Die unschuldige Königin

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2.4.

Elvira ist im Alter, wo sie einen Busen bekommt. Sie ist gewachsen. Sie hat Hüften und eine richtige Taille bekommen. Sie hat jetzt Haare zwischen den Beinen und ihre Monatsblutung hatte bereits eingesetzt. Das ganze Wesen hat sich verändert, aber Elvira ist fest eingebunden in ein Netz aus Freunden. Es ist schwer, aus diesem Netz zu fallen.

Tatsächlich schielt Elvira seit dieser Zeit auf Jungen. Sie betrachtet die Jungs jetzt anders. Sie nimmt ganz andere Schwingungen wahr. Erregungen, Sehnsüchte. Hoffnungen, Angst und Aggression. Elvira staunt.

Sie weiß durch die regelmäßigen Treffen mit den Geschwistern, dass Irina jetzt einen festen Freund hat. Er heißt Paolo und ist Spanier. Er geht mit Irina in dieselbe Schule und sie schlafen miteinander. Wenn Elvira sich konzentriert, dann kann sie solche Schwingungen sogar spüren. Es sind ganz besondere Schwingungen. Erregung, Lust, Vertrauen.

Elvira war am Anfang verblüfft, dann versuchte sie dieses Phänomen zu erfassen. Sie konzentrierte sich, und sie spürte dieses Gefühl nun auch bei anderen Personen. Sie spürte, dass Ihre Freunde Emmi und Louis miteinander schlafen. Sie spürte es, wenn Opa Leon und Oma Katharina miteinander schlafen, und wenn sie sich konzentriert, dann kann sie in der Gruppe von Menschen, in der sie steht auch spüren, ob es solche Kontakte zwischen den einzelnen Personen gibt.

Es ist ein Phänomen. Sie erzählt Lara davon und Lara meint. „Du spürst etwas, was viele in unserer Familie spüren, aber so ausgeprägt, wie bei dir habe ich das noch selten erlebt. Chénoa kann das. Die beiden Ramons können das und noch ein paar andere. Rede mit ihnen, wenn du sie das nächste Mal triffst.

2.5.

Elvira tut, was Lara ihr geraten hat, und Ramon (der Sohn von Tante Clara) hört ihr gut zu. „Du bildest da gerade eine besondere Fähigkeit aus“, meint er. Lass uns das ein wenig trainieren. Setze dich dann wieder mit Lara in Verbindung. Suche die Geigerin Conny auf und rede mit Pablo und Maria Anethé. Sie können dir eine neue Welt aufschließen.“

Also redet Elvira wieder mit Lara und Lara nickt. Sie nimmt Elvira in eins der nächsten Konzerte von Tante Conny mit. Das ist in London. Lara steht mit Elvira hinter der Bühne. Es gibt einen kleinen Schlitz, so dass sie das Publikum sehen können. Conny spielt auf ihrer Geige, begleitet von der Londoner Philharmonie. Lara fasst jetzt nach Elviras Hand und sie beginnt zu summen.

Solche Schwingungen hat Elvira in ihrem Leben noch nicht vernommen. Sie sieht, wie wahre Wellen von Energie in den großen Saal fließen. Sie sieht, dass Lara diese Energie mit Botschaften versetzt. Sie sieht, wie die Zuhörer ihre Sinne öffnen und diese Botschaften aufnehmen. Sie sieht das Glück und die Bereitschaft, etwas Neues bewegen zu wollen. Elvira steht die ganze Zeit neben Lara. Sie hört zu. Sie sieht diese Bündel von Energie. Sie staunt.

Am selben Abend fahren sie ins Hotel. Elvira sieht Lara an und fragt wortlos, „und das war jetzt erlaubt?“ Lara gibt ihr ein Zeichen zu warten. Später liegen sie gemeinsam in dem großen Bett des Doppelzimmers und Lara erklärt. „Wir machen das schon lange. Chénoa, ich, Pablo und Maria. Jeder auf seine Weise. Ja, das hat nichts mit persönlicher Bereicherung zu tun. Wir beeinflussen die Menschen. Wir versuchen ihnen Botschaften zu schicken. Du hast gespürt, was ich ihnen gesagt habe?“

„Nicht ganz“, sagt Elvira, und Lara erklärt. „Die Welt ist in Unordnung. Ich benutze diese Plattform, um Menschen mit neuen Gedanken zu infizieren. Wir wollen, dass die Meere sauberer werden. Wir wollen, dass die Gewalt zwischen den Menschen schwindet. Wir wollen, dass die Tiere mehr geachtet werden, und wir wollen einige politische Ziele verwirklichen. Vieles wird dir noch nichts sagen. Willst du mehr wissen?“

So beginnt Lara, Elvira jetzt öfters mitzunehmen, zu solchen Konzerten. Maria nimmt sie mit zum Fernsehen, wenn sie die Abendschau moderiert. Pablo nimmt sie mit in dieses Studio, wo er Sendungen für andere Sender zusammenstellt, um sie zu verschicken. Er nimmt sie mit in diese Presseagentur, für die er arbeitet.

Elvira lernt, dass sie alle summen. Sie versetzen die Nachrichten mit Botschaften. Sie sprechen das nicht in Worten aus, aber die Botschaften sind da, und sie werden von jedem gehört, der diese Sendungen anschaut. Niemand hört das als gesprochenes Wort. Es sind Botschaften, die sich ins Unterbewusstsein einklinken. Sie sind da. Sie werden vernommen, aber niemand weiß davon, dass er gerade beeinflusst worden ist.

Elvira sieht. Sie hört zu und sie staunt. Dann beginnt sie sich für den Inhalt der Botschaften zu interessieren.

Die Geschwister hatten längst angefangen, solche Kräfte zu trainieren. Manchmal wird Elvira Zeugin davon, wenn Ramon andere Menschen mit Botschaften versorgt. Sie weiß, dass auch Irina das kann, aber dieses Ausmaß, das sie bei Lara, Pablo und Maria erlebt hat, das ist gigantisch.

Einmal wird Elvira von Lara mitgenommen zu einem Pop Konzert in die USA. Es ist eines dieser riesigen Open Air Konzerte, die es dort mitten auf der „grünen Wiese“ gibt. Vielleicht 150.000 Menschen sind dort zusammengekommen, oder auch viel mehr.

Sie erlebt bei diesem Konzert zum ersten Mal (wie sie glaubt) die ganze Kraft ihrer Tante Chénoa. Chénoa summt nicht. Sie sendet einfach diese Bündel von Energiewellen aus, völlig geräuschlos. Elvira staunt. Chénoa ist, wie ein Orkan. Die Menschen knicken vor ihr ein und werden willenlos, bevor ihnen Chénoa neue Kraft einhaucht, die sie mit Botschaften versetzt. Chénoa hätte mit diesen Menschen alles tun können, aber Chénoa geht es nur um eins. Sie will Botschaften vermitteln, über die Notwendigkeit, die Umwelt zu erhalten. Über die Notwendigkeit, zärtlicher miteinander umzugehen. Über die Notwendigkeit, ein neues Weltwährungssystem zu errichten, aber auch über die Notwendigkeit, Drogen zu vermeiden. Egal, ob harte Drogen, Alkohol oder Tabak.

Es ist tatsächlich so, dass bei diesem Festival die Bierverkäufer auf ihren Vorräten sitzen bleiben. Die Tabakverkäufer sind außer sich. Die Anbieter von harten Drogen (und die gibt es immer bei solchen Festen), die gehen nach Hause ohne einen Cent in der Tasche. Elvira ist platt. Sie sieht Lara fragend an und Lara zuckt nur bedauernd mit den Schultern. „Wir versuchen unser Bestes“, scheint sie zu sagen, „aber an die Kräfte von Chénoa kommen wir nicht heran.“

Nun ahnt Elvira, warum Chénoa zur Generaldirektorin der Firmengruppe gemacht worden ist. Von diesen Kräften hatte sie bisher keine Ahnung gehabt.

Also beginnt Elvira die Augen weiter aufzumachen, und sie beginnt diese Art von Kräften zu trainieren. Mit Lara, mit Maria, mit Ramon. Ramon nimmt sie auch einmal mit zu den Treffen, die er mit Chénoa hat. Nur Chénoa, die beiden Ramons und Chénoas älteste Tochter Clarissa Thébo. Sie treffen sich oben bei Onkel Nakoma im „Schulungszentrum“ der Kinder und Elvira staunt wieder. Es ist, als ob die Wände des Schulungszentrums sich plötzlich dehnen und dann nach außen springen. Sie sieht plötzlich durch die Wände hindurch. Ihre Gedanken fließen nach Amerika und Europa. Sie sieht, wie Chénoa dort eine ausgewählte Gruppe von Menschen mit ihrer Energie versorgt. Sie sieht die Botschaften, die Chénoa an den Präsidenten der USA und an die Vertreter in der UNO schickt. Sie sieht, wie sie den König von England mit Botschaften beschickt. Sie sieht, wie sie Vertreter der japanischen Regierung mit Energie versorgt.

Dann kehren sie alle zurück. Die Wände des Schulungszentrums schließen sich wieder. Elvira ist wieder sie selbst. „Whow.“

Sie hat in diesen Minuten erlebt, wie sie sich in ihre Atome auflöste. Sie hat erlebt, wie sie in die Gehirne dieser Menschen hineinfloss, die sie überhaupt nicht kennt. Sie hat erlebt, wie Chénoa Entscheidungen beeinflusst hat. Das ist ja ganz unglaublich.

Später sieht sie die beiden Ramons und Clarissa Thébo an. „Und ihr könnt das auch?“ Sie erntet nur ein bedauerndes Kopfschütteln. „Wir üben, aber im Vergleich zu Chénoa sind wir wie Babys. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.“ „Das muss auch so sein“, meint Clarissa Thébo. Solche Kräfte dürfen nicht viele Menschen besitzen. Das ist eine Macht, mit der wir viel Schaden anrichten können. Wir müssen erst lernen, ganz in Demut aufzugehen, bevor wir erlaubt bekommen, über solche Kräfte zu verfügen.“

Da ist es wieder, dieses Wort der Demut. Elvira geht innerlich in die Knie vor diesem Wort. Demut. Das bedeutet, sich ganz bewusst klein zu machen. Es bedeutet Verzicht und Achtung. Es bedeutete Verantwortung und Pflichtbewusstsein um die Macht der Mächte.

Jetzt versteht sie endlich, was die Ratten ihr damals im Tunnel gesagt hatten. Es ist eine Kraft, die nur für das Überleben der Gattung Mensch eingesetzt werden darf. Jetzt versteht sie auch den Inhalt der Botschaften besser, obwohl sie über diese politischen, ökonomischen und ökologischen Zusammenhänge so gut wie nichts weiß.

Elvira wird noch viel mehr lernen müssen.

Als sie wieder in Berlin ist, sucht sie Tante Lara auf. Sie erzählt davon und fragt. „Was ist? Können wir nicht all die Drogenhändler mit solchen Nachrichten beschicken? Hört das dann endlich auf?“

Lara seufzt. „Dazu musst du wissen, wie das Drogengeschäft aufgebaut ist. Die Menschen, die in diesen Organisationen arbeiten, sind über die ganze Welt verteilt. Wir müssten sie erst mal kennen, um sie zu beeinflussen.“

 

„Ja, und bei solchen Konzerten? Wie ist das dort?“

Lara nickt. Dort sind die Konsumenten. Die können wir beeinflussen. Naja. Chénoa kann das. Meine Kraft ist noch gering. Ich kann einen kleinen Baustein dazu liefern, aber du überschätzt mich. Im Vergleich zu Chénoa bin ich wie ein Baby.“

Elvira sieht Lara an. Dasselbe hatten ihr die beiden Ramons und Clarissa Thébo gesagt. Elvira seufzt. „Wir müssen viel üben.“

„Ja“, meint Lara. „Bis dahin werden wir die Drogenringe aber weiter melken. Wir können den Strom der Drogen nicht unterbinden, aber wir können den Drogenbaronen Schaden zufügen. Schließlich hat dieses Geld seit vielen Jahren viel Gutes getan. Der alte Mann, den du gesehen hast, der tut das schon seit vierzig Jahren. Ohne diese Gelder wäre wohl auch das Musikzentrum nie gebaut worden.“

Elvira staunt schon wieder. Das sind ja Verflechtungen... Whow.

2.6.

Elvira ist jetzt Fünfzehn und sie hat immer noch nie mit einem Jungen geschlafen. Sie sieht diese Ströme bei anderen, aber sie ist eingebunden in die Aufgaben der Familie. Sie will auch nicht nur deshalb Sex haben, um das einmal gemacht zu haben.

Jeder hat seine eigene Geschichte. Andere Mitglieder der Familie haben das ganz anders erlebt, aber Elvira, die glaubt daran, dass ihr einmal das große Glück der Liebe begegnen wird.

Sie ist inzwischen richtig aufgeblüht. Sie spricht auch mit Mama darüber, aber Mama nimt sie nur in den Arm. „In meiner Familie war das auch nicht üblich“, sagt sie. „Als ich dann deinen Vater kennenlernte, da hat es bei mir gefunkt. Ich wusste ja, dass Paco auch mit vielen andern Mädchen zusammen ist, aber das war mir in diesem Moment egal. Dein Vater ist eine Persönlichkeit und er war im Bett einfach so...“, sie seufzt genüsslich.

„Lass mich nur nicht daran denken, sonst werde ich schwach.“ Dein jetziger Vater ist ein wunderbarer Mann, und wir sind glücklich miteinander, aber in diesen Sachen war dein Vater unübertroffen. Nicht jeder Mann ist so. Du kannst mit vielen Jungs zusammen sein und du wirst Unterschiede zwischen ihnen merken. Dein erster Mann im Leben wird vielleicht immer etwas Besonderes für dich sein. Aber das hängt davon ab, ob das ein wirklich guter Mann ist. Liebe erlebt man am Körper und gleichzeitig im Kopf. “

Elvira spricht auch mit Lara über dieses Thema und Lara seufzt. „Du weist, dass ich keinen festen Freund habe. Es gibt Menschen, für die ist die Liebe wie eine Urgewalt. Ich habe das noch nie erfahren. Papa schon. Oma Katharina hat das erfahren und deine Mutter, die hat das offenbar auch erfahren. Mach dir keinen Kopf. Niemand zwingt dich zu irgendetwas, und wenn doch, dann weist du sicher, wie du dich wehren kannst.“ Elvira nickt. Das ist einfach. Sie braucht nur durch den Raum zu gehen, oder ihr Gesumm anzustimmen.

Elvira sieht, wie viele Freunde in diesem Jahr zum ersten mal... oder auch zum Zweiten oder zum Dritten... sie sieht das, aber sie wartet.

Wenige Wochen später spürt sie, dass ihr Cousin Dimmy sich Hals über Kopf verliebt hat. Die Wellen der Erregung laufen bis zu ihr. Es sind gewaltige Wellen. Elvira lächelt. Vielleicht wird ihr das auch einmal wiederfahren.

2.7.

Irgendwann in diesem Jahr kommt Irina nach Berlin. Sie steht vor dem Abitur. Sie hat eigentlich nach Freiburg gehen wollen, um dort zu studieren, aber jetzt ist sie nach Berlin gekommen, um mit Oma und mit Lara zu reden.

Oma Katharina und Lara haben Elvira wie selbstverständlich in dieses Gespräch eingebunden, aber Elvira hält sich im Hintergrund. Sie hört nur zu.

Irina ist ein wirklich nettes Mädchen. Sie hat sie in den letzten zwei Jahren oft getroffen. Irina ist weitsichtig und klug. Sie hat viele Interessen und sie war dort in Wittenberge richtig aufgeblüht, bei Opa Leon und in ihrer Schule. Sie hat sich um ihre kleine Welt gekümmert. Um ihre Schule, um ihren Paolo, um die Vorgänge in Spanien. Sie hat sich regelmäßig mit den Geschwistern getroffen, und sie hat ihre Kräfte geübt. Sie interessiert sich auch für all diese Umweltprobleme, die Elvira in Berlin einfach nicht so mitbekommt. Gewiss. Es gibt nur noch wenige Autos, die mit Benzin fahren. Inzwischen sind fast alle Motoren auf Solarantrieb, Gas und diese Wasserstoffantriebe umgestellt, die heute das Benzin ersetzt haben. Aber von den wirklich großen Schäden an der Umwelt weiß Elvira recht wenig. Sie hat mit den andern Kids ihre Kräfte trainiert. Sie haben Wellen aufgehalten oder sie haben versucht, Regen zu stoppen, aber das ist für sie stets wie ein Spiel gewesen.

Ihre Welt ist hier, in Berlin. Sie trainiert an Kräften, deren Sinn sie noch gar nicht richtig einschätzen kann, und sie ist hier in Berlin richtig glücklich. Das ist ihre Familie. Ja. Sie nimmt inzwischen regelmäßig an den Beobachtungen dieser geheimen Gruppe teil. Sie freut sich über jeden Erfolg der Gruppe.

Oma und Katharina arbeiten sie langsam auch in das weit verzweigte Netz der Familie ein. Sie lernt langsam all die Freunde kennen, die wichtig sind. Nicht nur die Musiker und die Filmregisseure. Die kennt sie längst. Nun fängt sie an Kirchenmänner, Politiker und Vertreter von öffentlichen Ämtern kennenzulernen. Sie lernt langsam, um nicht überfordert zu werden, aber Stück für Stück. Solche Dinge brauchen viel Zeit.

Elvira weiß nicht einmal, dass Oma Katharina sie schon als die zukünftige Leiterin des Musikzentrums sieht. Naja. Nicht mit Bestimmtheit, aber Oma Katharina hat ein feines Gespür. Sie hat sich in ihrem Leben selten getäuscht. Sie leitet dieses Zentrum nicht, weil sie irgendein Parteibuch besitzt, sondern weil sie die Fähigkeit und das richtige Gespür hat. Jetzt kommt also Irina und Irina braucht Hilfe.

Irina weiß nichts von den Kids im Untergrund. Sie will etwas über die Beziehungen der Familie lernen, und Oma Katharina fragt direkt. „Was weißt du vom Leben im Untergrund?“ Irina ist völlig perplex. Sie hat wirklich keine Ahnung. Opa Leon hat wohl nie darüber geredet, aber an diesem Abend wird Irina von Lara und Elvira in die Gefahren des Berliner U-Bahn-Netzes eingeweiht.

Es geht hier nicht um die Nutzung von U-Bahn-Zügen und Bahnsteigen. Nicht um die Bedrohung durch Gangs, das hat Irina auch schon kennengelernt, es geht um die Bedrohung für Leib und Leben, wenn Irina sich auf den Weg durch die Tunnel machen würde. Das ist wirklich gefährlich.

Elvira kennt die Gefahren, aber für Elvira ist es einfach. Sie kann einfach zu den Freunden in den „Bunker“ springen. Dennoch läuft sie oft durch die Tunnel, weil sie ihre Freunde, die Ratten dort trifft. Die haben Elvira schon oft geholfen.

Am nächsten Tag wird Irina von Elvira und Lara mit in den Bunker genommen. Irina ist völlig platt. Sie bleibt mit Elvira über Nacht und am nächsten Tag springen sie zu Oma zurück. Sie haben noch lange Gespräche mit Oma und mit Lara, und auch mit Rochen, dann entscheidet sich Irina. Sie wird in Berlin studieren. Sie wird von der Familie lernen. Irina kommt in den nächsten Wochen noch ein paar Mal. Sie geht mit Elvira zu den Kids im Bunker. Sie redet mit Oma und mit Lara, und sie sucht Rochen auf. Irina macht die Augen und die Ohren auf, und sie beginnt eine neue Welt „einzuatmen“.

An einem dieser Abende sitzt Rochen mit Elvira zusammen. Sie sitzen irgendwo in der großen Halle. Ganz oben auf dieser treppenartigen Tribüne, von der man alles überblicken kann. Sie sehen unten den Betrieb in Aysas Café. Sie sehen und hören die Videos, die ständig über die Multifunktionsleinwand abspulen und Rochen meint. „Schöne Schwester hast du da.“

Elvira nickt. Ja, das stimmt wirklich. Irina ist eine Schönheit. Sie brezelt sich nicht auf, aber sie ist elegant und natürlich zugleich. Sie hat einen Mörderbusen, das was den Männern immer so gefällt, aber Elvira kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Rochen und Irina... Außerdem ist Irina in festen Händen.

Dann fügt Rochen hinzu, und er legt Elvira jetzt leicht die Hand auf den Oberschenkel, „aber mit dir kommt sie nicht mit.“

Elvira sieht auf diese Hand. Sie spürt die Wärme, die von ihr ausgeht. Nicht besitzergreifend, sondern freundschaftlich und dennoch vertraut, achtungsvoll und dennoch bestimmt. „Irina ist älter als du, aber im Verhältnis zu dir, ist Irina ein kleines Mädchen.“

Elvira legt die Hand auf Rochens Hand und nimmt sie dort weg. Sie hält sie jetzt in ihrer Hand und legt auch die andere Hand darum. „Wieso das?“

Rochen lächelt. „Ich kenne Irina nicht gut genug. Ich kann nicht einschätzen, ob sie jemals etwas Großes wird. Bei dir bin ich mir sicher. Du hast mehr Kraft in dir, als du weißt. Du wächst langsam in diese Kraft, von der du noch gar nichts weißt, aber du bist schon so darin verwoben, dass du nicht mehr aussteigen kannst.“

Irina sieht Rochen an und sie drückt unwillkürlich diese Hand an ihren Busen. Sie schüttelt verwundert den Kopf.

An diesem Abend setzt sich die Wärme von Rochens Hand in Elvira fest, und auch die Wärme von Elviras Händen setzt sich in Rochen fest.

Rochen hat schon mit vielen Mädchen geschlafen. Er ist körperlich klein, aber er ist ein Athlet. Rochen ist Kampfsportler. Nun ja, nur im Fliegengewicht, aber Rochen ist wirklich gut. Er ist intelligent und wachsam, und Rochen hat ein sicheres Gespür.

Wenige Wochen später schlafen Rochen und Elvira zum ersten mal miteinander. Rochen ist fast zehn Jahre älter als Elvira. Eigentlich ist das nicht statthaft, was er da macht, aber irgendwie hat es Bumm gemacht. Sie wissen selbst nicht wieso. Nie zuvor hatten sie an so etwas gedacht. Sie kennen sich nun schon eine ganze Weile. Sie arbeiten indirekt zusammen, wenn es um die Verfolgung der Dealer geht, aber ihr Leben ist ganz unterschiedlich. Schließlich ist Elvira noch sehr jung und in vielen Dingen naiv. Rochen wird bereits jetzt als der zukünftige Erbe von Roy gehandelt. Er ist bereits jetzt eine Art graue Eminenz. Rochen ist auch ein gefährlicher Mann. Das hatten schon einige gelernt, die sich mit ihm angelegt hatten.

Rochen kann Gunst gewähren und er kann sie auch entziehen. Wenn das geschieht, dann hat das Opfer keine Chance. Rochen zieht alle Register und alle Fäden. Er kann gnadenlos sein.

Dennoch hat er sich in dieses Mädchen vernarrt. Elvira strahlt eine Kraft aus, die ihn beeindruckt. Sie weiß es nur noch nicht.

Am Abend nach dieser Nacht sieht Lara ihre Nichte Elvira lange an und Elvira spürt, dass Lara das von Rochen und ihr weiß. Sie verteidigt sich nicht, sie sieht Lara nur offen und ehrlich an. Nicht aufmüpfig, nicht unverschämt, sie sieht Lara nur an, und sie lächelt dabei.

Lara nickt, dann sagt sie, „wenn Rochen dir das Herz bricht, dann werde ich ihn zur Verantwortung ziehen. Du stehst unter meinem Schutz. Du sollst das wissen.“

Elvira lächelt immer noch, dann greift sie nach Laras Hand und sagt, „ich weiß, was da geschehen ist, aber ich weiß nicht, wie es geschehen konnte. Ich kann dir das nicht erklären, und ich will es auch nicht. Ich bin in Rochen hineingekrochen und ich habe mich dort umgesehen. Ich habe gesehen, dass Rochen schon mit vielen Frauen zusammen war, auch mit viel älteren. Rochen ist ein richtiger Mann. Er ist zärtlich und er ist aufmerksam, aber Rochen dienert nicht. Ich habe nicht ganz begriffen, warum er sich für mich entschieden hat, aber ich habe gespürt, dass er sich für mich entschieden hat. Mehr musst du jetzt nicht wissen. Es ist mein Leben.“

Lara lacht leise. „Das ist die Kraft, die ich in dir spüre. Ich wünsche dir viel Glück.“

Seit dieser Zeit ist Elvira mit Rochen zusammen. Sie lebt weiter ihr Leben. Sie kümmert sich um ihre Mutter und um ihre Geschwister. Sie kümmert sich um die Kids im Untergrund und um die Freunde im Zentrum, aber nun ist etwas in Elviras Leben getreten, das ihr neue Kraft und neue Stärke gibt.

Rochen hat im Verwaltungszentrum ein kleines Appartement, in das er sich zurückziehen kann, wenn es viel Arbeit und dringende Termine gibt, und er hat in der Stadt noch eine Wohnung. Da gibt es so einen Innenhof und mehrere alte Gebäude, die ihn umschließen. Elvira hat dort viele bekannte Gesichter gesehen, seit sie Rochen dort ab und zu trifft. Rochen hat dazu genickt. „Die ganze Häuserzeile gehört der Stiftung. Hier wohnen nur Freunde. Die Stiftung hat noch mehr solcher Gebäude, das soll dir aber deine Großmutter erzählen.“