Grundkurs Soziologie

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Hier hat die Soziologie eine kritische und aufklärende Funktion. Sie macht darauf aufmerksam, dass die raschen und intuitiven Zuordnungen und plausibel erscheinenden Zuschreibungen unserer privaten Alltagsinterpretationen nur allzu oft trügerisch sind und den tatsächlichen Problemhintergründen keineswegs gerecht werden. Es genügt nämlich nicht, irgendeine Meinung über ein Problem im zwischenmenschlichen Verhalten von sich zu geben, sondern diese Meinung muss an der konkreten Situation aufgewiesen, belegt und überprüft werden. Manche Erklärungen und Beschreibungen der Soziologie stimmen dann mit unseren bisherigen Meinungen und Überzeugungen nicht mehr überein. Manche beliebte »individualisierende« Denkfigur, manch gesellschaftlich akzeptiertes (und so bisweilen recht nützliches) Argument, manche gewohnte und vertraute Vorstellung von der sozialen Welt wird hierdurch fragwürdig. Indessen: Im Aufwerfen solcher »kontra-intuitiver« Fragen liegt gerade der besondere Nutzen der Soziologie. Oder um es mit Peter Berger (2011, 41) zu formulieren: »Die erste Stufe der Weisheit in der Soziologie ist, dass die Dinge nicht sind, was sie scheinen«.

Indem die Soziologie ihr Erkenntnisinteresse vor allem auf die sozialen Bedingungen richtet, die hinter den beobachtbaren Tatsachen wirksam werden, und indem sie auf die Einbettung vieler Probleme in umfassendere gesellschaftliche Strukturzusammenhänge aufmerksam macht, leuchtet sie Bereiche aus, die vom naiven Alltagsdenken oft ausgeblendet werden oder deren Zugang versperrt bleibt. Damit eröffnet uns die Soziologie neue und rational anregende Sichtweisen, die eine Hilfe sein können für ein besseres Verständnis von uns selbst und von der Gesellschaft, in der wir leben.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Arbeitsgruppe Soziologie (1992): Denkweisen und Grundbegriffe der Soziologie. Eine Einführung. (Darin Kapitel 1 »Die Soziologen – Notorische Besserwisser?«, S. 9–22). Campus: Frankfurt/M.

Peter L. Berger & Thomas Luckmann (2003): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 19. Aufl. (Darin Kapitel 1 »Die Grundlagen des Wissens in der Alltagswelt«, S. 21–48). Fischer: Frankfurt/M.

Hartmut Esser (1999): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. (Darin Kapitel 3 »Soziologische Forschungsfragen: Fünf Beispiele«, S. 31–37). Campus: Frankfurt/M.


1.3Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft


1.3.1Zum Begrifflichen: Was heißt »sozial«?

Wir haben bisher – ohne besondere semantische Reflexion – die Wörter »sozial« und »soziologisch« benutzt bzw. von der »Soziologie« gesprochen. Um Missverständnissen vorzubeugen, soll vor unseren weiteren Überlegungen der Bedeutungsgehalt dieser elementaren Begriffe untersucht und unsere Verwendungspraxis erläutert werden.

 Beginnen wir bei dem Wort »sozial«. Hier hat die klassische Feststellung Senecas, dass »es sozial sei, ein gutes Werk zu tun« (»beneficium dare socialis res est«, Seneca, De beneficiis, V. 11) die alltagssprachliche Sinngebung und Benutzung dieses Wortes bis heute beeinflusst.Mit »sozial« in diesem Sinne wird eine ethisch-moralische Haltung angesprochen, wie sie beispielsweise nach christlichem Verständnis in den Seligpreisungen der Bergpredigt zum Ausdruck gebracht wird: Es ist »sozial«, den Armen und Behinderten zu helfen, Witwen und Waisen zu unterstützen, kranke und alte Menschen zu besuchen, Haftentlassenen eine berufliche Chance zu geben, für Katastrophenopfer oder für die Hungernden in der Dritten Welt zu spenden. Dieses Sinnverständnis unterliegt auch noch der »säkularisierten« Redewendung, wenn wir umgangssprachlich von einem »sozialen Typ« sprechen, der heute seinen »sozialen Tag« hat, weil er großzügig einen ausgibt.

 Neben diese menschenfreundliche, durch das christliche Gebot der Nächstenliebe oder einen säkularen Humanismus normativ bestimmte und meist durch eine persönliche Zuwendung zum Ausdruck gebrachte soziale Handlung tritt mit der Entwicklung des modernen Staates, insbesondere mit dem Aufkommen des Industrialismus und des expansiv sich entfaltenden Kapitalismus, ein neuer Bedeutungsgehalt: In der sogenannten »sozialen Frage« verdichten sich jetzt Problembündel, die nicht mehr von Einzelnen aufgrund privater ethisch-moralischer Verpflichtung und fürsorglichen Engagements gelöst werden können, sondern einer gemeinschaftlichen politischen Lösung zugeführt werden müssen. Das Wort »sozial« gewinnt damit eine öffentlich-politische Dimension, ausgedrückt etwa in Wortverbindungen wie »Sozialpolitik«, »Sozialhilfe«, »Sozialreform«, »soziale Revolution«, »soziale Gerechtigkeit« oder »Sozialstaat«.

 In diesem Zusammenhang entsteht auch in programmatischpolitischer Zuspitzung das mit »sozial« verwandte Wort »sozialistisch«. Es bezeichnet die Gesamtheit der Ideen und Bewegungen, die über eine Verstaatlichung der Produktionsmittel und durch eine sozial gerechte Verteilung der Güter an alle Mitglieder der Gesellschaft die Überwindung der gesellschaftlichen und politischen Ungleichheiten und Klassenverhältnisse anstreben, die durch die kapitalistische Industrialisierung geschaffen wurden (Marx). Wie jedoch auch dieser ursprünglich politisch-aggressive und gesellschaftlich-moralisch aufgeladene Begriff durch die Praxis desavouiert wurde, zeigte sich in der historischen Tatsache, wie sich selbst als »sozialistisch« reklamierende Staaten dann über viele Jahrzehnte mit höchst menschenfeindlichen Mitteln ihre Machtverhältnisse und ihre »neue Klasse« (Djilas) zu erhalten trachteten.

 Neben dem moralischen und politischen Gebrauch des Wortes »sozial« im Sinne von »dem Gemeinwohl, der Allgemeinheit dienend, die menschlichen Beziehungen in der Gemeinschaft regelnd und fördernd und den (wirtschaftlich) Schwächeren schützend« (Duden 1980, 2431) erfährt dieser Begriff nun allerdings in seiner wissenschaftlichen (soziologischen) Verwendung eine entscheidende Erweiterung des Bedeutungsrahmens. Ausgehend von der Grundtatsache, dass der Mensch als »soziales Wesen« von anderen Menschen in hohem Maße abhängig ist, nur in Gemeinsamkeit vorkommt und nur darin existieren kann, wird als »sozial« hier schlechterdings jedes zwischenmenschliche, wechselseitig orientierte Handeln und Verhalten von Menschen bezeichnet, – gleichgültig, ob es sich um »gute« Taten oder »schlechte« Formen des Miteinanderumgehens, um moralische Verbundenheiten oder unmoralische Verhaltensakte handelt. Es bezeichnet also nicht nur Werke der Nächstenliebe und Fürsorge oder der produktiven Kooperation, sondern ebenso Akte der Gleichgültigkeit und Ablehnung, der Inhumanität und Grausamkeit, des Wettbewerbs, der Auseinandersetzung oder des offenen Konflikts. In deutlichem Gegensatz zum normativen Alltagsgebrauch wird durch die bewusste Ausscheidung von einseitig positiven Bewertungen und Gefühlen der wissenschaftliche Begriff des »Sozialen« wertneutral benutzt. Sozial in diesem Sinne sind nach einer Umschreibung einer der Pioniere der amerikanischen Soziologie, Edward A. Ross (1866–1951) »alle Phänomene, die wir nicht erklären können, ohne dabei den Einfluss des einen Menschen auf den anderen einzubeziehen« (Ross 1905, 7, zit. nach Jager & Mok, 1972, 22).

»Das Soziale in diesem Verständnis kann schöne und schreckliche Züge haben. Moralisch gesprochen kann es menschliche und unmenschliche Züge tragen; sozialwissenschaftlich gesehen ist es in jedem Falle menschlich, weil es zwischen Menschen geschieht, von ihnen gewollt und ausgeführt wird. Eine im moralischen Sinne unsoziale Handlung kann also im wissenschaftlichen Sinne durchaus sozial sein, weil das Wort als wissenschaftlicher Begriff die zwischen Menschen geschehenden Handlungen beobachtet und sehr viele Handlungen gar nicht in den Blick der Wissenschaft gerieten, wenn nur die moralisch ›sozialen‹ beobachtet, die moralisch ›unsozialen‹ wegen wertmäßiger Anschauungen der Wissenschaftler nicht beachtet würden. Die neutrale Bedeutung des Wortes ›sozial‹ ermöglicht also bessere Erkenntnis.« (Deichsel 1983, 20ff.).


1.3.2Was sich Soziologen unter »Soziologie« vorstellen

Für die neutrale Beschreibungsart menschlichen Handelns und Zusammenlebens verwendete zum ersten Mal (1837) der französische Sozialphilosoph Auguste Comte (1798–1857) »faute de mieux« den Namen »Soziologie«.

Comte selbst war über diesen, seiner Ansicht nach recht uneleganten lateinisch-griechischen »Wortbastard« (von lat. socius = Gefährte, Geselle, Mitmensch; griech. logos = Wort, Vernunft, Lehre) alles andere als glücklich. Denn eigentlich wollte er sein neu geschaffenes wissenschaftliches System – angeregt von Saint-Simon (1760–1825) und in Anlehnung an die ihn faszinierenden Naturwissenschaften und deren methodisch strenge empirische Ausrichtung – »Physique sociale« nennen. Doch sein akademischer Gegenspieler, der belgische Statistiker Adolphe Quetelet (1796–1874) veröffentlichte kurz zuvor (1835) eine Untersuchung unter eben diesem Titel und »stahl« ihm so, wie Comte bitter bemerkt, seine originäre Begriffsidee und »missbrauchte« sie als »einfache Statistik«. Die Bezeichnung »Soziologie« als die »Lehre vom Sozialen« oder als die »Wissenschaft vom gesellschaftlichen Zusammenleben« setzte sich jedoch in der Folgezeit gegenüber der Sozialphysik durch, zumal dann auch Herbert Spencer 1873 diesen Begriff aufnahm und »Sociology« in die englischsprachige Literatur einführte. Ja selbst in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, in denen Gesellschaftslehre als »wissenschaftlicher Sozialismus« betrieben wurde, gewann die ursprünglich als »bürgerlich« verfemte Bezeichnung Soziologie zunehmend an Raum, wenn auch unter der unmissverständlich programmatisch-ideologischen Einengung als »marxistisch-leninistische Soziologie«. Dies zeigt allerdings auch, dass Soziologie aufgrund weltanschaulicher, wissenschaftstheoretischer oder methodologischer Orientierung recht unterschiedlich aufgefasst und definiert werden kann.

 

Als »Lehre vom Sozialen« erforscht Soziologie das menschliche Zusammenleben bzw. das zwischenmenschliche Verhalten, beschäftigt sich mit der Gesellschaft und mit den in ihr lebenden Menschen. Diesen Gegenstand teilt sich die Soziologie allerdings auch mit anderen Sozialwissenschaften, wie etwa der Sozialpsychologie, der Kulturanthropologie und Ethnologie, der Demographie, der Ökonomie, der Politologie, der Erziehungswissenschaft, der Jurisprudenz und der Geschichtswissenschaft, neuerdings auch mit der Kommunikationswissenschaft, der Stadt- und Raumplanung oder der Friedens- und Zukunftsforschung. Wenn wir darum die Soziologie charakterisieren wollen, genügt es nicht, nur ihr Untersuchungsobjekt zu nennen. Vielmehr müssen wir deutlich machen, in welcher typischen Art und Weise, mit welcher besonderen Fragestellung, mit welcher spezifischen Perspektive und mit welchen Methoden und Regeln sie an ihren Gegenstand als Sozialwissenschaft herangeht.

Der deutsche Soziologe Alfred Vierkandt (1867–1953) spricht dabei von einer »soziologischen Denkweise, die alle menschlichen Tätigkeiten und Erzeugnisse in Beziehung setzt zu der menschlichen Gesellschaft, der ihre Träger angehören und sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Abhängigkeit von dieser auffasst« (Vierkandt 1928, 14). Das zentrale Bemühen dieser Versuche ist es, analytisch den »sozialen Faktor« zu isolieren und von der Zurückführung »sozialer Tatsachen« auf irgend etwas Nichtsoziales abzusehen, d. h. – wie der berühmte französische Soziologe Emile Durkheim (1858–1917) es ausdrückt – »Soziales nur durch Soziales zu erklären«.

Es gibt dabei ziemlich viele konkurrierende Definitionen von »Soziologie«. Böse Zungen behaupten, es gehöre zum professionellen Lebenswerk eines jeden echten Soziologen, eine eigene Begriffsbestimmung seines Fachs zu entwickeln. Dass es keine allgemein anerkannte, verbindliche und umfassende Definition von Soziologie gibt, hängt jedoch eng mit der Tatsache zusammen, dass nahezu alle Gegenstände und Erfahrungen unseres täglichen Lebens einen soziologischen Bezug aufweisen und deshalb eine Aufzählung bzw. Abgrenzung der Gegenstandsbereiche der Soziologie praktisch unmöglich ist. Eher lässt sich die »soziologische Denkweise« oder die »soziologische Perspektive« als professionelles Neugierverhalten charakterisieren, hinter die scheinbaren Selbstverständlichkeiten und Rätsel unseres Alltags zu schauen und die damit verbundenen Erfahrungen aus kritischer Distanz zu beschreiben, zu hinterfragen und zu erklären. In diesem Sinne lässt sich Soziologie pragmatisch definieren als »das systematische und kontrollierte Beobachten und Erklären von regelmäßig auftretenden sozialen Beziehungen, von ihren Ursachen, Bedingungen und Folgen« (Seger 1970, 13).

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Günter Endruweit (1998): Der Begriff der Soziologie. In Ders., Beiträge zur Soziologie. Bd. II. S. 14–34. Causa: Kiel.

Hermann L. Gukenbiehl (2010): Soziologie als Wissenschaft. Warum Begriffe lernen? In Hermann Korte & Bernhard Schäfers (Hrsg.), Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 8. Aufl. S. 11–22. VS: Wiesbaden.

Karl-Heinz Hillmann (2007): Wörterbuch der Soziologie, 5. Aufl. (Darin Stichwort »Soziologie« mit weiteren Literaturhinweisen). Kröner: Stuttgart.


1.3.3Soziologie und soziale Probleme

Die Bezeichnungen sozial und soziologisch werden oft verwechselt. Etwa wenn ein Politiker von der »soziologischen« Struktur einer Gemeinde spricht oder von einem Journalisten in einem Pressebericht über Arbeitslosigkeit vermutet wird, dass hier »soziologische« Faktoren im Spiel seien. »Soziologisch« bedeutet jedoch im eigentlichen Sinne »gesellschaftswissenschaftlich«, d. h. von den Erkenntnissen, Begriffen, Theorien, kurz vom Bezugssystem der Soziologie her gesehen. Gemeint ist aber »sozial« im Sinne von »gesellschaftlich«, so dass also in derartigen Fällen sachlich richtig von der sozialen Struktur und von sozialen Faktoren gesprochen werden muss. Entsprechend ist deshalb ein soziales Problem keineswegs auch immer ein soziologisches und umgekehrt betreffen soziologische Fragestellungen entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis durchaus nicht immer soziale Probleme.

 Ein soziales oder gesellschaftliches Problem liegt meist dann vor, wenn eine Diskrepanz (Widerspruch) zwischen den gesellschaftlichen Normen und Zielvorstellungen und dem tatsächlichen Verhalten der Menschen besteht (z. B. im Falle von Devianz und Kriminalität) oder wenn eine unvorhergesehene oder unvorhersehbare Situation eintritt, die in der Gesellschaftsordnung (noch) nicht geregelt ist (wie beispielsweise Massenarbeitslosigkeit in Deutschland und gleichzeitige Verlagerung von Arbeitsplätzen durch inländische Unternehmen in Billiglohnländer).

 Eine soziologische Fragestellung liegt dagegen erst dann vor, wenn bestimmte gesellschaftliche Problemlagen, Zustände und Prozesse erklärt werden sollen. Wenn also ein Soziologe ein soziales Problem bearbeiten soll, muss er es zunächst in eine soziologische Frage »übersetzen«; erst dann kann er mit seinem Handwerkszeug, d. h. mit seinen Begriffen, Theorien und Untersuchungsmethoden, das Problem erfassen, beschreiben und zu erklären suchen. Hierbei wird schon deutlich, dass ein bestimmtes soziales Problem, auch nachdem es soziologisch geklärt ist, durchaus als soziales Problem weiter bestehen kann. So können beispielsweise Soziologen in Bezug auf das soziale Problem der Chancengerechtigkeit im Bildungswesen schon seit den 1970er-Jahren und nicht erst seit den international vergleichenden Schulleistungsuntersuchungen der OECD (PISA-Studien) der letzten fünfzehn Jahre auf die Wirkung der sozialen Herkunft aufmerksam machen und auch empirisch nachweisen, dass das Schulsystem durch seine typische »Schulkultur« insbesondere im Sprachverhalten Schüler aus mittleren und oberen Schichten begünstigt. Vielmehr konnten Bildungssoziologen auch schon seit Langem darauf aufmerksam machen, wie sehr Lehrerurteile über Eignung und Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schüler von typologischen Vorstellungen und impliziten Persönlichkeitstheorien beeinflusst werden können, in die auch leistungsfremde, kaum objektivierbare Beurteilungsbestandteile eingehen und inwiefern auch solche Schülertypologien wiederum stark schichten- und milieuspezifisch orientiert sind. Den betroffenen Kindern helfen solche theoretischen Erklärungen zunächst wenig, denn das soziale Problem der Benachteiligung bleibt ja zunächst weiter bestehen. Ähnlich verhält es sich bei dem allseits bekannten und nicht nur ökologisch, sondern auch soziologisch vielfach erforschten Problem der Umweltverschmutzung durch CO2- und Feinstaub-Emissionen. Die Analysen sind klar, und Umweltschutz gilt weithin als dringend geboten. Geht es aber an die praktisch zu ziehenden Konsequenzen wie die Einschränkung der gewohnten Lebensführung, ist nach wie vor mit erheblichen Widerständen zu rechnen.

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Günter Albrecht (1981): Einführung zum Thema »Konstitution sozialer Probleme«. In Joachim Matthes (Hrsg.), Lebenswelt und soziale Probleme. Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen. Campus: Frankfurt/M.

Axel Groenemeyer (2012): Soziologie sozialer Probleme – Fragestellungen, Konzepte und theoretische Perspektiven. In Günter Albrecht & Axel Groenemeyer (Hrsg.), Handbuch Soziale Probleme, 2. Aufl., S. 17–116. VS: Wiesbaden.

Günter Hartfiel (1981): Soziale Schichtung. 2. Aufl. (Darin Kapitel 6 »Soziale Schichtung und Erziehung«, S. 133–171). Juventa: München.


1.4Wozu kann man Soziologie brauchen?


1.4.1Soziologie als Missverständnis

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Nutzen der Soziologie für die gesellschaftliche Praxis. Unter dem noch unmittelbaren Eindruck der internationalen Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre bemerkte die Soziologin Imogen Seger (1970, 11): »Wer in den letzten Jahren die Berichte im Fernsehen und in den Zeitungen verfolgt hat, der muss zu der Ansicht kommen, die Hauptbeschäftigung der Soziologiestudenten sei es, die Revolution inner- und außerhalb der Universitäten vorzubereiten, und die Hauptbeschäftigung ihrer Professoren sei es, sie dabei zu ermuntern.«

In der Tat hatten manche Politiker und Kommentatoren einen guten Anteil an den landläufig recht gängigen Klischees, Soziologie habe etwas mit Revolution und Sozialismus oder gar Kommunismus zu tun. Sie vermuteten einen Zusammenhang zumindest zwischen einer bestimmten soziologischen Denkweise (gemeint war vor allem die »Kritische Theorie« der sogenannten »Frankfurter Schule« der Soziologie) und radikalen jungen Leuten, die vorgeben würden, Gesellschaftswissenschaften zu studieren, in Wirklichkeit aber auf Kosten der Steuerzahler in Hörsälen und auf Straßen randalieren oder gar terroristische Gewaltakte planen und durchführen.

Dieses verallgemeinernde Vorurteil entzündete – und entzündet sich immer wieder vor allem an der Beobachtung, dass Soziologie offenbar nicht nur für jene Studentinnen und Studenten anziehend und anregend wirkt, die die Gesellschaft, in der sie leben, verstehen wollen, sondern auch für solche höchst attraktiv erscheint, die die gesellschaftlichen Ordnungen radikal in Frage stellen und auch grundsätzlich verändern möchten, für jene also, die sich in der Soziologie eine Art Revolutionswissenschaft erhoffen und die hierbei Denkmodelle bestimmter Gesellschaftstheoretiker mit politischen Aktionsprogrammen verwechseln.

Oft zählen zur letzten Gruppe vor allem jene, die »ein bisschen Soziologie studiert« haben, bald aber angesichts der Studienanforderungen von Statistik und Methodenlehre oder der Pflichtkurse über soziologische Grundbegriffe und Theorievergleiche abgeschreckt werden und der »praxisfernen« universitären Soziologie enttäuscht den Rücken kehren. Dies hindert sie jedoch nicht, unter Hinweis auf ihre soziologischen Erkenntnisse (die wohl eher den Charakter von Bekenntnissen haben), zu glauben, die Gesellschaft »in den Griff« zu bekommen und damit die Hoffnung verbinden, sie grundlegend verändern zu können, um sie so von allem Übel zu befreien. Ein bisschen Soziologie ist jedoch ebenso wie ein bisschen Wahrheit eine gefährliche Sache. Bloße Gesellschaftskritik und darauf beruhendes »politisches« Handeln ohne fundierte Information und gründliches Studium gesellschaftlich-politischer Zusammenhänge hat eine unbehagliche Nähe zum Vorurteil, zum pauschalisierenden Rundumschlag und zum irrational-eifernden Aktivismus.

Wer sich indessen auf die moderne Soziologie ernsthaft einlässt, wird sehr rasch feststellen müssen, dass sie als Ersatzreligion überhaupt nicht taugt. Soziologie »ist kein Ersatz für verlorene Identifikationen, keine begleitende Sinngebung für Handlungen, sondern schlicht Erkenntnis der Zusammenhänge in ihrem Problemfeld« (Jonas 1981, 12). Ihre empirischen und theoretischen Ergebnisse entziehen sich von ihrem Anspruch her explizit allen »schrecklichen Vereinfachungen« und lassen sich auch faktisch – z. B. im Hinblick auf geplante soziale Aktionen – nur äußerst sperrig handhaben.

So beachtlich die methodologischen und analytischen Fortschritte der Soziologie mittlerweile auch sein mögen, so vorsichtig sind seriöse Sozialwissenschaftler dennoch im Umgang mit handlungsleitenden Prognosen oder gar handlungsanweisenden Rezepten. Statt von Gewissheiten reden Soziologen heute lieber von Wahrscheinlichkeiten, wie überhaupt die meisten soziologischen Aussagen den Charakter von Wahrscheinlichkeitsaussagen haben. Dies vor allem deshalb, weil Soziologen die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Untersuchungsgegenstände höchst dynamisch und unberechenbar sind, ja dass im gesellschaftlichen Bereich fast jede Wirkung eine oft überraschende und unvorhersehbare Gegenwirkung auslösen kann.

 

Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

Imogen Seger (1970): Knaurs Buch der modernen Soziologie. (Darin Kapitel 1 »Soziologen und Soziologie«, S. 11–17). Droemer: München, Zürich.

Norbert Elias (2014): Was ist Soziologie? 12. Aufl. (Darin das Kapitel 5/4 »Gesellschaftsideale und Gesellschaftswirklichkeit«, S. 182– 188). Beltz Juventa: Weinheim, Basel.


1.4.2Strukturen soziologischen Denkens und Forschens

Trotz der vorgenannten Einschränkungen hat die Soziologie für unseren Alltag dennoch wichtige Funktionen zu erfüllen, wie wir im Folgenden sehen können. Die in diesem Zusammenhang immer wieder neu gestellten Fragen

 Was ist eigentlich Soziologie?

 Wozu ist Soziologie nütze?

 Was kann die Soziologie leisten?

 Was bietet sie uns?

lassen sich dabei allerdings nicht ganz so einfach und bündig beantworten, weil es die Soziologie im strengen Sinne eigentlich nicht gibt, sondern immer nur Soziologen verschiedener Schulen und Denkrichtungen. Abgesehen von differenten wissenschaftstheoretischen und methodologischen Zugängen kommt dann deren Verständnis von Soziologie auch in ihren jeweiligen Lehr- und Forschungsprogrammen zum Ausdruck und lässt sich systematisch etwa so strukturieren:

 Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln und zwischenmenschlichen Verhalten;

 Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Institutionen und Organisationen;

 Soziologie als Wissenschaft von der Gesamtgesellschaft und deren Stabilität und Wandel;

 Soziologie als Wissenschaft von den Ideen über die Gesellschaft und als Ideologiekritik.

Mit diesen unterschiedlichen Perspektiven und Ansätzen werden nichts anderes als verschiedene Ebenen der recht komplizierten sozialen Wirklichkeit angesprochen. Ausgehend vom Menschen als soziales Wesen und seinen auf andere gerichteten bzw. an anderen orientierten Handlungen und Verhaltensweisen weisen diese unterschiedlichen Analysedimensionen auf soziologisch unterscheidbare Einflussgrößen und Kontexte hin, was man grafisch vereinfacht so darstellen kann:

Abb. 1: Soziologie als Sozialwissenschaft


Wenn also Soziologen versuchen, Situationen unseres Alltags zu verstehen und zu analysieren, dann versuchen sie, diese Situationen in einen größeren, überindividuellen Zusammenhang zu stellen. Indem die Soziologen das Individuum, das es – per definitionem – als isoliertes Wesen gar nicht gibt, immer als ein soziales Wesen begreifen, suchen sie nach überindividuellen Einflussgrößen und entpersonalisierten Kontextbedingungen von dessen Lebensweise.

Seriös kann man das nur tun, wenn man einerseits das soziale Individuum mit anderen Individuen in der Gesellschaft vergleicht und andererseits zusätzlich noch weitere Ebenen berücksichtigt, mit denen das soziale Individuum in wechselseitig orientierten (Max Weber) Austauschprozessen verbunden ist, die sein Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen:

 die Ebene von Kleingruppen (= Mikro-Ebene),

 die Ebene von Organisationen (= Meso-Ebene),

 die Ebene der Gesellschaft (= Makro-Ebene) und

 die Ebene der einer Gesellschaft allgemein zugrunde liegenden Ideen und Ideologien (= Meta-Ebene).

Die Mikro-Ebene wird entsprechend von der Mikrosoziologie untersucht, die mit der Phänomenologie und der Sozialpsychologie eng verwandt ist. Sie befasst sich vor allem mit den Grundbedingungen und -formen sozialen Handelns und Verhaltens im sozialen Nahbereich der sogenannten face-to-face-Beziehungen (z. B. Familie, Freundeskreis). Darüber hinaus erforscht sie aber auch die Prozesse der Wahrnehmung und Interpretation sowie Aneignung und Auseinandersetzung des Individuums mit der es umgebenden Kultur sowie mit gesellschaftlichen Rollen und Normen einschließlich der von den sozialen Normierungen abweichenden Verhaltensweisen. Typisch mikrosoziologische Theorien sind beispielsweise der sogenannte »Symbolische Interaktionismus«, die »Verstehende Soziologie« oder die vom Behaviorismus ausgehende verhaltenstheoretische Soziologie.

Die Meso-Ebene wird vor allem über organisationssoziologische Ansätze erhellt, wobei einzelne Untersuchungen oder vergleichende Darstellungen sowohl den zweckorientierten, d. h. planmäßig gestalteten (Autoritäts-) Strukturen und (Interaktions-)Prozessen in Organisationen (z. B. Industriebetrieben, Verbänden, Parteien, Kirchen, aber auch Bildungsinstitutionen wie Schulen u. a.), wie auch den informellen Prozessdynamiken und -strukturen solcher sozialen Gebilde ihre analytische Aufmerksamkeit schenken.

Der Makro-Ebene wendet sich die sog. Makrosoziologie zu; sie analysiert sowohl große soziale Einheiten und gesamtgesellschaftliche Prozesse wie auch Austauschprozesse zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen (z. B. Wirtschaft, Politik, Bildung). Besonders thematisiert sie dabei die jeweiligen Sozialstrukturen wie Stände, Kasten, Klassen, Schichten oder Milieus. Die damit verbundenen stabilisierenden Bedingungen (»was hält Gesellschaft zusammen?«) bzw. evolutionären oder revolutionären Wandlungsprozesse (»wodurch wird Gesellschaft verändert?«) sind im allgemeinen Gegenstand ihrer Forschung. Grundlegende theoretische Ansätze (Paradigmen) der Makrosoziologie sind z. B. der Struktur-Funktionalismus, die Systemtheorie oder die Konflikttheorie.

Die Meta-Ebene schließlich, die die sozialen Objektivationen gesamtgesellschaftlich übergreifender Norm- und Wertstrukturen, also den ideologischen »Überbau« von Gesellschaften beinhaltet, wird fachlich von der sogenannten Wissenssoziologie bzw. der soziologischen Ideologiekritik bearbeitet.

Wie bei den meisten typologischen Versuchen ist auch diese Aufteilung unserer sozialen Welt in die vier Kernbereiche Kleingruppe, Organisation, Gesellschaft und Ideenwelt eine in erster Linie analytische Trennung und methodische Unterscheidung bzw. ein Versuch fachsoziologischer Strukturierung. In Wirklichkeit sind alle vier Ebenen voneinander abhängig, durchdringen sich gegenseitig und sind deshalb auch in soziologischen Beschreibungs- und Erklärungsversuchen soweit wie möglich theoretisch und empirisch miteinander zu verbinden. Eine diese verschiedenen Bereiche integrierende allgemeine soziologische Theorie sozialer Systeme wurde zwar in der Wissenschaftsgeschichte der Soziologie von einigen großen Soziologen wie z. B. Talcott Parsons (1902–1979) oder Niklas Luhmann (1927–1998) immer wieder versucht, steht jedoch indessen als schlüssige und auch generell akzeptierte »Allgemeine Theorie« noch aus.

Unter dem Gesichtspunkt der praktischen Verwertung soziologischen Wissens sind überdies die sogenannten materiellen oder »Bindestrich-Soziologien« weit interessanter als die vorgenannten eher theoretischen Differenzierungen und Strukturierungen. Hierbei handelt es sich um problemorientierte Detailforschung in gesellschaftlichen Teilbereichen, die auch inzwischen zu einer ausgeprägten professionellen Spezialisierung innerhalb der Soziologie geführt hat. Solche speziellen und auch weitgehend universitär in einschlägigen Lehrstühlen etablierten Soziologien sind zum Beispiel

 Bevölkerungssoziologie,

 Migrationssoziologie,

 Politische Soziologie,

 Soziologie der Entwicklungsländer,

 Ethnosoziologie,

 Familiensoziologie,

 Soziologie der Ehe und Partnerschaft,

 Soziologie der Kindheit und Jugend,

 Soziologie des Alters,

 Erziehungs- und Bildungssoziologie,

 Pädagogische Soziologie,

 Geschlechtersoziologie,

 Religionssoziologie,

 Soziologie des Lebenslaufs,

 Soziologie der Behinderten,

 Soziologie der Freizeit,

 Agrarsoziologie,

 Gemeinde-, Stadt- und Regionalsoziologie,

 Architektursoziologie,

 Kommunikations- und Netzwerk-/Internetsoziologie,

 Organisations- und Managementsoziologie,

 Industrie- und Betriebssoziologie,

 Arbeits- und Berufssoziologie,

 Techniksoziologie,

 Wirtschafts- und Konsumsoziologie,

 Medizinsoziologie,

 Rechtssoziologie,

 Kriminalsoziologie,

 Kultursoziologie,

 Kunstsoziologie,

 Musiksoziologie,

 Literatursoziologie,

 Sportsoziologie,

 Konfliktsoziologie,

 Militärsoziologie,

 Soziologie der Freizeit,

 Wissenssoziologie,

und nicht zuletzt auch gewissermaßen als »Meta-Disziplin« die