Evangelisches Kirchenrecht in Bayern

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Vorwort

Gut 25 Jahre nach dem Erscheinen der gemeinsam mit Gerhard Grethlein, Hartmut Böttcher und Werner Hofmann verantworteten Erstauflage dieses Buches wird nun endlich eine Neuauflage vorgelegt. Angesichts der Vielzahl der in der Zwischenzeit eingetretenen grundlegenden Rechtsänderungen – von der Reform der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 1999/2000 angefangen bis hin zur erfreulicherweise deutlich fortgeschrittenen Rechtsvereinheitlichung in der EKD – war eine umfassende Überarbeitung unvermeidlich.

Kontinuität zur Vorauflage wird insbesondere unter folgenden Gesichtspunkten gewahrt:

–Selbstverständlich liegt diesem Buch weiterhin die Überzeugung zugrunde, dass das Kirchenrecht eine dienende Funktion zur Erfüllung des der Kirche anvertrauten Verkündigungsauftrags hat. So soll das Kirchenrecht eine Ordnung für Zusammenleben und Zusammenarbeit zur Verfügung stellen, die der Wahrnehmung des kirchlichen Auftrags in der konkreten Situation und unter den Umständen unserer Zeit förderlich ist und die Kirche, Gemeinden und Mitarbeitende vor Schaden bewahrt. Evangelisches Kirchenrecht ist indes weithin Recht der zweckmäßigen Gestaltung und kann bzw. muss ggf. bei sich verändernden Umständen im Interesse wirksamer kirchlicher Aufgabenwahrnehmung auch geändert werden (ecclesia semper reformanda).

–Die Neuauflage folgt den Grundstrukturen der bisherigen Darstellung des evangelischen Kirchenrechts in Bayern, orientiert sich allerdings noch stärker an der Gliederung der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Die Ausführungen von Hartmut Böttcher in der Erstauflage zum Verfassungsrecht, zum Baulastrecht und zum Kirchensteuerrecht (dort §§ 1–11, 49, 63–66) sind mit seinem Einverständnis in wesentlichen Teilen übernommen und lediglich insbesondere unter Einbeziehung der neueren Rechtsetzung und Rechtsprechung fortgeschrieben worden.

–Nach wie vor ist es das Ziel dieses Buches, Studierenden, Vikaren und Vikarinnen, Pfarrern und Pfarrerinnen, Beschäftigten in der kirchlichen Verwaltung sowie allen weiteren beruflichen und ehrenamtlichen Mitarbeitenden unserer Kirche, nicht zuletzt auch den Mitgliedern gemeinde- und kirchenleitender Organe einen möglichst einfachen Zugang zum in und für die Kirche geltenden Recht zu verschaffen, aber auch Verständnis für Notwendigkeit und Grenzen des Rechts zu vermitteln. Denn auch in der Kirche ist den Gefahren einer quantitativ reichen, qualitativ aber eher armen Rechtsetzungspraxis zu begegnen. Vor allem gilt es zu erkennen: Nicht alles und jedes kann und darf förmlich geregelt werden; insbesondere können noch so detaillierte Vorschriften die Vernunft des billig und gerecht denkenden Menschen, die achtsame und um Verständigung und Interessenausgleich bemühte persönliche Kommunikation und den Mut zur Entscheidung nach sorgfältiger Klärung der Sach- und Rechtslage keinesfalls ersetzen! Ob überhaupt eine (zusätzliche) rechtliche Regelung oder eine Rechtsänderung erforderlich ist, sollte zur Vermeidung unnötigen zeitlichen, personellen und finanziellen Aufwands und einer der „Kirche der Freiheit“ nicht gemäßen Überregulierung stets sorgfältig geprüft werden; gerade dafür muss man aber das geltende Recht und die Erwägungen, auf denen es beruht, tatsächlich gut kennen. Nicht selten können im Alltag auftretende Rechtsprobleme durch eine konsequentere Anwendung des geltenden Rechts oder durch schlichte Auslegung gelöst werden. Schon Nikolaus von Kues (Cusanus) hat die Erfahrung gemacht: „Non deficiunt canones, sed executiones.“1

Das Buch ist der Versuch, unterschiedlichen Lesergruppen gerecht zu werden. Für Studien-, Ausbildungs- und Prüfungszwecke kann es – mit den beigegebenen Fallbeispielen und Lösungshinweisen – als Lern- und Arbeitsbuch vor allem zu den Grundsatzfragen des kirchlichen Verfassungsrechts, des Staatskirchenrechts, des Gemeinderechts und des Pfarrdienstrechts genutzt werden. Den in der kirchlichen Verwaltung Tätigen – vom Pfarramt bis zum Landeskirchenamt – soll es als Handbuch und Nachschlagewerk zumindest eine Erstorientierung zu besonders praxisrelevanten Rechtsgebieten geben.

Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, dass ich dieses Buch nicht in dienstlicher Eigenschaft verfasst habe; es wurde vielmehr entscheidend motiviert durch meine nebenamtliche Tätigkeit als Lehrbeauftragter für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Augustana Hochschule Neuendettelsau; dass Erkenntnisse aus 30 Jahren hauptamtlichen juristischen Dienstes in der Kirche eingeflossen sind, dürfte andererseits aber auch kein Nachteil sein.

Sehr erfreulich ist es, dass das „Evangelische Kirchenrecht in Bayern“ wiederum – und wie seinerzeit schon das „Vorgängerwerk“ von Gustav-Adolf Vischer „Aufbau, Organisation und Dienstrecht der Evang.-Luth. Kirche in Bayern“, 1967 – im Claudius Verlag und zudem sowohl gedruckt als auch als E-Book erscheinen kann.

Besonderer Dank gebührt Herrn Johannes Bermpohl, Frau Heike Davidson, Frau Marion Engelke, Herrn Alexander Esser und Frau Susanne Lettau für die Durchsicht der ihren dienstlichen Zuständigkeitsbereich betreffenden Textabschnitte sowie Herrn Oberkirchenrat i. R. Dr. Hartmut Böttcher für das Gegenlesen der von ihm in der Erstauflage bearbeiteten Abschnitte und Herrn Rechtsanwalt Michael Dreßler für seine Unterstützung beim Korrekturlesen. Die dabei gegebenen Hinweise waren für mich sehr wertvoll. Frau Gabriele Sebald danke ich vielmals für die bewährt engagierte und zuverlässige Erstellung des Manuskripts.

Frau Jutta Hollick vom Claudius Verlag und Frau Hildegard Graf bin ich sehr verbunden für die umsichtige Aufbereitung des Manuskripts bis zur Drucklegung.

Dieses Buch widme ich in dankbarer Verbundenheit dem Gedenken an die 2016 heimgerufenen juristischen Oberkirchenräte Dr. Werner Hofmann und Dr. Hermann Krag sowie den vormaligen juristischen Oberkirchenräten Dr. Hartmut Böttcher, Dr. Gerhard Grethlein und Dr. Gerhard Tröger, von denen ich im Münchner Landeskirchenrat und –amt in fachlicher und menschlicher Hinsicht sowie für das eigene Leitungshandeln im Sinne zugleich geistlichen und rechtlichen Dienstes sehr viel lernen durfte.

München, am Reformationstag 2019

Hans-Peter Hübner

1Übersetzung: „An Gesetzen fehlt es nicht, sondern an deren Anwendung und Vollzug.“ Zitiert nach J. Herrmann, „Non deficiunt canones, sed executiones“, in: R. Bartlsperger/D. Ehlers/W. Hofmann/D. Pirson (Hrsg.), Rechtsstaat, Kirche, Sinnverantwortung. Festschrift für Klaus Obermayer zum 70. Geburtstag, München 1986, S. 25–32, sowie in: G. Schiemann (Hrsg.), Johannes Herrmann. Kleine Schriften zur Rechtsgeschichte, München 1990, S. 408–415.

Hinweise zur Benutzung

1. Im Recht kann niemand alle Einzelheiten wissen, schon gar nicht ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und Pfarrer und Pfarrerinnen, die in ihrem Dienst primär das zu tun haben, was ihnen mit der Ordination aufgetragen wurde. Wo es um die (konkrete) Rechtsanwendung und um Einzelheiten geht, hilft ein Nachschlagen in der Rechtssammlung, die für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern vom Landeskirchenrat herausgegeben und seit vielen Jahren von Herrn Jost Heinzel, vormals juristischer Referent im Landeskirchenamt in München, bearbeitet wird. Dieses Buch soll gewissermaßen auch eine Lese- und Orientierungshilfe zur Rechtssammlung sein. Deshalb wird, wenn in einem Abschnitt ein Rechtstext erstmals erwähnt wird, auch die jeweilige Ordnungsnummer der Rechtssammlung (RS) angegeben. Auf das Mitlesen der zitierten rechtlichen Bestimmungen kann auch deshalb nicht verzichtet werden, weil auch künftig Rechtsänderungen nicht auszuschließen sind, und dadurch das Buch in Details zunehmend an Aktualität verlieren wird.

2. Verhältnismäßig umfangreiche Literaturhinweise sollen es ermöglichen, vertieft weiter zu arbeiten und zu einzelnen Themen die Meinungsvielfalt nachzuvollziehen, auf deren Darstellung verzichtet werden musste. Standardwerke der kirchlichen Rechtsgeschichte, des evangelischen Kirchenrechts und des Religionsverfassungsrechts sowie entsprechende Nachschlagewerke und Fachzeitschriften sind als „allgemeine Literatur“ in einer Übersicht auf den einleitenden Seiten dieses Buches zusammengestellt und sind bei späterer, abgekürzter Zitierung durch „A.“ gekennzeichnet. Spezielle weiterführende Literatur (einschließlich Arbeitshilfen des Landeskirchenamtes und anderer Einrichtungen der ELKB sowie des Kirchenamtes der EKD) ist am Ende des jeweiligen Abschnitts angegeben und wird in den Fußnoten regelmäßig in abgekürzter Weise mit der Kennzeichnung „W.“ zitiert.

3. In der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern ist der Nachweis über die Teilnahme an einer kirchenrechtlichen Veranstaltung Zulassungsvoraussetzung für die Theologische Aufnahmeprüfung (§ 5 Buchst. l TheolAufnPO – RS 525, 525/1); im Rahmen der Theologischen Anstellungsprüfung ist „Kirche als Institution und ihr Recht“ mündliches Prüfungsfach (§ 8 Abs. 4 Buchst. c TheolAnstPO – RS 530), worauf die Vikare und Vikarinnen durch entsprechende Kurse am Predigerseminar eingehend vorbereitet werden. Im Hinblick darauf sind den besonders ausbildungs- und prüfungsrelevanten Bereichen des Staatskirchen-, des Gemeinde- und des Pfarrdienstrechts in den jeweiligen Textabschnitten Fallbespiele beigegeben worden, zu denen in Teil D Lösungshinweise angeboten werden.

4. Juristische Fachausdrücke (z.B. „Einvernehmen“, „Benehmen“, „juristische Person“) oder Ausdrücke mit einer in der Rechtssprache spezifischen Bedeutung (z.B. „grundsätzlich“) sind in Texteinschüben unter dem Hinweis „Beachte“ und zusätzlich in einem gesonderten Verzeichnis erläutert. Im Übrigen sind sie über das Sach- und Personenverzeichnis zu erschließen.

 

Einführung

„Von Theologinnen und Theologen kann man mit guten Gründen erwarten, dass sie das Recht im objektiven Sinn als unentbehrliches Mittel der Handlungskoordination wahrnehmen und zugleich nicht nur eigene Rechte einfordern, sondern auch die Rechte anderer als Instanzen wechselseitigen Respekts achten. Von Juristinnen und Juristen kann man erwarten, dass sie den Auftrag der Kirche nicht nur der professionellen Interpretation durch Theologinnen und Theologen überlassen, sondern dessen Interpretation auch aus eigenen Gründen und mit eigenen Mitteln nachvollziehen. Zudem kann man nach wie vor davon ausgehen, dass in der Kirche des Priestertums aller Getauften die Mehrzahl derer, die an der Leitung der Kirche auf all ihren Ebenen beteiligt sind, weder Theologen noch Juristen sind. … Sie sind auch die stärksten Bürgen dafür, dass Leitung der Kirche „geistlich und rechtlich in unaufgebbarer Einheit“ erfolgt. Die Zuversicht, dass dies in der evangelischen Kirche gelingen kann, stützt sich deshalb gerade auf den Grundgedanken evangelischen Kirchenverständnisses: das Priestertum aller Getauften.“

Wolfgang Huber

„Geistlich und rechtlich

in unaufgebbarer Einheit“, ZevKR 63 (2018), S. 12

§ 1Auftrag und Recht der Kirche
1.Der Auftrag der Kirche

„Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern steht mit der ganzen Christenheit unter dem Auftrag, Gottes Heil in Jesus Christus in der Welt zu bezeugen“ (Grundartikel der KVerf – RS 1).

Demgemäß hat die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern „die Aufgabe, Sorge zu tragen für den Dienst am Evangelium von Jesus Christus in Wort und Sakrament, für die geschwisterliche Gemeinschaft im Gebet und in der Nachfolge Jesu Christi, für die Ausrichtung des Missionsauftrages, für das Zeugnis in der Öffentlichkeit, für den Dienst der helfenden Liebe und der christlichen Erziehung und Bildung“ (Art. 1 Abs. 1 KVerf).

Nach dem von der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern bei ihrer Frühjahrstagung im März 2017 eröffneten Kirchenentwicklungsprozess „Profil & Konzentration“1 fokussiert sich der Auftrag der Kirche vor allem auf folgende Bereiche:


Zur Erfüllung dieses Auftrags braucht die Kirche als Institution – wie jede menschliche Gemeinschaft und Organisation – Ordnungen. Im Übrigen ist sie als Institution – zwar nicht von, aber in dieser Welt – im Rahmen der staatskirchenrechtlichen Verfassungsordnung dem „für alle geltenden Gesetz“ unterworfen (vgl. dazu u. §§ 6–13).

Für die Ordnungen, die sich die Kirche kraft ihrer Selbstbestimmung gibt, also für das Kirchenrecht im engeren Sinne2, ist maßgeblich, dass sie dem Wesen der Kirche angemessen Rechnung tragen und ihrem Auftrag dienen. Denn die Kirche hat, wie es – auf Christus bezogen – in der 3. These der Barmer Theologischen Erklärung von 19343 formuliert ist,

„mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte“.

Demzufolge darf die Kirche „die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung“ nicht ihrem Belieben überlassen. Bis zu dieser Erkenntnis war es indes ein langer Weg. Lange Zeit wurde in der Kirche des Evangeliums das Recht als etwas ihr Wesensfremdes angesehen.

2.Martin Luther und Rudolph Sohm

a) In diesem Sinne wurde die Verbrennung des Corpus Iuris Canonici, des damals geltenden kirchlichen Gesetzesbuches, durch Martin Luther, welche zugleich mit der päpstlichen Bannandrohungsbulle am 10. Dezember 1520 vor dem Elstertor in Wittenberg erfolgte4, als Akt der Befreiung, als Bekenntnisakt interpretiert.

In allen Stücken – so Luther – strebe das geistliche Recht „wider das Evangelium“5, sei nicht vereinbar mit der durch dieses Evangelium vermittelten Freiheit. In ähnlicher Weise konnte noch 350 Jahre später der Leipziger Rechtshistoriker und Kirchenrechtslehrer Rudolph Sohm (1841–1917) die These vertreten, das Wesen der Kirche sei geistlich, das des Rechts dagegen weltlich. Das Wesen des Kirchenrechts stehe daher mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch.6

Nicht zuletzt blieb gerade in Deutschland in den Zeiten des landesherrlichen Kirchenregiments die Sorge für die äußere Organisation der Kirche dem Staate überlassen, zumal Luther – im Unterschied etwa zu dem gelernten Juristen Johannes Calvin – ein eigenes System einer Kirchenordnung oder -verfassung nicht entwickelt hatte.

b) Wer Luther und auch die übrigen Reformatoren als Beleg für eine Voreingenommenheit gegenüber dem kirchlichen Recht zitiert, muss allerdings die historische und kirchliche Situation bedenken, in der sie standen und gegen die sie angingen: Nicht das Recht schlechthin stand in ihrer Kritik, sondern dessen Funktion und Bedeutung bei der Vermittlung und Erlangung des Heils, wie sie ihnen in der römisch-katholischen Kirche beigemessen wurden.

Exkurs:

Nach katholischer Auffassung ist die Kirche kraft göttlicher Stiftung nicht nur die Gemeinschaft der Gläubigen, die sich allein auf Gottes Wort gründet und aus dessen Evangeliumspredigt und Sakramentsverwaltung lebt (Art. 7 CA). Auf göttlicher Stiftung beruht vielmehr auch die Kirche als Institution, weil, wie es das Konzil von Trient (1546) formuliert hat, Christus nicht nur als Heilbringer, sondern auch als Gesetzgeber der christlichen Gemeinschaft (Christus redemptor et legislator) verstanden wird. Nach katholischem Verständnis entspringt das Kirchenrecht deshalb in seinen wesentlichen Grundlagen unmittelbar der Stiftung Christi. Freilich ist nicht alles Kirchenrecht als göttliches Recht zu verstehen; es ist vielmehr wie folgt zu unterscheiden:


Naturrecht ist der Inbegriff der von Gott in die Menschen gelegten Grundsätze, die, durch bloße Vernunft erkennbar, überall und immer als Richtschnur menschlichen Handelns gelten und damit die Grundlage allen menschlichen Rechts bilden.

Quellen des Offenbarungsrechts sind die Hl. Schrift und die Tradition, wie sie durch die Apostel überliefert oder aus der Lehre der Kirchenväter der ersten Jahrhunderte und der als Kirchenlehrer erklärten Theologen erkannt wurden.

Das Offenbarungsrecht umfasst vor allem das unveränderliche Grundgesetz der hierarchischen Verfassung der Kirche: Christus hat als göttlicher Stifter die Apostel, an ihrer Spitze Petrus als vicarius Christi, mit der Führung und Leitung der Gläubigen und mit Ordnungsgewalt beauftragt. Ihre Nachfolger sind für die gesamte Kirche der Papst und in Unterordnung unter ihn die Bischöfe in den Diözesen.

Zum ius divinum gehören also neben dem Dekalog das Apostolat, der Primat des Papstes und die apostolische Sukzession sowie die hierarchische Über- und Unterordnung, außerdem die Unterscheidung zwischen den beiden Ständen des Klerus und der Laien und das Eherecht.

3.Reformatorisches Verständnis von Kirche und Recht

Für Luthers Kirchenbegriff ist die Unterscheidung zwischen der ecclesia spiritualis und der ecclesia universalis, die sich in die verschiedenen Kirchtümer der ecclesiae particulares gliedert, bestimmend. Die ecclesia spiritualis ist als die Gemeinschaft der wahren Gläubigen Kirche im eigentlichen Sinne. Sie beruht allein auf der Verkündigung des Evangeliums, der Reichung der Sakramente und der Handhabung der Schlüsselgewalt.

Kirche ist aber nicht nur als ecclesia spiritualis zu begreifen, die -obwohl auf Erden wirklich und am Werk – unsichtbar ist, weil Gott allein weiß, wer zu ihr gehört (ecclesia abscondita). Diese bedarf vielmehr einer „irdischen Schauseite“. Die „leibliche Gestalt“ der ecclesia spiritualis ist die ecclesia universalis, die alle Getauften, Gläubige wie Ungläubige, umfasst. Da diese beiden Gestalten der Kirche eine untrennbare Einheit bilden, bestimmt und prägt vorrangig das geistliche Wesen der ecclesia spiritualis auch die äußere Kirchenorganisation der Universal- und der Partikularkirchen. Die Ordnung der ecclesia universalis muss deshalb dem Geist und den Prinzipien der ecclesia spiritualis entsprechen. So ist das Kirchenrecht aus der Verkündigung heraus und zum Dienst am Wort hin zu ordnen und darf die christliche Freiheit der Gläubigen nicht in „Gesetzlichkeit“, die Gleichheit der Glieder Christi nicht in hierarchische Stufungen (wie zwischen Klerus und Laien) verkehren.

Ganz im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche betonte Luther in Konsequenz der evangeliumsgemäßen Konzentration auf Wort und Sakrament einschließlich der Schlüsselgewalt, dass sämtliche Ordnungen des äußeren Kirchenwesens keinen geistlichen Selbstwert beanspruchen können und nicht heilsnotwendig sind. Sie sind vielmehr menschlicher Vernunft und Gestaltungsfreiheit anheim gegeben und erforderlichenfalls auch änderbar. Göttlichen Rechts ist allein der Auftrag zur Evangeliumsverkündigung, zur Reichung der Sakramente und zur Handhabung der Schlüsselgewalt und daraus resultierend die Einsetzung des Predigtamtes.7

Besonders anschaulich wird Luthers Auffassung von Stellenwert und Notwendigkeit rechtlicher Ordnungen in der Kirche in seiner Vorrede zur deutschen Messe von 1526. Dort stellt er fest:

„Summa, dieser und aller Ordnung ist also zu gebrauchen, dass wo ein Missbrauch draus wird, dass man sie flugs abtue, und eine andere mache – denn die Ordnungen sollen zur Förderung des Glaubens und der Liebe dienen, und nicht zum Nachteil des Glaubens. Wenn sie nun das nicht mehr tun, so sind sie schon tot und abgetan, und gelten nichts mehr, gleich als wenn eine gute Münze verfälscht, um des Missbrauchs willen aufgehoben und geändert wird, oder als wenn die neuen Schuh alt werden und drücken, nicht mehr getragen, sondern weggeworfen und andere gekauft werden. Ordnung ist ein äußerlich Ding, sei sie so gut sie will, so kann sie zum Missbrauch geraten, dann aber ist's nicht mehr ein Ordnung, sondern ein Unordnung, darum steht und gilt keine Ordnung von ihr selbst etwas, wie bisher die päpstlichen Ordnungen gerichtet sind gewesen, sondern aller Ordnung Leben, Würde, Kraft und Tugenden ist der rechte Gebrauch, sonst gilt sie und taugt gar nichts.“8

Die Rechtsordnung wird also durch Luther in keiner Weise missachtet oder gering geschätzt, sondern vielmehr in die Reihe notwendiger Gebrauchsgegenstände eingeordnet, die allerdings niemals zum Selbstzweck werden dürfen.9 Nicht zuletzt ist Luther die friedensstiftende Funktion des Rechts bewusst, wie sie insbesondere in Art. 15 und 28 CA angesprochen wird. Danach bedarf es rechtlicher Ordnungen, die „dem Frieden und der guten Ordnung in der Kirche dienen“, schon deshalb, „damit in der Kirche keine Unordnung und kein wüstes Treiben sei“ – aber eben nicht, um damit Gottes Gnade zu erlangen. Sie sind „um der Liebe und des Friedens willen“ zu halten.

So sind bereits zu Lebzeiten des Reformators, teilweise unter seiner Mitwirkung, zahlreiche Kirchenordnungen entstanden, die in Form einer Agende Zeit, Verlauf und Inhalt des Gottesdienstes sowie die Besetzung kirchlicher Ämter regelten, aber auch Bestimmungen u.a. über die Besetzung kirchlicher Ämter, den Schulunterricht, die Armenfürsorge oder Ehesachen enthielten.10

 

Luther hat selbst immerhin acht solcher Kirchenordnungen verfasst, die allerdings ausschließlich jus liturgicum, aber keinerlei organisationsrechtliche Bestimmungen enthalten: Es handelt sich dabei um drei Gottesdienstordnungen, zwei Taufordnungen, zwei Ordinationsordnungen und eine Trauordnung.11 Kirchenordnungen mit juristischem Inhalt hat er nicht hinterlassen. Dass er aber durchaus Regelungsbedarf für äußere Dinge gesehen hat, zeigt sich an der von ihm inspirierten und mit einem Vorwort versehenen Leisniger Kastenordnung (1523)12, deren Anliegen es war, die zwecklos gewordenen Stiftungen des altkirchlichen Kultus – insbesondere die Stiftungen für Seelenmessen – einer neuen sinnvollen Bestimmung zuzuführen und in einem „Gemeinen Kasten“ zu zentralisieren.13

Im Übrigen aber hat Luther den organisatorischen Ausbau der Kirche im Einzelnen anderen überlassen, von denen die Gesetzgebungsarbeit im technischen Sinne geleistet wurde. In diesem Zusammenhang ist vor allem Johannes Bugenhagen (1485–1558) zu nennen, der das Kirchenwesen nicht nur einer Anzahl norddeutschen Territorien, sondern auch Dänemarks maßgeblich gestaltet hat.

Im Ergebnis gehen auf Luther zwar nicht Einzelheiten, aber tragende Grundsätze des kirchlichen Verfassungsrechts zurück. Zu diesen Grundsätzen gehört insbesondere auch, dass kirchliches Recht in seiner dienenden Funktion gegenüber dem Verkündigungsauftrag, als „Recht der Liebe“ („res publica ecclesiastica unica lege caritatis instituta est“) nicht von Macht, sondern vom Gebot der Liebe und dem Gedanken des Dienstes getragen sein soll.14

Als Dienst versteht Luther vor allem den Dienst des Landesherrn, dessen Autorität er nach dem Wegfall der kirchlichen Obrigkeit für die Durchführung der Visitation in Anspruch nimmt, als Notbischof, welchen dieser nicht kraft seiner weltlichen Herrschaftsgewalt, sondern – übrigens nach dem Rat der Theologen – als hervorgehobenes Mitglied der Kirche ausüben soll. Nur in diesem Sinne war ein landesherrliches Kirchenregiment für Luther akzeptabel. Spätere Begründungen des landesherrlichen Kirchenregiments, insbesondere das Territorialsystem, wonach der Landesherr schon aufgrund seiner Territorialgewalt die Herrschaft auch über die Kirche oder gar ein ius papale für sich in Anspruch nahm, hätte er nicht gebilligt. Wie auch immer: Dadurch, dass Luther die praktische Durchführung der Reformation auch angesichts der damals weitgehenden Identität von Bürger- und Christengemeinde der weltlichen Obrigkeit überließ, wurden die Organisationsstrukturen des lutherischen Kirchenwesens zum Gegenstand des staatlichen Rechts.

Eine intensivere Beschäftigung des Luthertums mit dem Kirchenrecht und der Kirchenverfassung setzte erst ein, als die konfessionelle Geschlossenheit der deutschen Territorien infolge der Napoleonischen Kriege aufgebrochen wurde und sich – wie z. B. in Bayern – lutherische Kirchengemeinschaften in fremdkonfessionell regierten Staaten wiederfanden. Ein bleibendes Verdienst von ausgesprochenen Vertretern des lutherischen Konfessionalismus, allen voran von Wilhelm Löhe, ist es, dass sie in besonderem Maße Fragen der Kirchenverfassung thematisierten und lange vor dem Ende der Monarchie die Ablösung des landesherrlichen Kirchenregimentes forderten.15