Grundkurs Soziologie

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In seiner – in Zusammenarbeit mit seinem Freund Friedrich Engels (1820–1895) entwickelten – Theorie des »historischen Materialismus« stellt er das Gedankengebäude Hegels »auf den Kopf« und wählt als analytische Basis die »materiellen« Bedingungen des Lebens. Danach sind die jeweiligen religiösen, ideologischen und politischen Strukturen einer Gesellschaft nur von der Struktur ihrer Basis, d. h. von den Strukturen der materiellen Produktion her einsichtig zu machen und zu verstehen. In anderen Worten: Nicht das Bewusstsein der Menschen prägt ihr Sein, sondern umgekehrt bestimmt ihr gesellschaftliches Sein ihr Bewusstsein. Marx’ Ziel ist von daher die Anbahnung eines permanenten Entideologisierungs- und Selbstaufklärungsprozesses der Gesellschaft.

Marx bleibt jedoch nicht bei der bloßen Ideologiekritik stehen, sondern geht noch einen Schritt weiter zur revolutionären Praxis. Demnach ist die Entwicklung der Gesellschaft bestimmt durch einen dialektischen, d. h. in Widersprüchen sich vollziehenden Prozess, der durch ökonomische Faktoren ausgelöst und in seinem Fortgang bestimmt wird:

»Diese wirtschaftlichen Faktoren sind die Produktionsmittel und die Produktionsformen, die zu den Mitteln gehören. Jedes System wirtschaftlicher Produktion ist zunächst einmal ›richtig‹ für die Produktionsmittel einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes und schafft sich seine soziale Ordnung und seinen ganzen ›Überbau‹ von Politik, Recht, Kunst, Wissenschaft, Religion und Philosophie samt dem Selbstverständnis, den Regeln und Sitten der Bevölkerung. Es ist eine ›These‹. Doch schon erscheint die ›Antithese‹ in Gestalt technischen Fortschritts und neuer, besserer Produktionsmittel. Die alten Produktionsformen und die alte soziale Ordnung hindern die Entwicklung der neuen, bis diese stark genug geworden sind, durch eine soziale Revolution die neuen Produktionsmittel einzuführen – und damit eine neue Ordnung wirtschaftlicher Produktion und eine neue soziale Ordnung. Dies ist dann die ›Synthese‹, die im Laufe der weiteren Entwicklung zur ›These‹ wird« (Seger 1970, 40).

Die Auseinandersetzung zwischen den alten und den neuen Produktionsmitteln wird auf der gesellschaftlichen Ebene im Klassenkampf abgebildet. Die neuen Mittel werden jeweils durch die neu aufgestiegene Klasse vertreten: »Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten« (Marx). Entsprechend formuliert Marx das allgemeine »ökonomische Bewegungsgesetz« für sozialen Wandel: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«. Auf die Epoche der Sklaverei folge die der Fronarbeit im Feudalismus und schließlich die Gesellschaftsformation der kapitalistischen Produktionsweise.

Für Marx’ Diagnose seiner Zeit bedeutete dies, dass die bürgerliche Gesellschaft, die »Bourgeoisie« wie er sie voller Verachtung nannte, mit ihrer kapitalistischen Produktion und der Erzeugung eines falschen Bewusstseins die »These« präsentierte, die proletarischen Arbeiter dagegen als »Antithese« die zukünftigen sozialistischen Gesellschaftsformen verhießen. Der soziale Antagonismus zwischen der durch Zentralisation und Konzentration des Kapitals immer kleiner werdenden Klasse der Kapitalisten und der proportional immer größer werdenden Klasse der immer mehr verelendenden Proletarier polarisiere sich schließlich so, dass nur noch die proletarische Revolution die »Synthese« bringen könne: Das Proletariat übernimmt durch die »Expropriation der Expropriateure« revolutionär die Produktionsmittel, eliminiert die Bourgeoisie und verwirklicht schließlich als letzte der in der Weltgeschichte auftretenden sozialen Klassen die »klassenlose Gesellschaft«. In dieser letztlich »kommunistischen Gesellschaft« wird es nach Marx dann keine Spannungen, keine Klassenbildung und auch keine weiteren Revolutionen mehr geben, da sich diese Gesellschaftsstruktur ständig mit den wechselnden Produktivkräften verändere. Erst dort könne sich das Individuum frei von materiellen und geistigen Zwängen entfalten.

Unter der Annahme, der Mensch verhalte sich ebenso berechenbar wie Elemente in der Natur, war Marx davon überzeugt, der historische Ablauf sei ebenso determiniert wie natürliche Vorgänge, für freie menschliche Entscheidung bleibe deshalb wenig Raum. Von daher war er sicher, den naturgesetzlich festliegenden Ablauf der Geschichte erkannt zu haben, d. h. das Bestimmungsziel aller gesellschaftlichen Prozesse vorhersagen zu können.

Wir wissen heute, dass die Voraussagen von Marx großteils und gerade in entscheidenden Punkten falsch waren und nicht eingetroffen sind, und zwar nicht nur seine utopischen Prophezeiungen, sondern auch seine kurzfristigen wirtschaftlichen Prognosen. Dennoch liegt die Bedeutung von Marx auch noch für die heutige Soziologie vor allem darin, dass er Fragen aufgeworfen hat, die grundsätzlich immer wieder neu zu stellen und zu untersuchen sind, nämlich:

 Inwieweit wirkt sich der gesellschaftliche Standort (= die Klassenlage in der Terminologie von Marx) auf die Art und Struktur des Denkens aus? Kann das Auftreten oder Fehlen bestimmter geistiger Ideen aus gesellschaftlichen Umständen erklärt werden?

 Welchen Einfluss nehmen ökonomische Faktoren auf das übrige soziale Geschehen und welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft bzw. Politik?

 Welche Funktionen haben soziale Konflikte in der Gesellschaft? Welche Verlaufsformen entwickeln sie? Wie werden Gesellschaften zusammengehalten, wenn ihre Teile in dauerndem Konflikt miteinander stehen?

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Karl Marx«, S. 309–316). Westdt. Verlag: Opladen.

Iring Fetscher (1985): Karl Marx und der Marxismus. Von der Ökonomiekritik zur Weltanschauung. (Darin insbes. S. 16–43). 4. Aufl. Piper: München.

Karl Marx & Friedrich Engels (1981): Manifest der Kommunistischen Partei I. Bourgeois und Proletarier. In Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie. (Band I: Aufklärung, Liberalismus, Idealismus, Sozialismus, Übergang zur industriellen Gesellschaft, mit Quellentexten). 2. Aufl., S. 401–408. Westdt. Verlag: Opladen.

Oskar Negt (2007): Karl Marx. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 273–293. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.

Karl R. Popper (2003): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. 8. Aufl. Mohr (Siebeck): Tübingen.

*

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Unterschiede in den Problemstellungen und in den Antwortversuchen bei den Begründern und »Großvätern« der Soziologie im 19. Jahrhundert – exemplarisch dargestellt anhand der soziologischen Perspektiven von Comte, Spencer und Marx – noch sehr viel größer sind als in der heutigen Soziologie. Unsere etwas saloppe, jedoch nicht respektlos gemeinte Bezeichnung »Großväter der Soziologie« bezieht sich daher eher auf die Gemeinsamkeit des Alters als die der intellektuellen Tradition. Andererseits gibt es aber auch Gemeinsamkeiten, die diese Gründungsphase der Soziologie charakterisieren. Sie sind vor allem in der gemeinsamen Suche nach den Grundlagen des sozialen Wandels, insbesondere nach den Hauptfaktoren der krisenhaften Veränderungsprozesse von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft zu erkennen.

Diese Suche nach der Idee der »natürlichen« Gesetzmäßigkeit aller gesellschaftlichen Dynamik wurde zum typischen Merkmal für die Makrosoziologie des 19. Jahrhunderts. Soziologie wurde hierbei je nach Akzent als universale Wissenschaft vom gesamtgesellschaftlichen Wandel verstanden. Ihren Ausdruck fand sie dann in den Varianten einer linearen Fortschrittstheorie oder auch eines evolutionären Fortschrittsglaubens. Denn soviel auch Comte, Spencer oder Marx von »positiven«, »wissenschaftlichen« oder »materialistischen« (was übrigens Marx synonym mit »empirisch« verstanden wissen wollte) Tatsachen sprachen, so war ihre neue Wissenschaft doch vom Ausgangspunkt und vom Ziel her – offen oder versteckt – eher eine Gesellschaftsphilosophie als eine objektive sozialwissenschaftliche Analyse.

So sieht man – trotz unstreitig bedeutender Einsichten und Beiträge der soziologischen »Großväter« – viele ihrer Aussagen und Folgerungen als zu einseitige Spekulationen an, »weil sie sich entweder zu stark auf Abstraktion stützen oder irgendwelche natürlichen Charakteristika oder auffallenden Formen in den Vordergrund stellen und alle Beobachtungen diesen Vorstellungen unterordnen« (Barley 1978, 3).

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Helmut Klages (1972): Geschichte der Soziologie (Darin 4. Kapitel »Europäische Soziologie im 19. Jahrhundert seit der industriellen Revolution«, S. 65–94).. 2. Aufl. Juventa: München.

Volker Kruse (2012): Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 2 »Soziologie im 19. Jahrhundert: Comte, Spencer, Marx«, S. 29–73). 2. Aufl. UVK: Konstanz.


1.5.3Soziologie als Erfahrungswissenschaft: Die Klassiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts

War es das große Verdienst der soziologischen Gründungsväter, die beobachtbare soziale Wirklichkeit als das eigentliche Feld des soziologischen Forschens bestimmt zu haben, so war es einer neuen Generation von Sozialwissenschaftlern vorbehalten, die Dimensionen und Grenzen dieses Feldes auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage inhaltlich und methodisch präziser zu bestimmen. Diese gemeinhin als »Klassik der Soziologie« bezeichnete Epoche begann mit dem Ende des 19. Jahrhunderts und ging schon in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu Ende. Dies hing zusammen mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und den unglücklichen Folgen nationaler Isolierungen sowie mit der bei allen akademischen Disziplinen üblichen Herausbildung von meist an bestimmten Denktraditionen bzw. deren Protagonisten orientierten wissenschaftlichen »Schulen«, die sich auf verschiedene Theorien oder methodische Positionen versteiften und sich auch teilweise (bis heute noch) entschieden »bekämpften«.

 

Als wichtigste Vertreter der klassischen Periode der Soziologiegeschichte sind hier – zumindest im europäischen Raum – vor allem zu nennen:

 Max Weber (1864–1920),

 Georg Simmel (1858–1918),

 Vilfredo Pareto (1848–1923) und

 Emile Durkheim (1858–1917).

Überblickt man das Lebenswerk dieser soziologischen Klassiker am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so ist kennzeichnend, dass diese Autoren zunehmend klarere Vorstellungen über die tatsächlichen theoretischen und methodischen Schwierigkeiten gewannen, die komplizierten Verwicklungen und Verflechtungen innerhalb sozialer Gruppen oder gar ganzer Gesellschaften zu entwirren, sich aber dennoch ohne Illusionen auf dieses gewagte Forschungsabenteuer einließen. In ihrer Zeit entstand die Soziologie als eine echte Wissenschaft von der Gesellschaft, konzipiert als Erfahrungswissenschaft, die auf Beobachtung, systematischem Vergleich und Experiment aufbaut. Wenn auch die Soziologie damals noch kaum als eigenständiges Fach an den Universitäten gelehrt wird, sondern meist in Verbindung mit Nationalökonomie, Staatswissenschaften oder Pädagogik in Erscheinung tritt, so wird mit dieser »klassischen« Periode doch die allmähliche universitäre Verortung und Institutionalisierung der Soziologie zumindest vorbereitet. Für ihre Vertreter bedeutete dies u. a., dass sie nicht mehr wie die früheren soziologischen Denker »sich als freie Schriftsteller und Privatgelehrte allein gegen die ganze Welt stellen mussten« (Seger 1970, 58), sondern in ihrer Forschung und Lehre auch einen gewissen akademischen Rückhalt fanden.

Und noch etwas wird für die Soziologen dieser Generation charakteristisch: Sie wenden sich nicht nur den notwendigen erkenntnistheoretischen und methodologischen Problemen zu, sondern sie befassen sich auch sehr eingehend mit den aktuellen sozialen Fragen ihrer Zeit: z. B. mit dem Problem der Armut (Simmel), der sozialen Lage der Landarbeiter, den Produktionsbedingungen in den Webereien oder auch – grundsätzlicher – mit dem Zusammenhang zwischen protestantischer Religion und kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung (Weber), mit der Rolle der Eliten in der Gesellschaft (Pareto) oder etwa mit möglichen sozialen Einflüssen auf die Selbstmordraten (Durkheim).

Diese Autoren beschränkten sich jetzt darauf, konkrete Aussagen über die soziale Wirklichkeit zu machen und wandten sich somit der Erforschung des sozialen Alltags zu, statt von irgendeinem fiktiven Punkt aus allumfassende Theorien über gesellschaftliche Strukturen und Entwicklungen zu wagen und nicht minder vage Prognosen in eine ferne Zukunft zu formulieren. Dadurch gewann der Einzelne nicht als »reines« Individuum (denn dies ist ja der Forschungsgegenstand der Psychologie), sondern in Verbindung mit anderen als sozial und kulturell geprägte Persönlichkeit, auch verstärkt soziologische Beachtung. Neben der Frage, was für die verschiedenartigen sozialen Gebilde, Gewebe und Verflechtungen konstitutiv wird – also der immer wieder neu gestellten Frage nach dem Rätsel des sozialen Zusammenhalts und seinen zwischenmenschlichen Variationen – erregte das besondere Interesse der Klassiker die Frage nach den wichtigsten Kennzeichen des sozialen Handelns des Menschen, gleichsam verstanden als kleinste soziale Einheit oder molekularer Baustein des Sozialen.


1.5.3.1Max Weber

Für Max Weber ist das soziale Handeln des Individuums deutlich und »subjektiv sinnvoll« auf einen anderen Menschen bezogen: ein Mensch, der einem anderen Menschen Hilfe suchend oder liebend begegnet; ein Mensch, der einen anderen übervorteilt oder an ihm feindselig seine Aggressionen abreagiert; ein Mensch, der einem anderen über die Ladentheke hinweg eine Ware verkauft oder ihn am Büroschalter berät; einer, der auf ein Podium steigt, sich den Hörern zuwendet und zu ihnen spricht oder einer, der sich an den dort befindlichen Flügel setzt und dem versammelten Publikum Beethovens »Pathétique« interpretiert. Aber: »Nicht jede Art von Berührung von Menschen ist sozialen Charakters, sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des anderen orientiertes eigenes Verhalten. Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z. B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wären ihr Versuch, dem anderen auszuweichen, und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung ›soziales Handeln‹« (Weber 1960, 19).

Nach Weber, dessen Soziologie auch »Verstehende Soziologie« genannt wird, erfassen wir das soziale Handeln eines anderen, wenn wir es auf eigene seelische Erlebnisse und Erfahrungen beziehen. (Von daher wird Weber gelegentlich auch unter die »psychologistischen« Soziologen eingereiht, – eine Etikette, die seinem Gesamtwerk jedoch nicht gerecht wird.) Doch wenn dieses Verstehen auch mehr oder weniger »psychologisch« evident ist, ist es noch nicht unbedingt empirisch gültig. Die evidenteste Interpretation muss nicht zwangsläufig auch die richtige sein. Wahrscheinlichkeit und Wahrheit sind nicht notwendigerweise deckungsgleich. Indem Weber deshalb die geisteswissenschaftliche Methode des Verstehens mit der naturwissenschaftlichen Logik des Erklärens verknüpft, will er – einem Gedankengang Heinrich Rickerts folgend – die »Besonderheit« und »Objektivität« der Soziologie begründen (vgl. Bernsdorf 1980).

Da es für die Soziologie leider kein unmittelbares Erfassen ihrer Gegenstände und auch keine Möglichkeit zur Bestimmung eindeutiger Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gibt, will Weber die Gültigkeit des Verstehens und Erklärens mit Hilfe des sogenannten »Idealtyps« überprüfen. Der Idealtyp ist bei ihm ein konstruierter Begriff, eine gedanklich zugespitzte, überprägnante Idee, die aus der Komplexität der Wirklichkeit einige konstitutiv erscheinende Faktoren als »rein« ausgeprägte hervorhebt, sie also im logischen (nicht unbedingt auch im moralischen) Sinne »ideal« erscheinen lässt, wobei störende und widersprüchliche Aspekte ignoriert werden. Beim Idealtyp handelt es sich also primär um einen heuristischen Begriff, der gewonnen wird »durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde« (Weber 1956, 235).

Indessen sind die konstruktiven Begriffe der Soziologie für Weber nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich idealtypisch, so dass das reale soziale Handeln in den meisten Fällen »in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ›gemeinten Sinns‹« (Weber 1960, 18) verläuft. Die richtige ursächliche Erklärung eines konkreten Handelns bedeutet also, dass der äußere Ablauf und das zugrunde liegende innere Motiv in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt werden.

Hierfür entwickelt Weber folgende Typologie des sozialen Handelns:

 beim zweckrationalen Handeln wird der eigene Zweck des handelnden Individuums gegenüber den Mitteln rein vernunftmäßig abgewogen;

 beim wertrationalen Handeln wird der Handelnde motivisch von einem irrational gesetzten Wert bestimmt;

 beim affektuellen Handeln sind Ziel und Verlauf des Handelns Ergebnisse augenblicklicher Gefühle und Stimmungslagen;

 beim traditionalen Handeln schließlich beruht das Verhalten auf »eingelebten Gewohnheiten« und irrationalen Überlieferungen.

Entsprechend wird bei Weber die Soziologie zu einer »Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (Weber 1960, 5).

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Max Weber«, S. 176–250). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

Hans Norbert Fügen (1992): Max Weber mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt: Reinbek.

Dirk Kaesler (1999): Max Weber. In Dirk Kaesler, Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 190–212. Beck: München.

Hermann Korte (2011): Einführung in die Geschichte der Soziologie. (Darin »Der Mythos von Heidelberg: Max Weber«, S. 97–116). 9. Aufl. VS: Wiesbaden.

Volker Kruse (2012): Geschichte der Soziologie. (Darin Kapitel 3.5 »Max Weber«, S. 138–163). 2. Aufl. UVK: Konstanz.


1.5.3.2Georg Simmel

Auch in Georg Simmels theoretischem Ansatz stehen im Mittelpunkt des soziologischen Interesses die Prozesse des sozialen Handelns. Soziales Handeln verbindet die Individuen in typischer Weise untereinander und erzeugt wechselseitige Beziehungen, die zu unterschiedlichen sozialen Gebilden kristallisieren können. Hierbei vermischt Simmel bewusst die »subjektive« mit der »objektiven« Bedeutung von sozialen Handlungen und sucht vorrangig nach »Typen« oder »Klassen« von Beziehungsformen, unabhängig davon, welche Bedeutung die handelnden Menschen diesen zeitlosen »Formen der Vergesellschaftung« beimessen.

Gleich, was die Menschen miteinander verbindet oder was sie voneinander abstößt, wie sie sich aufeinander einstellen, sich miteinander einlassen, aufeinander zugehen oder miteinander streiten, – die gleichen formalen Beziehungsformen sind in allen sozialen Verbänden, ob familiärer, religiöser, politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Art nachweisbar. Simmel wird von daher zum Begründer einer »formalen Soziologie«, die als ihren Gegenstand nur die zwischenmenschlichen Beziehungen wie Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Streit, Nachahmung, Parteibildung, aber auch Neid, Eifersucht u. Ä. anerkennt und gelten lässt.

Soziales Handeln und damit Gesellschaft ist bei Simmel schlechterdings »überall da existierend, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten«. Von daher wird bei ihm zum konstitutiven Element der Soziologie die soziale Gruppe, die er wie kein anderer vor ihm feinsinnigen qualitativen und vor allem auch quantitativen Detailanalysen unterzieht, von denen die zeitgenössische Soziologie immer noch profitiert. Dies gilt insbesondere für seine klassische Studie des »Streits« als einer Form sozialen Handelns, die ihn zu einem Begründer der soziologischen Konflikttheorie werden ließ.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Werner Jung (1990): Georg Simmel zur Einführung. Junius: Hamburg.

Birgitta Nedelmann (1999): Georg Simmel. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. Bd. 1, S. 127–149. Beck: München.

Otthein Rammstedt (2007): Georg Simmel. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 389–407. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.


1.5.3.3Vilfredo Pareto

Anders als in der Vorstellung von Weber betont der italienische Soziologe Vilfredo Pareto in seinem theoretischen Ansatz die irrationalen und nicht-logischen Quellen des menschlichen Verhaltens. Er sieht das soziale Handeln überwiegend von Gefühlen und Glaubensvorstellungen her bestimmt, wobei das Individuum sich solcher irrationalen Wurzeln des Handelns meist nicht bewusst ist, sondern vielmehr von der »Wahrheit« der überformenden Sinngebungen und der »Logik« seiner Rationalisierungen überzeugt scheint. Pareto erklärt »den geringen Grad von Folgerichtigkeit in der Praxis des sozialen Lebens aus dem großen Einfluß von Residuen (Überbleibseln) und Derivationen (Ableitungen). Jene äußern sich in Instinkten, Gefühlen und dem, was die heutige Psychiatrie ›Komplexe‹ nennt; Derivationen sind die Ideologien, die mehr in Einklang mit den Residuen als mit Erfahrung und Logik stehen« (v. Wiese 1954, 100). »Residuen« sind somit relativ stabile Antriebskräfte und Motivstrukturen, »Derivate« eher variable Ausdrucksformen von Meinungen und Alltagstheorien.

 

Unter diesen Voraussetzungen sieht er das soziale Handeln als einen Vorgang an, der bestimmt ist von Gewohnheiten, Interessen, aber auch von Leidenschaften und Gefühlen, die zwar beobachtbar und messbar sind, denen jedoch eigentlich erst im Nachhinein ein bestimmter Sinn und eine Rechtfertigung unterlegt wird. »Am Beispiel eines beliebigen, wohlerzogenen Mannes, der einen Salon betritt, seinen Hut abnimmt, einige Worte spricht und bestimmte Bewegungen ausführt, entwickelt Pareto so wesentliche Variablen seiner Analyse. Denn wenn man diesen Mann nach dem Warum seines Verhaltens fragte, so könnte er nur erwidern: das ist so Brauch. Man kann leicht zeigen, dass er sich ganz analog in zahllosen Situationen verhält, die gesellschaftlich von viel weitreichenderer Bedeutung sind« (Eisermann 1973, 28).

Die sozial überwiegend nicht-logisch handelnden Individuen werden gesellschaftlich und politisch von einer Machtelite zusammengehalten, wobei in Anlehnung und Überwindung der älteren Analogie von Gesellschaft und Organismus (z. B. bei Spencer) Pareto die Vorstellung von der Gesellschaft als einem dynamischen System entwickelt, das sich im Gleichgewicht hält oder zumindest immer wieder zum Gleichgewicht tendiert, – eine Vorstellung, die dann von der modernen Systemtheorie wieder aufgenommen wurde und auf die wir später noch zu sprechen kommen (vgl. Abschnitt 3.2).

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Vilfredo Pareto«, S. 96-175). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

Maurizio Bach (2007): Vilfredo Pareto. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 331–337. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.

Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Vilfredo Pareto«, S. 385–392). Westdt. Verlag: Opladen.


1.5.3.4Emile Durkheim

Der französische Soziologe Emile Durkheim, der übrigens als erster Soziologe überhaupt 1896 in Bordeaux einen eigens eingerichteten Lehrstuhl für Soziologie und Pädagogik erhielt und dann ab 1902 an der Sorbonne in Paris lehrte, betont schließlich – ähnlich wie Simmel – die Bedeutung der Gruppe bzw. des Kollektivs für das soziale Handeln. Er will das soziale Handeln wie »Tatsachen« betrachten, die außerhalb des Individuums liegen, eine »Wirklichkeit eigener Art« darstellen und als Ausdruck »kollektiver Vorstellungen« von äußeren Zwängen, Verpflichtungen, Geboten, Sitten u. Ä. bestimmt werden: »Weit davon entfernt, ein Erzeugnis unseres Willens zu sein, bestimmen sie ihn von außen her; sie bestehen gewissermaßen aus Gussformen, in die wir unsere Handlungen gießen müssen« (Durkheim 1961, 226). Durch die mehr oder weniger von außen auferlegten Zwänge wird soziales Handeln zu einem »soziologischen Tatbestand« (»fait social«).

Da er davon ausgeht, dass sich gesellschaftliche Vorgänge nicht auf individualpsychologische Phänomene reduzieren lassen und er vielmehr »Soziales nur durch Soziales erklären« will, legt er dem Sozialen ein solches Gewicht bei, dass er sich dem Vorwurf des »Soziologismus«, d. h. der einseitigen Betonung der gesellschaftlichen Bedingtheit und Abhängigkeit menschlichen Denkens und Handelns, ausgesetzt sah.

Für Durkheim ist eine soziale Gruppe oder auch die Gesellschaft immer mehr als die Summe ihrer Teile, d. h. mehr als die Summe ihrer individuellen Mitglieder. Dieses »Mehr« bezeichnet er als »kollektives Bewusstsein«, das zugleich so etwas wie das Gewissen der Gruppe ist und sich als eine moralische, sittliche oder religiöse Kraft niederschlägt, die in ihren Wirkungen deutlich bei den Individuen der jeweiligen Gruppe (z. B. im Bereich der Sozialisation und Erziehung) nachweisbar sei.

Die gesellschaftliche Entwicklung folgt nach Durkheim einer sozialen Evolution, die von der auf der Gemeinsamkeit von Ideen, Gefühlen und Traditionen beruhenden »mechanischen Solidarität« der Menschen in einfacheren Gesellschaften sich zu einer »organischen Solidarität« der Menschen in zivilisierten und industrialisierten Gesellschaften gewandelt habe und die hier vor allem auf der hoch entwickelten Arbeitsteilung, der weitgehenden Differenzierung der Persönlichkeiten und dem Vorherrschen vertraglicher Beziehungen beruhe.

Die Erschütterung und den Zusammenbruch der Gruppenmoral und damit der sozialen Ordnung nennt Durkheim »Anomie«, deren differenziertes Ausmaß er exemplarisch anhand von Selbstmordraten in seiner Theorie des Selbstmords (Le Suicide, 1897) empirisch zu belegen und zu klassifizieren versucht. Aus Überidentifikation mit Systemnormen kann so ein altruistischer Selbstmord resultieren, der am häufigsten in einfachen Gesellschaften und vorindustriellen Hochkulturen auftritt, wo sich das Individuum dem Kollektiv noch besonders stark verpflichtet fühlt. Der egoistische Selbstmord ist dagegen eher für die moderne Gesellschaft typisch, da in ihr bei hochgradiger Subjektivierung der Bindungen die kollektiven Integrationsleistungen eher schwach ausgeprägt sind. Der anomische Selbstmord (wie auch der fatalistische, den Durkheim allerdings nicht weiter behandelt) weist dagegen auf einen Zusammenbruch bisheriger Regelungen und sozialer Orientierungen hin, wie dies etwa bei wirtschaftlichen Depressionen oder bei Umbrüchen gesellschaftlich-politischer Systeme zu beobachten ist: Die bislang verlässliche Ordnung gilt nicht mehr und eine neue, sozial verbindliche Regulation ist noch nicht installiert, – Zustände, wie sie beispielsweise beim Zusammenbruch der sozialistisch-kommunistischen Ostblockstaaten in den 1990er-Jahren zu beobachten waren.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Emile Durkheim«, S. 19–95). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Emile Durkheim«, S. 91–96). Westdt. Verlag: Opladen.

René König (1976): Emile Durkheim. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens. Bd. 1, S. 312–364, 401–444, 501–508. Beck: München.

Hans-Peter Müller (2007): Emile Durkheim. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 90–111. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.

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Der knappe Exkurs in die Soziologiegeschichte zeigt uns, dass Soziologie in der Krise der modernen Gesellschaft ihren Ausgang genommen hat: In den tiefgreifenden Wandlungsprozessen und rapiden Veränderungen, die in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten vor allem die industrialisierten westlichen Gesellschaften erfasst haben und sich auf unseren Alltag unmittelbar oder mittelbar auswirken. Dazu gehören alle Merkmale der modernen sozialen Welt, wie die atemberaubenden wissenschaftlichen und technologischen Umbrüche, die gravierenden und folgenschweren Veränderungen unserer Arbeitswelt, die Art und Weise des Wohnens in zunehmend urbanisierten Umwelten, die Tendenzen zur umfassenden Informationsvernetzung und ökonomischen Globalisierung, der Zusammenbruch alter und das Aufkommen neuer politischer Systeme, aber auch die neuen Herausforderungen durch zu Ende gehende natürliche Ressourcen und durch Energiekrisen usw. All diese gesamtgesellschaftlichen Veränderungen erfassen auch die sozialen Subsysteme und Institutionen und wirken fort bis hinein in unsere private Lebensführung. Insofern wird Soziologie auch zu Recht als »Krisenwissenschaft« oder »Gegenwartswissenschaft« bezeichnet, da sie vor allem moderne, d. h. industrialisierte Gesellschaften mit ihren vielfältigen Wandlungsprozessen und deren Folgen systematisch analysiert.

Im Laufe unserer weiteren Überlegungen werden wir immer wieder bestimmten Grundgedanken und theoretischen Perspektiven der Klassiker der modernen Soziologie begegnen. Die knappen Skizzen zu ihrem mehr oder weniger unterschiedlichen Verständnis von »sozialem Handeln« wie beispielsweise die wichtige Unterscheidung zwischen beabsichtigten, sozial »sinnhaften« und unbeabsichtigten Resultaten menschlichen Handelns und Verhaltens bei Max Weber sollten dabei zeigen, wie die Gründungsväter der modernen Soziologie dieses Konzept auch als Schlüssel zum Verstehen gesellschaftlicher Vorgänge und Zusammenhänge, gewissermaßen als Basiskategorie des Sozialen überhaupt begriffen. Damit haben diese Autoren das Interesse an den Grundelementen des Gesellschaftlichen zu wecken verstanden, an die sich seither die Forschung aus den verschiedensten Richtungen – fantasievoll und distanziert von vorgeformten Ideen und pauschalen Vorurteilen – heranzutasten sucht und dabei immer wieder zu neuen Entdeckungen und Befunden gelangt.

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