehen haben, können wir auch hier wiederum nach dem Ausschlussprinzip vorgehen. See-Elefanten dürften kaum Haie oder Schwertwale angreifen oder fressen, das ist Alltagswissen, das schließen wir mithin aus. Dass Haie Schwertwale fressen oder umgekehrt, ist ebenso eher unwahrscheinlich. Also bleibt nur noch die Möglichkeit übrig, dass die Haie und Schwertwale wohl die Jäger und die See-Elefanten die Beute sind. Diese sensationelle Erkenntnis traut die Hamburger Behörde ihren eigenen Abiturienten aber anscheinend nicht mehr zu. Es könnte ja sein, dass es noch Schüler gibt, die aufgrund einer Leseschwäche den Text oder die Abbildungsbeschriftung nicht richtig verstanden haben oder nicht wissen, wie ein Schwertwal, ein weißer Hai oder ein See-Elefant aussehen. Für die letztgenannten werden dann drei Fotos dem Informationsmaterial auf dem Niveau von Kinder- oder Jugendbüchern hinzugestellt, indem vor allem der Hai mit geöffnetem Maul auch dem letzten Zweifler klar entgegenzuschmettern scheint: »Hallo, ich bin der weiße Hai und auf keinen Fall die Beute!«

 








Abbildung 3:

 Angriffshäufigkeit der Schwertwale und Weißen Haie auf See-Elefanten innerhalb der drei Regionen (Beobachtungen in den Jahren 1999 bis 2001)








Abbildung 4:

 Beutewahl der Schwertwale und Weißen Haie im gesamten Bereich vor der südlichen Farallon-Insel (Beobachtungen in den Jahren 1999 bis 2001)



Aufgeweckte Schüler haben die beiden Grafiken schnell beschrieben. Ein einfaches Ablesen der Säulendiagramme – der weiße Hai jagt bis zu 80 Prozent vornehmlich in der Tiefenwasserregion, während der Schwertwal die Flachwasserregion bevorzugt – erfüllt den Erwartungshorizont vollständig. Für die Beschreibung der Abbildung 4 ist auch nicht gerade eine Meisterleistung erforderlich. Da Haie laut Abbildung 3 in tieferen Regionen jagen, fangen sie die dort befindlichen erwachsenen Tiere der See-Elefanten, da die Jungtiere sich ja noch in der Flachwasserregion aufhalten. Da die Schwertwale in erster Linie in der Flachwasserregion jagen, fressen sie halt die dort befindlichen Jungtiere und Jährlinge, die noch nicht ins offene Meer können. Auch das sollten aufgeweckte Siebtklässler erkennen können. Selbst wer dies nicht hinbekommt, ist noch lange nicht verloren. Schließlich gibt es ja noch das ausführliche Textmaterial, und da werden wir schnell fündig.

Fressfeinde der See-Elefanten: Die bevorzugte Beute beider Räuber waren in diesem Gebiet See-Elefanten. Die meisten Angriffe der Schwertwale und Weißen Haie auf See-Elefanten fanden innerhalb der drei Regionen statt, allerdings mit unterschiedlicher Jagdstrategie,

 und:

Erwachsene See-Elefanten sind nachtaktiv, sie schwimmen in der Abenddämmerung in Richtung offenes Meer und kehren in der Morgendämmerung an Land zurück. Jungtiere und Jährlinge (1 – 3 Jahre alte Tiere) nutzen die Strandregion und die Flachwasserregion den ganzen Tag.

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 Dies sind nun die nächsten 20 Prozent der vollständigen Lösung, und die Behörde bestätigt unsere Analyse:

Der Operator »darstellen« weist auf die Anforderungsbereiche I–II hin. Da die Lösung direkt aus dem Material abgelesen werden kann, entspricht die geforderte Leistung dem Anforderungsbereich I.

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Die Aufgaben c und d entsprechen diesem Schema. In Aufgabe c soll der Schüler die beobachtete Koexistenz von Schwertwal und Hai erklären. Dies ergibt sich aus der Aufgabe b), die wir ja gerade ausführlich analysiert und in der wir die Lösung zu c schon ansatzweise enthalten haben: Weißer Hai und Schwertwal kommen sich bei ihren Beutezügen nicht in die Quere, weil sie in unterschiedlichen Regionen ihrer Beute nachstellen. Dies steht genauso im Informationsmaterial. Spätestens in Teilaufgabe d hätte man entsprechend dem Operator

Erklären

 erwarten müssen, dass der Schüler

zu einem Sachverhalt ein selbstständiges Urteil unter Verwendung von Fachwissen und Fachmethoden formulieren und begründen

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 soll und ihm auch die Chance eröffnet wird, die ganze Breite seines in der Sekundarstufe II erworbenen Fachwissens zu diesem Themenbereich nachweisen zu können, um daraus auf weitere populationsdynamische Entwicklungen in der Zukunft zu schließen. Im Gegenteil, es reicht jedoch aus, wenn der Schüler im Rahmen der Beurteilung einer Aussage zur langfristigen Prognose der Populationsentwicklung an Hand der vorgegebenen Grafiken wiederholend feststellt, dass es regelmäßige Populationsschwankungen im Beobachtungszeitraum gibt, die Zahl der Tiere sich um 1000 einpendelt und dass solche Populationen in der Regel stabil sind und in Zukunft wohl auch bleiben.



Auch hier wird unsere Interpretation durch die Angaben der Behörde zu den vom Schüler einzubringenden Leistungen voll bestätigt:

Der Operator »erklären« weist auf die Anforderungsbereiche II–III hin. Da die Erklärung eng an den vorgegebenen Informationen erfolgt, entspricht die geforderte Leistung dem Anforderungsbereich II.

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 Für die letzten beiden Aufgabenteile erhalten wir die nächsten 50 Prozent der zu vergebenden Punkte.



Im Gegensatz zur Streifenhörnchen-Aufgabe, in der zumindest in einer Teilfrage grundlegendes Fachwissen einzubringen war, kann diese Aufgabe komplett durch »Lesekompetenz« gelöst werden. Dafür muss auch hier niemand am Biologieunterricht teilgenommen haben. Diese Zentralabituraufgabe ist reiner Mittelstufenstoff und war zu Zeiten der Lehrpläne mit Fachinhalten auch dort angesiedelt.



Berlin verwendet ähnliche Aufgaben mit ausführlichen Informationsmaterialien, die nach dem bekannten Schema abzuarbeiten sind. In der Aufgabe des Leistungskurses von 2013 »Invasion der Dornenkronensterne« geht es um die These, dass die massenhaft eingewanderten Dornenkronen-Seesterne für das Absterben weiter Teile des Großen Barriere-Riffs verantwortlich sind. Die erste Frage dazu lautet dann:

Beschreiben Sie interspezifische Beziehungen im Großen Barriere-Riff.

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 Dazu erhält der Schüler einen ausführlichen Text im Material A, aus dem alle im Erwartungshorizont eingeforderten »Kompetenzen« nachzuweisen sind:

verschiedene Beispiele für Räuber-Beute-Verhältnisse (Korallenpolypen – Kleinstlebewesen, Tritonshorn – Dornenkronen-Seestern, Harlekin-Garnelen – Dornenkronen-Seestern …) – Konkurrenz zwischen Räubern der Dornenkronen-Seesterne: Tritonshorn, Raubfische, Harlekin-Garnelen – Symbiose zwischen Grünalgen in Korallenpolypen und den Korallenpolypen.

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 All dies ist selbstverständlich direkt dem Material zu entnehmen, das zusätzlich noch andere Informationen enthält. Der Schüler geht also auch hier auf die bekannte Ostereiersuche. Man könnte den Schülern in Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Berlin und Bremen u. a. zum bevorstehenden Abitur jeweils raten, das gesamte Material als Lösung einfach abzuschreiben. Die korrigierenden Lehrer hätten aufgrund der Vorgaben gar keine andere Chance, als hier gegebenenfalls die zu erreichende Maximalpunktzahl zu vergeben, für die obige Teilaufgabe zehn Punkte.



Unter der Prämisse, dass die Aufgabenstellung in den Abiturarbeiten vor Einführung des Zentralabiturs von den Fachlehrern entsprechend ihren jeweiligen Unterrichtsschwerpunkten auf ihre Schüler zugeschnitten wurde, ist unbestritten, dass vom Schüler ein Basiswissen einzubringen war, dessen fachliche Qualität in der Darstellung ein entscheidendes Beurteilungskriterium darstellte. Auch waren hier die höherwertigen Anforderungsbereiche wie Bewertungen, Deutungen und Kritik nur auf der Grundlage von Fachwissen möglich. Dies galt grundsätzlich für alle Bundesländer. Die Problematik solcher Aufgabenstellungen ist dann auch eine andere. Nicht die Themenbereiche sind falsch gewählt, vielmehr ist das umfangreiche Arbeitsmaterial mit den darin enthaltenen Lösungen der eigentliche Kritikpunkt. Selbst die vorliegende Aufgabe zur Populationsökologie beispielsweise der Streifenhörnchen bekäme einen anderen Anspruch, wenn das Arbeitsmaterial lediglich die Grafiken mit den Aufgabenstellungen ohne zusätzliches Informationsmaterial enthielte.



Die Aufgabenformate leiten sich aus den bekannten, in der alten Lernzieldebatte der siebziger Jahre entwickelten Anforderungsbereichen ab, wie der Reproduktion (»Beschreiben Sie zusammenfassend …«), des Transfers (»Vergleichen Sie … ») und der Kritik (»Analysieren Sie …«, »Erklären Sie …«). Hinzu treten nun die mit den Bildungsstandards geforderten höheren Fähigkeiten des eigenständigen »Entwickelns von Arbeitshypothesen zur Erkenntnisgewinnung, der darstellenden Kommunikation und der praktischen Bewertung«. Damit wird – nimmt man das wörtlich – ein hoher Anspruch an die Schüler formuliert. Schon das vermeintlich Einfache einer beschreibenden Zusammenfassung stellt eine beträchtliche Leistung dar, geht es doch um die Verdichtung eines Textes, die das Wesentliche bewahrt und es mit eigenen Worten ausdrückt. Erst recht ist das bei allen wirklich analytischen Tätigkeiten der Fall. Der Sch