Evangelisches Kirchenrecht in Bayern

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§ 3Gestaltungsgrundsätze für eine evangelische Kirchenverfassung
1.Allgemeines

Eine Kirchenverfassung lässt sich definieren als die „Summe derjenigen Rechtsregeln, durch die das Zusammenwirken der Kirchengemeinden und der auf ihnen aufbauenden kirchlichen Körperschaften, die organisatorische Aufgabenverteilung auf Amtsträger und Organe sowie der Ausgleich der durch die Kompetenzregelung notwendig entstehenden Spannungen geordnet werden“.1

Dabei muss aber in besonderer Weise der insbesondere durch These 3 der Barmer Theologischen Erklärung festgestellte unlösbare Zusammenhang zwischen Verkündigung und Ordnung der Kirche deutlich werden. Eine Kirchenverfassung hat also mehr zu sein als bloßes Organisationsstatut. Sie hat vielmehr auch geistlich-theologische Akzente zu setzen, indem sie zu erkennen gibt, von welcher Vorstellung vom Wesen der Kirche sie ausgeht und welche theologischen und rechtstheologischen Überzeugungen sie leiten.

Andererseits soll sich die Kirchenverfassung – nicht anders als eine staatliche Verfassung – auf die wesentlichen Grundaussagen beschränken und überlässt die nähere Entfaltung den entsprechenden Einzelgesetzen. Die Beschränkung auf das Notwendige, Wesentliche und Zentrale soll der Verfassung zudem eine gewisse Elastizität geben, um „in ihr liegende oder von außen an sie herankommende Spannungen zu ertragen und für das Ganze fruchtbar zu machen“.2 Verfassung kann daher nichts Endgültiges sein, sondern muss dynamisch begriffen werden. Sie soll Raum geben für künftige Entwicklungen. Allzu häufige Verfassungsänderungen werden dadurch vermieden. So erweist sie sich als Konstante auf Zeit.

Zur Terminologie ist anzumerken: Die Verfassungsgesetze der evangelischen Landeskirchen tragen häufig anstelle der Bezeichnung „Verfassung“ oder „Kirchenverfassung“ die Bezeichnung „Kirchenordnung“ oder „Grundordnung“ (z. B. Baden, Berlin-Brandenburg-Oberlausitz, Kurhessen-Waldeck, Oldenburg, Pommern, Rheinland und Westfalen und die EKD). Der Begriff der Ordnung wurde, insbesondere seit der Zeit des Kirchenkampfes, deshalb gewählt, um zu unterstreichen, dass die Formen der äußeren Organisation der Kirche von denen des Staates verschieden sind. Bewusst wollte man von der im staatlichen Bereich üblichen Bezeichnung abrücken und griff auf die Terminologie der Reformationszeit zurück.3 Allerdings ging der Begriff der „Kirchenordnung“ jener Zeit über den der Gegenwart hinaus, da er neben Rechtsvorschriften im Sinne der heutigen Kirchenverfassungen auch Bestimmungen umfasste, die wir heute den Bereichen einer Lehrordnung oder kirchlichen Lebensordnung zuweisen würden. Tatsächlich entsprechen auch einige der geltenden Kirchenordnungen durchaus diesem Vorbild, so etwa die rheinische und die westfälische Kirchenordnung, die neben dem eigentlichen Verfassungsrecht auch den Gesamtbereich der kirchlichen Lebensordnung zum Inhalt haben. Wo dies aber nicht zutrifft und es allein um die Beschreibung der verfassungsrechtlichen Ordnung geht, vermag aber auch eine kirchliche Verfassung unter diesem Namen den Unterschied zur staatlichen Verfassung hinreichend deutlich zu machen, zumal dann, wenn sie ihre Bekenntnisverpflichtung klar zum Ausdruck bringt.

Die Architektur einer Kirchenverfassung ist in der Regel durch folgendes Schema bestimmt:

Zunächst werden in einer Präambel bzw. einem Grundartikel das Selbstverständnis der betreffenden Kirche und ihr Bekenntnisstand angegeben. Dem schließen sich in der Regel Bestimmungen an über

–das Gebiet und die Rechtsstellung der Kirche und das Verhältnis zu anderen christlichen Konfessionen, zu kirchlichen Zusammenschlüssen und zum Staat,

–die (Mit-)​Gliedschaft in der Kirche,

–das Amt und die Dienste der Kirche,

–die Kirchengemeinde und den weiteren organisatorischen Aufbau (z. B. Dekanatsbezirke),

–die gesamtkirchlichen Leitungsorgane,

–die kirchliche Gesetzgebung,

–das kirchliche Finanzwesen und

–den kirchlichen Rechtsschutz.

Inhaltlich sind insbesondere folgende Determinanten maßgeblich:

2.Partizipation durch presbyterial-synodale Strukturen

Wenn an die Verfassung der Kirche die Erwartung herangetragen wird, dass diese demokratisch zu sein habe, so ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Kirche, rein rechtstheologisch betrachtet, weder demokratisch noch undemokratisch sein kann4: Demokratisch kann Kirche schon von Begriffs wegen nicht sein; in der Kirche herrscht nicht das Volk, sondern hoffentlich Christus. Undemokratisch ist Kirche aber wiederum auch nicht, weil Verfahrensweisen und Strukturen vielfach den im demokratischen System üblichen ähneln oder entsprechen. Diese strukturelle Parallelität ist jedoch vor allem der Lehre vom Priestertum aller Getauften geschuldet. Die Lehre vom allgemeinen Priestertum der Getauften begründet das Recht auf Teilhabe, auf Partizipation aller Gläubigen an dem der Kirche gegebenen Auftrag.

Sie ist insbesondere aus dem 1. Petrus-Brief (Kap. 2) abzuleiten und von Luther insbesondere in den Schriften „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ (1520)5 und „Dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen. Grund und Ursach aus der Schrift“ (1523)6 entfaltet.

Der römisch-katholischen Scheidung zwischen Klerus und Laien wird dadurch eine klare Absage erteilt. Vielmehr stehen unterschiedslos alle Kirchenmitglieder „als Glieder der Gemeinde Jesu Christi in der Verantwortung vor Gott. Sie sollen dies im privaten und öffentlichen Leben bewähren“ und sind „im Rahmen der kirchlichen Ordnungen eingeladen, am Gottesdienst teilzunehmen, an der Gestaltung des kirchlichen Lebens mitzuwirken“, – sei es im Haupt-, Neben- oder Ehrenamt – „kirchliche Aufgaben zu übernehmen, am Verkündigungsdienst teilzuhaben und sich an Wahlen zu beteiligen“.7 Pflicht und Recht der Gemeinde zur Teilhabe konkretisieren sich in den geltenden evangelischen Kirchenverfassungen auf allen Ebenen des Verfassungsaufbaus.8

3.Grundrechte im kirchlichen Verfassungsrecht

Von profilierten Sozialethikern9, aber auch im kirchenrechtlichen Schrifttum10 ist die Erwartung formuliert worden, dass eine Kirchenverfassung den Status der Kirchenmitglieder in Entsprechung zu säkularen Verfassungen (z. B. Art. 1 bis 19 Grundgesetz) in einem Katalog kirchlicher Grundrechte festzuschreiben habe. So sehr dies angesichts der Affinität zwischen der christlichen Botschaft und dem Wesensgehalt der Grundrechte und zumal für eine Institution, die sich in ihrem Reden und Handeln nachdrücklich für die Achtung der Menschenrechte einsetzt, naheliegend zu sein scheint, stellen sich – zumindest dann, wenn kirchlichen Grundrechten das Verständnis des staatlichen Verfassungsrechts zugrunde gelegt wird – schwierige rechtsdogmatische Fragen.11 Diese Problematik kann im Rahmen dieses Grundrisses nur angedeutet werden:

Im staatlichen Verfassungsrecht versteht man unter Grundrechten mit Verfassungsrang ausgestattete vorrangige Rechtsnormen, die dem Bürger gegenüber dem Staat subjektive, auf dem Rechtswege einklagbare Rechte im Sinne von

–Gleichheitsrechten,

–Abwehrrechten (status negativus),

–Leistungsrechten (status positivus) und/oder

–Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten (status activus)

einräumen. Subjektive Rechte sind dabei Ausdruck des liberalen Rechtsstaats, der die autonome Freiheit des Individuums allen anderen Rechtszwecken voranstellt.12 Demgegenüber dient evangelisches Kirchenrecht gerade nicht vorrangig der Sicherung von Individualinteressen, sondern der Erfüllung des der Kirche gegebenen Auftrags. Schon unter diesem Gesichtspunkt ist die Vergleichbarkeit kirchlicher Mitgliederrechte mit staatlichen Grundrechten zu bezweifeln.

Im Übrigen ist festzustellen:

Die Rechtsgleichheit in der Kirche ist durch das allgemeine Priestertum aller Getauften vorgegeben und wird in den evangelischen Kirchenverfassungen im Kontext des kirchlichen Mitgliedschaftsrechts zum Ausdruck gebracht.13

Grundrechtstypische Gefährdungslagen, die abgewehrt werden müssen, sind in der Kirche in aller Regel nicht vorhanden, da die Kirche keine Staatsgewalt ausüben kann und nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit hat, in die Freiheit ihrer Mitglieder einzugreifen.14 Insbesondere kann sich die Kirche nicht auferlegen, einen grundlegend von ihrem Bekenntnis abweichenden Amtsträger im Sinne der Glaubens- und Gewissensfreiheit zu schützen. Dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der informationellen Selbstbestimmung, die es kirchlichen Dienststellen verwehrt, uneingeschränkt Mitgliederdaten anderen zur Verfügung zu stellen, wird bereits durch das EKD-Datenschutzgesetz (RS 230) Rechnung getragen.

 

Leistungsrechte können zum einen vor allem als Verfahrensrechte auch im kirchlichen Bereich relevant sein, z. B. der Anspruch auf rechtliches Gehör und die Gewährleistung von Rechtsschutz. Geregelt ist dies auch für die ELKB insbesondere durch das Verwaltungsverfahrens- und Zustellungsgesetz der EKD (RS 957) und die Ordnungen kirchlicher Gerichte auf landeskirchlicher, EKD- und VELKD- Ebene. Zum anderen sind in diesem Zusammenhang die geistlichen Amtshandlungen (insbes. Taufe, Konfirmation, Ordination, Trauung, Begräbnis)15 zu nennen. Auf diese kann es aber kein einklagbares Recht geben; vielmehr muss im jeweiligen Einzelfall aus geistlich gebotenen Gründen eine Versagung möglich sein. Die Exemtion geistlicher Amtshandlungen vom Rechtsschutz und die daraus folgende Unanfechtbarkeit ihrer Versagung sind ein allgemein anerkanntes Prinzip evangelischen Kirchenrechts.16

Die Ausgestaltung kirchlicher Mitwirkungs- und Teilhaberechte unterscheidet sich insofern grundlegend von Mitwirkungsrechten im staatlichen Bereich, als es dabei im Kern nicht um das Recht jedes Einzelnen auf Mitwirkung an der (kirchen-)​politischen Willensbildung des Gemeinwesens und (kirchen-)​politische Abstimmungsprozesse geht, sondern – in Konsequenz des allgemeinen Priestertums aller Getauften – um die Teilhabe am Leben von Gemeinde und Kirche, an Verkündigung und Diakonie.17 Demgemäß werden in den Kirchenverfassungen die kirchlichen Mitwirkungs- und Teilhaberechte auch nur „im Rahmen der kirchlichen Ordnungen“ gewährt und damit unter einen Gesetzesvorbehalt gestellt.18 Dadurch erhalten die Mitwirkungs- und Teilhaberechte die rechtliche Qualität von Programmsätzen und Aufträgen, aus denen indes Konsequenzen für das kirchliche Handeln zu ziehen sind.19

Vor diesem Hintergrund ist den Befürwortern von „Grundrechten in der Kirche“ wohl bewusst, dass deren Ausgestaltung „selbstverständlich nicht einfach der Vorstellung von Grundrechten im staatlichen Bereich zu folgen“ hat, sondern sich an Botschaft und Auftrag der Kirche zu orientieren hat.20 Insgesamt gesehen, ist deshalb nicht auszuschließen, dass die Einführung bzw. Qualifizierung kirchlicher Mitgliedschaftsrechte als „Grundrechte“ bei Kirchenmitgliedern und Nichtkirchenmitgliedern mehr Missverständnisse und falsche Erwartungen auslösen kann, als dass diese der sachgerechten Beschreibung des Charakters der (Mit-)​Gliedschaft in der Kirche dienlich wäre.21

4.Das Verhältnis von (Predigt-)​Amt und Gemeinde als Grundfrage lutherischer Kirchenverfassung

Die Architektur einer evangelischen Kirchenverfassung bestimmt sich maßgeblich nach der Zuordnung des Amtes der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung (Predigtamt) und der Gemeinde. Luthertum und reformierte Lehre geben dazu unterschiedliche Antworten:

a)Luthertum

Für das Luthertum ist das Gegenüber des auf Art. 5 CA beruhenden Predigtamtes22 und der Gemeinde kennzeichnend. Wie dieses Gegenüber konkret gestaltet werden kann, lässt sich anhand zweier – einander ursprünglich heftig bekämpfender – Erklärungsversuche aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdeutlichen:23

(1)Stiftungs- oder Institutionstheorie (F. J. Stahl, A. Vilmar, Th. Harnack, Th. Kliefoth, W. Löhe):

Die Vertreter dieser Lehre sehen das Amt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung als eigene göttliche Stiftung an: Es steht als Hirtenamt über der Gemeinde und ist weder von ihr noch aus dem allgemeinen Priestertum der Getauften ableitbar. Vielmehr ist dieses (sacerdotium) – als eine andere Kategorie – strikt vom öffentlichen Predigtamt (ministerium verbi divini) zu unterscheiden. Während das allgemeine Priestertum nur das private Verhältnis des Christen zu Gott bestimmt, ist das Amt eine Institution der Kirche. Die göttliche Stiftung umfasst also auch den Pfarrerstand als solchen, wobei allerdings die konkrete Ausgestaltung des Pfarrerdienstrechts menschliches Recht ist. Das Verständnis des öffentlichen Predigtamts als Hirtenamt bedingt, dass den Amtsträgern nach göttlichem Recht auch die primäre Befugnis zur äußeren Leitung der Kirche zukommen soll – in der Kirchengemeinde ebenso wie auf der Ebene des Kirchenkreises und der Landeskirche.

(2)Übertragungstheorie (G. F. Puchta, L. Richter, A. v. Harless, J. W. F. Höfling):

Im Gegensatz dazu steht die Übertragungstheorie, deren Vertreter zwar nicht die göttliche Stiftung des Predigtamtes leugneten, was wegen Art. 5 CA auch unzulässig wäre, diese göttliche Stiftung aber lediglich auf seine Funktion beschränkt wissen wollen. Predigtamt und allgemeines Priestertum sind demnach nicht unterschiedliche Dinge, sondern entstammen einer gemeinsamen Wurzel: Die Amtsvollmacht ist im allgemeinen Priestertum allen Christen geschenkt. Die Funktionen der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung werden jedoch von der Gemeinde als der Gemeinschaft der im allgemeinen Priestertum Stehenden auf die Inhaber des öffentlichen Predigtamtes übertragen.

Die unterschiedlichen Konsequenzen, die sich je aus diesen Theorien für die Gestaltung einer Kirchenverfassung ergeben, sind erheblich:

Dadurch, dass die Institutionstheorie auch alle Aufgaben der äußeren Kirchenleitung an das geistliche Amt bindet, wird eine aktive Rolle der Gemeindeglieder in der kirchlichen Gemeinschaft stark behindert. Presbyterial-synodale Strukturen machen dann keinen rechten Sinn, weil unter diesen Bedingungen Gemeindeglieder nur Verwaltungshelfer sein können und Synoden nur als „zeugnisgebendes Organ der hörenden Gemeinde“24 oder „Resonanzboden“ des geistlichen Amtes25 erscheinen können; das allgemeine Priestertum tritt stark in den Hintergrund. Demgegenüber ermöglicht die Übertragungstheorie Kirchenvorständen und Synoden die Wahrnehmung nicht nur rechtlicher, sondern auch geistlicher Verantwortung.

Nach alledem braucht wohl nicht eigens dargelegt zu werden, dass sich die Institutionstheorie zumindest in Deutschland in keiner der geltenden evangelisch-lutherischen Kirchenverfassungen mehr wiederfindet. Bemerkenswert ist, dass z. B. in der Kirchenverfassung der ELKB „Amt“ im umfassenden Sinne des der Kirche von Jesus Christus gegebenen Auftrags definiert wird, welches sich in verschiedene Dienste gliedert, den Auftrag zur öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung und die Vielzahl weiterer kirchlicher Dienste in Gottesdienst, Diakonie, Mission, religiöser Bildung, sonstiger Gemeindearbeit und Verwaltung (Art. 12, 14 Kirchenverfassung der Evang.-Luth. Kirche in Bayern). „Die in diese Dienste Berufenen arbeiten im Sinne einer christlichen Dienstgemeinschaft in der Erfüllung des kirchlichen Auftrags zusammen.“

b)Reformiertes Verständnis

Das Gegenüber von Amt und Gemeinde ist reformiertem Verständnis fremd. Dies folgt daraus, dass danach nicht nur das Predigtamt, sondern auch die Ämter des Presbyters, des Lehrers und des Diakons auf biblischer Weisung beruhen. Alle diese Ämter stehen sich in je eigener Würde und Legitimität gegenüber; allen gemeinsam ist es aufgetragen, Kirche zu leiten. Im Presbyteramt ist damit eine Laienbeteiligung an der Gemeinde- und der Kirchenleitung nicht nur – wie im Luthertum – eine Möglichkeit menschlicher Kirchenordnung, sondern biblisches Gebot. Alle Ämter sind in der Synode versammelt, die damit zum obersten Leitungsorgan der Kirche wird. Weil es eines Amtsträgers als Gegenüber zur Gemeinde von vornherein nicht bedarf, ist nach reformierter Auffassung für ein eigenes Bischofsamt neben der Synode kein Raum: Alle kirchenleitenden Ämter und Funktionen leiten sich vielmehr von der Synode ab; die Funktion des leitenden Geistlichen ist in seiner Eigenschaft als Präses der Synode begründet, die von ihr gebildete ständige Kirchenleitung und Kirchenverwaltung handelt im Auftrag der Synode. Man spricht hier vom reformierten Einheitsprinzip, das insbesondere in den Landeskirchen Rheinlands und Westfalens verwirklicht ist, im Unterschied zum lutherischen Trennungsprinzip mit mehreren einander gleichgeordneten synodalen, episkopalen und konsistorialen Leitungsorganen (vgl. dazu auch u. § 55.1).

5.Leitung als geistlicher und rechtlicher Dienst

Nach Artikel 5 KVerf ist in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern „Leitung der Kirche zugleich geistlich und rechtlicher Dienst“26. Damit ist zweierlei gesagt:

a)Die Kirche ist kein Herrschaftsverband weltlicher Art, sondern Christokratie27. In der Kirche, d. h. im Verhältnis der Kirchenmitglieder zueinander, gibt es weder ein „Oben“ noch ein „Unten“. Vielmehr stehen alle Kirchenmitglieder als Teilhaber am allgemeinen Priestertum der Getauften (sacerdotium) dienend unter dem Auftrag Jesu Christi, seine frohe Botschaft in der Welt zu bezeugen.

b)In der Kirche hat jede leitende Handlung unabhängig davon, ob sie auf der Ebene der Kirchengemeinden, der Dekanatsbezirke oder der Landeskirche selbst erfolgt, zugleich eine geistliche und eine rechtliche Dimension. So geschieht die öffentliche Verkündigung von Gottes Wort schon insofern in einem rechtlichen Rahmen als sie nach Art. 14 CA einer ordnungsgemäßen Berufung bedarf, die kirchenrechtlich zu ordnen ist. Umgekehrt darf keine der kirchenrechtlichen Bestimmungen und keine Vollzugshandlung im Bereich der Kirche „wider das Evangelium“ sein (Art. 28 CA). Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Kirchenkampfes im Dritten Reich ist in der auf der Barmer Bekenntnissynode des Jahres 1934 verabschiedeten „Erklärung zur Rechtslage der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche“ formuliert, dass „in der Kirche eine Scheidung der äußeren Ordnung vom Bekenntnis nicht möglich“ ist28. Gleichwohl ist es, um die nach evangelischem Verständnis unterschiedliche rechtstheologische Legitimation der einzelnen Funktionen kirchenleitenden Handelns erfassen zu können, hilfreich, zwischen „geistlicher“ und „äußerer“ Kirchenleitung zu differenzieren.29

Dabei gehören zur „geistlichen Kirchenleitung“ die dem Amt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung (ministerium verbi divini) zugeordneten, in Art. 28 CA aufgezählten Funktionen der Predigt, der Sakramentsverwaltung, der Absolution und der Beurteilung der Lehre. Ausschließlich diese sind gemeint, wenn von den Reformatoren oder in den Bekenntnisschriften (z.B. in Art. 14 CA) der Begriff „Kirchenregiment“ gebraucht wird. Das Kirchenregiment beruht nur insoweit auf göttlichem Recht, als es um die Ausübung des öffentlichen Predigtamtes geht. „Soweit nun die Bischöfe sonst noch Macht- oder Rechtsprechung in anderen Angelegenheiten ausüben, tun sie dies kraft menschlichen Rechts (Art. 28 CA).30 Geistliche Kirchenleitung ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass jede Art von Kirchenleitung, die durch Träger des öffentlichen Predigtamtes ausgeübt wird, darunter fiele; die Begriffe „geistlicher Stand“ und „geistliche Kirchenleitung“ sind keineswegs identisch.31

 

Zur geistlichen Kirchenleitung tritt vielmehr der weitere Bereich der „äußeren Kirchenleitung“ hinzu. Hierunter ist der Bereich der Kirchenleitung zu verstehen, der dazu dient, den göttlichen Auftrag der Kirche zur Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung zu ermöglichen, zu erleichtern und zu fördern. Deshalb hat sie alles zu unterlassen, was der Verwirklichung des göttlichen Auftrags entgegensteht oder ihn hindern könnte. Für die äußere Kirchenleitung bestehen keine Vorgaben nach göttlichem Recht. Dieser Bereich ist vielmehr ganz der menschlichen Rechtsetzung anheimgegeben; entscheidend ist nur, ob die getroffenen Regelungen ihrem Sinn und Zweck entsprechen, nämlich der Verwirklichung des Auftrages der Kirche in der Welt zu dienen.

Die Angelegenheiten der „äußeren Kirchenleitung“ sind freilich in unterschiedlicher Intensität auf die „geistliche Kirchenleitung“ bezogen. Bei den klassischen bischöflichen Funktionen der inspectio, der visitatio und der ordinatio, bei der Gestaltung von Gottesdienstordnungen oder bei der Pfarrstellenbesetzung ist dieser Bezug ganz erheblich stärker ausgeprägt als etwa beim kirchlichen Finanz- oder Bauwesen. Entsprechend dem Grad ihrer Nähe zum Auftrag der Kirche werden deshalb Angelegenheiten im Bereich der „äußeren Kirchenleitung“ auf Ordinierte und Angehörige anderer Berufe übertragen.32