Radio

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UTB 3333

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Hans-Jürgen Krug lebt als Publizist und Medienwissenschaftler in Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8252-3333-4

ISBN 978-3-846-33333-4 (E-Book)

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2010

Reihenkonzept und Umschlagentwurf: Alexandra Brand

Umschlagumsetzung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Korrektorat: Christiane Kauer, Bad Vilbel

UVK Verlagsgesellschaft mbH

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Tel.: 07531-9053-0 · Fax:

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Inhaltsverzeichnis

Titel Impressum Hinweis zur Zitierfähigkeit Warum Radio? - Das unbekannte Massenmedium Radio im Profil

1 - Geschichte 2 - Ökonomie 3 - Formate 4 - Nachrichten 5 - Politik 6 - Unterhaltung 7 - Kultur 8 - Werbung 9 - Nutzung

Anhang - Abkürzungen Zeittafel Literatur Personenregister Sachregister

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Warum Radio?

Das unbekannte Massenmedium

Das Radio ist ein flächendeckend etabliertes technisches Medium. Fast 100 Prozent aller Deutschen haben mindestens ein Radiogerät zu Hause, rund 75 Prozent besitzen 3 und mehr verschiedene Gerätearten, darunter Kofferradios, Walkman, Autoradios, Handys oder Radiowecker. Das Radio ist eines der meistgenutzten Massenmedien. Täglich mehr als 3 Stunden, genauer: 182 Minuten schaltete 2009 ein durchschnittlicher Nutzer sein Gerät ein. Die »Nutzungsdauer« des »Leitmediums« Fernsehen lag bei 228 Minuten; Presse (40 Minuten), Buch (25 Minuten) Video (4 Minuten) oder Internet (70 Minuten) blieben weit darunter (Eimeren 2009, 348). Und auch die Zahl der Sender ist enorm: In Deutschland strahlen derzeit 58 öffentlich-rechtliche Wellen und 233 Privatsender ihre Programme – vor allem auf Ultrakurzwelle (UKW) – aus; es gibt geschätzt 300 Millionen Radiogeräte und eine eindeutige Bevorzugung des traditionellen UKW-Radios. Mehr als 90 Prozent des Radiokonsums findet über UKW statt. Hinzu kommen seit den 1990er-Jahren (zusätzlich) über Kabel, Satellit oder übers Internet verbreitete Programme. Daneben positionierten sich heute je nach Schätzung zwischen mehr als 10.000 und über 50.000 – herkömmliche Radiodefinitionen sprengende – Internetradios. Hinter dem Einheitlichkeit versprechenden Begriff Radio verbergen sich also sehr vielfältige, heterogene und – was durchgehend übersehen wird – seit den Anfängen 1923 in Deutschland auch weitgehend regionale Radiorealitäten. 2009 etwa hatte die Hörfunkwelle Antenne Brandenburg die größte Reichweite in Brandenburg, in Hessen führte hingegen Hit Radio FFH, in Rheinland-Pfalz RPR 1 und im Saarland Radio Salü; selbst die reichweitenstärksten öffentlich-rechtlichen Wellen waren Regionalwellen: MDR 1 Radio Sachsen führte in Sachsen, Bayern 1 im gleichnamigen Bundesland (Media-Analyse 2009/1). Außerhalb ihrer Regionen blieben die Sender unbedeutend und unbekannt. Und noch eine Besonderheit bildete sich in der deutschen Radionutzung heraus: Die Hörer verhielten sich äußerst sendertreu: Ein durchschnittlicher Hörer nutzt statistisch nur rund 1,5 Programme.

Innerhalb der neueren und boomenden Medien- und Kommunikationswissenschaften nimmt der Hörfunk seit Langem eine Randposition nahe der Nichtbeachtung ein. Zwischen dem riesigen Angebot und der |7◄ ►8| dauerhaften Nutzung einerseits sowie der wissenschaftlichen Wahrnehmung andererseits besteht eine riesige – und keineswegs unbekannte – Kluft. Der Siegener Medienwissenschaftler Helmut Kreuzer nannte das Radio schon 1997 ein »vernachlässigtes Forschungsobjekt«. Der Hamburger Medienwissenschaftler Knut Hickethier hielt 2004 »das Ausblenden des Radios in der Medienwissenschaft … für einen Fehler«. Bis heute hat sich die Forschungssituation kaum geändert.

Radioforschung

Die Geschichte des deutschsprachigen Radios ist weitgehend ungeschrieben. Die frühe Radiogeschichtsschreibung stand lange »unter dem Eindruck eines den Zeitgenossen noch nicht bekannten Endes« (Lersch 2004, 33) und konzentrierte sich auf den jungen Weimarer Hörfunk sowie die nationalsozialistischen Jahre. Doch je länger das Radio sendete, desto rarer wurden die Beschreibungen. Programm- und rezeptionsgeschichtliche Arbeiten etwa gibt es nur »als erste Ansätze« (Dussel 2004, 12). Über Politik, Unterhaltung oder Werbung im Radio, über den Siegeszug der Popwellen, über das duale Hörfunksystem oder die langsame Formatierung (fast) der gesamten Radiolandschaft seit Ende der 1980er-Jahre weiß man nur wenig; eine Ausnahme stellt einzig das Hörspiel dar (Krug 2008). Eine Geschichte des Radiohörens steht aus und die Ökonomie des Hörfunks ist ein Desiderat. Immerhin erlauben jüngst publizierte Jubiläumsschriften (WDR, SR, BR, HR) erstmals langfristige und materialreiche Einsichten in die Selbstbeschreibungen der Sender.

Die Ursache dieser still versandeten Hörfunkforschung dürfte die für Deutschland typische Nähe von Kultur und Radio gewesen sein. Die Gründungsidee vom »Kulturfaktor Hörfunk« wurde über die Jahrzehnte langsam aufgelöst und bestand nur noch in Rudimenten, als sich in den späten 1970er-Jahren aus der Literaturwissenschaft die Medienwissenschaft zu entwickeln begann. Die ersten und meistzitierten ›Radiotheorien‹ stammen nicht zufällig von Schriftstellern (Bertolt Brecht) oder Redakteuren (Rudolf Arnheim, Eugen Kurt Fischer). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu folgenreichen Neupositionierungen: Die Sender weiteten ihre Hörerforschung aus und unterstellten sie ab Mitte der 1980er-Jahre direkt den Intendanten; Radioforschung wurde weitgehend mit interner, empirischer, demoskopischer und profilschärfender »Begleitforschung« identisch und »nur ein begrenzter Teil der Studien« (Klingler 1993, 479) wurde öffentlich. Da aus den lange Jahrzehnte eher locker aus Einzelsendungen komponierten Hörfunkprogrammen |8◄ ►9| medienerforscht konzipierte, bruchvermeidende Formatradios wurden, entstand ein weiteres Problem: »Ein Formatradio«, so Wolfgang Hagen, könne »von außen – unter Absehung der sie von innen her steuernden Managementfunktionen – sinnvoll überhaupt nicht beschrieben werden« (Hagen 2005, 302).

Eine »eigenständige Radiowissenschaft« (Schanze 2002, 305) konnte sich in der Bundesrepublik nie etablieren. Die wissenschaftlich-akademische Radioforschung blieb auf eine Vielzahl sehr heterogener und zeitlich meist sehr eingegrenzter Arbeiten aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen (Germanistik, Geschichte, Ökonomie, Jura) beschränkt. Die avanciertesten Medientheorien von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Norbert Bolz, Vilém Flusser, Jürgen Habermas, Friedrich Kittler, Niklas Luhmann oder Paul Virilio kommen ohne das (deutschsprachige) Radio aus und die Radioforschung ohne diese Theorieanschlüsse.

 

Gliederung

Das Grundprinzip des Radios ist eigentlich ganz einfach und erstaunlich stabil: Ein Sender strahlt ein akustisches Angebot aus, das (viele) Empfänger ausschließlich mit einem Empfangsgerät hören können. Ohne Technik (auf der Basis von Elektrizität) gibt es kein Radio. Fast alles andere aber hat sich seit den Anfängen des Hörfunks in Deutschland 1923 dramatisch verändert. Selbst die Bezeichnungen für das neue Medium blieben nicht einheitlich: zunächst sprach man in Deutschland vom Funk oder vom Rundfunk. Dann setzte sich langsam der – das Fernsehen ausschließende – Terminus Hörfunk durch. Er sei erst »neuerdings aufgekommen« heißt es noch 1970 im »Fischer Lexikon Publizistik«. Spätestens mit der Einführung des Privatfunks 1986 wurde der Begriff Hörfunk zurückgedrängt. Es etablierte sich das – alltagssprachlich natürlich erheblich ältere – Wort Radio.

Diese Einführung erzählt nicht die Geschichte der ungezählten Radioprogramme in Deutschland – dazu fehlt es auf fast allen Ebenen an Vorarbeiten. Und sie vertritt keine einzelmediale Radiotheorie (Faulstich 1991). Denn das Radio und seine Entwicklungen sind ohne die Auseinandersetzungen mit anderen Medien (Presse, Fernsehen, Internet) nicht zu verstehen. Schon 1913 zeigte Wolfgang Riepl, dass etablierte Medien durch neue Medien verändert werden und dass stetige Neupositionierungen stattfinden; schließlich werden aus neuen Medien irgendwann alte Medien, und so ist es auch dem Radio ergangen. 1923 war der Hörfunk das neue, unbekannte, sich selbst ungewisse akustische Medium, spätestens|9◄ ►10| in den 1960er-Jahren war das bereits ganz anders. Kapitel 1 erzählt von der Etablierung des Hörfunks auf einem von Papiermedien dominierten Informations-, Kultur-, Werbungs- und Unterhaltungsmarkt, den Möglichkeiten eines nur auf Stimmen, Töne und Geräusche setzenden, flüchtigen, aktuellen und zeitlich strukturierten Mediums und seinen Veränderungen bis in die Gegenwart. Ein wesentlicher Bestandteil ist, wie sich das Radio (gegen Presse, Fernsehen, Internet) stetig neu positionieren und durch technische (und programmliche) Innovationen neue Terrains erobern und neue Selbstdefinitionen entwickeln musste. Da der Hörfunk in Deutschland vor allem ein regionales Medium war und ist, sind diese Entwicklungen räumlich und zeitlich sehr unterschiedlich abgelaufen; allgemeingültigere Zäsuren lassen sich in der Radiogeschichte oft nur auf sehr hohem Abstraktionsniveau feststellen.

Kapitel 2 widmet sich den ökonomischen Grundlagen des Hörfunks in Deutschland. Da der Hörfunk vor allem durch eine von 1924 bis 1970 konstante Gebühr von 2,00 Mark finanziert wurde, geriet dieser Themenbereich weitgehend aus dem Blickfeld von Medien- und Kommunikationswissenschaft. Dabei produzierte die Rundfunkwirtschaft schon 1929 durch Gebühren, Geräte, Löhne oder Radiozeitungen einen Produktionswert von der Größe der deutschen Braunkohlenwirtschaft. Seit den Anfängen spielte Werbung auch zur Finanzierung des Programms eine Rolle, ihre finanzielle Bedeutung nahm sogar stetig zu. Und seit Mitte der 1980er-Jahre hat sich neben dem öffentlich-rechtlichen Hörfunk ein privater Radiomarkt (mit vielen Verbindungsgliedern) herausgebildet. Der Hörfunk musste schon immer auch finanziert werden. Dieses Primat der Ökonomie hatte vielfältige Folgen.

Traditionellerweise widmete sich die (literaturwissenschaftliche) Hörfunkforschung einzelnen Werken, vor allem Hörspielen. Die Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten haben die Bedeutung einzelner Sendungen deutlich reduziert, nicht mehr das einzelne Werk, die Welle ist die neueste Botschaft geworden. Kapitel 3 beschreibt, wie aus dem Einschaltmedium Hörfunk das Begleitmedium Radio und dann das allgegenwärtige Formatradio geworden ist. Seit den Anfängen mussten die Hörfunkproduzenten ihre Inhalte zeitlich ordnen und spezifische Programme herausbilden. Die historische Entwicklung ging vom relativ einfach erstellten »Kästchenprogramm« zu präzise geplanten, computergestützten und mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheidbaren Wellen und Radiotypen. In diesen modernen Programmen ist nichts mehr dem Zufall oder der Abweichung überlassen: Die einzelne »Sendung« ist nicht mehr autonom; sie ist Teil des »durchhörbaren« Gesamtprogramms, der Welle, der Marke.

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Ohne Inhalte, ohne Themen freilich gäbe es kein Radio – die Strukturen blieben leer. Die Inhalte kommen aus den unterschiedlichsten Bereichen, sie sind mal Unterhaltung, Kultur, Politik oder Information, mal Werbung. Alle werden vom Hörfunk gesendet und alle folgen ihren eigenen Logiken. Die Information will Neuigkeit und Überraschung, die Werbung Lockung und Verkauf, die Unterhaltung Vergnügen, die Kultur Ästhetik und Besserung, die Musik Emotionen, und diese Elemente wurden zunächst nacheinander angeboten (Programm) und für »alle« gesendet. Der Hörfunk der Mittelwellenjahre bildete also nicht nur, er unterhielt nicht nur und er warb nicht nur: seine Einheit lag in der ständigen akustischen Irritation der Hörer und im ständigen Training des Umgangs mit Irritation. Mit der Zunahme der Programme, der Ausdifferenzierung der Wellenstrukturen und der gegenseitigen Beeinflussung und Durchdringung der Elemente (etwa Infotainment, Public Relations) veränderten sich auch der Sound und die Leistungen der verschiedenen Wellen. Anders als bei Fernsehen oder Internet waren diese Entwicklungen regionale und nur sehr vermittelt (etwa bei der Technik, den Frequenzen, den Kooperationen (ARD, EBU) oder dem Werbungsverkauf) nationale oder gar internationale.

Die Geschichte der Radiokultur, der Radionachrichten, der Funkwerbung, der Radiounterhaltung, der politischen Angebote und der Hörfunkmusik sind weitgehend ungeschrieben; systematischere Analysen fehlen. Kapitel 4 bis 8 skizzieren, wie sich die einzelnen einst zusammengehörenden Teilbereiche professionalisiert, separiert und dann neu definiert haben. Das moderne Radio bietet die verschiedenen Hörfunkelemente (Nachrichten, Politik, Unterhaltung, Kultur, Werbung und Musik) nicht mehr auf einem Programm; sie sind heute auf verschiedene Programme verteilt und zugleich gegeneinander durchlässig geworden: Kultur ist auch Unterhaltung, Politik auch Werbung, Unterhaltung auch Kultur. Im abschließenden Kapitel 9 geht es schließlich um unser – sehr einseitiges – Wissen über die Nutzung des Radios

Diese Einführung kann das Thema »Radio« natürlich nicht vollständig abdecken, und sie will dies auch nicht. Sie versucht, neue Fragen an das Radio, seine Geschichte und seine Funktionen zu stellen. Darüber hinaus berücksichtigt der Text erstmals die verschiedenen Programmbereiche des Radios und beschreibt Nachrichten und Kultur, Unterhaltung und Musik, Werbung und Politik als Bestandteile des Hörfunks. Aus ihrem Zusammenwirken entsteht die Einheit, die Realität des Radios.

Die Zitatnachweise wurden der besseren Lesbarkeit wegen auf ein Minimum reduziert.

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Radio im Profil

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Geschichte

Das Radio ist das erste elektronische Massenmedium. Es ist ein eindimensionales, rein akustisches Medium; das Radio übermittelt ausschließlich Stimmen, Geräusche und Töne. Es kann nur gehört werden. Der frühe Funk orientierte sich an der schriftgeprägten Gutenberg-Galaxis; er leitete eine erste Auflösung der Schriftorientierung und die Gründung regionaler, technisch-akustischer Welten ein. Das Radio richtet sich »an alle«, ist aber im Wesentlichen ein Regionalmedium. Für das Radiohören war keine Alphabetisierung mehr nötig. Es reichten ein Programm und ein spezifisches Empfangsgerät, ein Radioapparat.

Akustisches und regionales Massenmedium

Der Rundfunk startete in Deutschland am 29. Oktober 1923 im Berliner Vox-Haus. Er war das erste elektronische und – nach einer Unterscheidung von Harry Pross – tertiäre, d.h. ausschließlich mit einem Empfangsgerät nutzbare Massenmedium. Darin unterschied sich das Radio elementar von primären (dem menschlichen Körper verbundenen, technikfreien) und sekundären Medien, bei denen Technik – wie etwa bei der Zeitung – nur zur Produktion nötig ist.

Die ersten Funksendungen waren nur im Berliner Umland zu hören, Ende 1923 gab es rund 1.000 (registrierte) Hörer. Auch die bald gegründeten Sender in Hamburg, Frankfurt, Köln, Stuttgart, München, Leipzig, Breslau oder Königsberg waren (über Mittelwelle) kaum mehr als 150 Kilometer weit zu empfangen. Der Hörfunk startete als ein regionales Medium, er erweiterte den Klangraum der Kirchenglocken durch den der Sender. München oder Hamburg erhielten eigenständige Programme, und die waren nur nahe Hamburg und München zu hören. Die Empfangsqualität war – technikbedingt – schlecht. Die Programme waren zunächst reine Abendprogramme und der legale Zugang war teuer; |13◄ ►14| zwei Mark Rundfunkgebühr kostete der Hörfunkempfang – dieser Betrag sollte sich bis 1970 nicht mehr ändern. Als Ende 1926 die erste deutsche Rundfunkordnung abgeschlossen wurde, gab es – »strukturell gesehen« – einen »Staatsrundfunk« (Dussel 2004, 38). Die Funktion des neuen Mediums aber war unklar. Wie sollte es sich positionieren? Als zusätzlicher Realitätsvermittler ähnlich der Zeitung, als neues Medium der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung oder gar als Produzent von akustischem »Synchron-Stress« (Sloterdijk 1998, 42)?

1923 bestand in Deutschland eine prinzipiell funktionierende Medienlandschaft; sie war seit Langem Teil der typographischen, schriftorientierten Gutenberg-Galaxis und vielleicht noch ein wenig »earthy« (Marshall McLuhan). Für die Öffentlichkeit war das sekundäre Massenmedium Zeitung (Presse) zuständig (Habermas 1965); es gab Theater und Kinos (Film), Bücher, Fotografie, Schallplatten. Niemand hatte 1923 auf den Rundfunk gewartet, »der Rundfunk«, so Bertolt Brecht (1967), »wartete auf die Öffentlichkeit«. Der »unvorhersehbare Zufall« Rundfunk positionierte sich zu diesen anderen, vor allem privat organisierten Medien (konfliktreich) neu. Er ersetzte weder die Presse (Neuigkeit) noch die Schallplatte (Musik), die Livekultur, das Buch, die Oper oder das Theater (Kultur) – er wurde von den anderen Medien beeinflusst und beeinflusste sie wieder.

Der Hörfunk setzte als erstes Massenmedium ausschließlich auf das Akustische und auf die Mündlichkeit. Er befreite die »Zauberkraft der Oralität« aus »einem langen Dornröschenschlaf« (Havelock 2007, 22), Brechts Wort von der »vorsintflutlichen Erfindung« (Brecht 1967, 119) nimmt gerade diese reine Mündlichkeit wieder auf. Denn fürs Radiohören brauchte man – anders als fürs Zeitunglesen – keine Alphabetisierung, sondern nur einen Empfänger. Die Mündlichkeit des Radios, diese sekundäre, technisch übermittelte Oralität, war zunächst nicht speicherbar und – ob Nachricht, Werbung oder Kunstwerk – so extrem flüchtig wie jedes gesprochene Wort. Kein Wunder also, dass Autoren, Journalisten, Schauspieler und Musiker zunächst recht zurückhaltend reagierten.

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Merksatz

Das Radio ist in Deutschland (vor allem) ein regionales Massenmedium. Es ist ein rein akustisches und orales Medium, das ausschließlich auf Mündlichkeit, auf »Sprech- oder Singbarem« (Brecht 1967, 128) beruht. Zur Rezeption bedarf es spezifischer Empfangsgeräte und damit der Technik. Ohne Elektrizität ist Radio nicht hörbar, ohne Aufnahmegeräte nicht speicherbar. Hörfunk ist ein eindimensionales, asymmetrisches Medium: Viele können Radio hören, aber nur wenige können senden.

Kulturmedium Hörfunk

Der Funk begann als elektronisches Monopolmedium und behielt diesen Status bis weit in die 1950er-Jahre. 1923 existierte keinerlei akustische Konkurrenz. Das Radio wurde – in bewusster Anlehnung an Gutenbergs Buchdruck – als neuer »Kulturfaktor« positioniert. Ein Kulturfaktor freilich, der einen »Querschnitt durch den gegenwärtigen Stand unserer Kultur« (Krug 2008, 18) ermöglichen sollte. Das frühe Radio begriff sich als Fortsetzung und Erweiterung traditioneller Kultur im rein Akustischen. Deshalb übertrug man stundenlange Radiofassungen etablierter Dramen, sendete Vorträge oder gelesene Klassiker der Literatur. Der Hörfunk schloss sich an die etablierte (Schrift-)Kultur an und bemühte sich um etablierte Schriftsteller, Komponisten, Schauspieler. 1924 hatte – als erstes originäres Kunstwerk des Radios – das Hörspiel Premiere. Es wurde die »Krönung des Funks« (Richard Kolb).

 

Das neue Medium Hörfunk unterschied sich essentiell von Buch, Theater, Oper, Kino oder Schallplatte. Er gab kein alleinstehendes Einzelwerk mehr, sondern ein laufendes, aus Einzelsendungen bestehendes flüchtiges Programm. Im Radio folgte Musik auf Vortrag, Meldung auf Musik, Erhabenes auf Komisches, »Kästchen« auf »Kästchen« – schon die Zeitgenossen sprachen vom »akustischen Warenhaus« (Brecht 1967, 128) Hörfunk. Und das Angebot wuchs beständig: Anfang der 1930er-Jahre gab es in Deutschland bereits 17- bis 18-stündige Sendetage. Das Radio war zeitlich (zunehmend) immer präsent und räumlich ein Regionalmedium. Ein Zweiröhren-Netzempfänger mit Lautsprecher konnte kaum mehr als den Ortssender empfangen und kostete (mit 100 bis 120 Mark) für die meisten Hörer einen Monatslohn. Radio wurde vor allem zu Hause gehört, kaum ein Haushalt verfügte über mehr als ein Empfangsgerät. |15◄ ►16| Zum frühen Radio gehörte das gemeinsame – und damit sehr interessenverschiedene – Hören. Dennoch schuf das neue akustische Medium auf Dauer »im Hause selber eine Öffentlichkeit, wie Zeitung und Bücher es niemals vermocht haben« (Plessner 1985, 216). Trotz der Kosten gab es rasch einen Radioboom, Radio wurde nachgerade zur Mode. Ende 1924 gab es bereits 550.000 zahlende Teilnehmer, Ende 1925 über eine Million, Ende 1927 über zwei und Anfang 1932 schon über vier Millionen.

Das frühe Radio war vor allem Liveradio; es wurde live produziert und »grundsätzlich« (Dussel 2004, 41) auf Mittelwelle (MW) gesendet. Nach der Ausstrahlung war das Programm – noch fehlte es an akustischen Speichermöglichkeiten – unwiderruflich versendet. In den Anfangsjahren war das Wort-Musik-Verhältnis etwa eins zu eins, 1932 bestand die Hälfte des Programms aus Musik – Oper, Operette, Schlager, Unterhaltungsmusik. Zunächst wurden vor allem Eigenproduktionen gesendet, Livestücke aus dem Studio. Der Schallplattenanteil lag bei etwa zehn Prozent – für das Grammophon war das Radio keine direkte Konkurrenz. Für die Literaturangebote spielte – fürs Radio gekürzt und dramatisiert – Theaterdichtung eine große Rolle; zumal sie bis 1926 weitgehend honorarfrei gesendet werden konnte. Einige Theater sperrten anfänglich ihre Schauspieler für Radiorollen oder verhinderten Übertragungen – erst langsam entwickelten sich Erfahrungswerte, wann das Radio für die anderen Kulturbereiche hilfreich oder schädlich war. Und die Nachrichten nahm man dorther, wo sie einfach und vor allem billig zu bekommen waren. Man kaufte die Zeitungen am nächsten Kiosk und nahm sie als Grundlage der anfänglich etwa drei Nachrichtensendungen täglich; Aktualität gab es – entgegen dem »Ohrenschein« – eigentlich nicht. Nachrichten hatten im frühen Kulturmedium Hörfunk einen Sonderstatus: Nach 1926 mussten die überregionalen Nachrichtentexte zentral (und widerwillig) von der Drahtloser Dienst AG (Dradag) in Berlin übernommen werden. Die technischen Möglichkeiten waren einfachster Art – selbst eine einfache Blende wurde erst langsam möglich. Aktuelle Berichterstattung war rar und konzentrierte sich auf den Sport, Radrennen vor allem. Zum frühen Radio gehörte schließlich auch die Werbung. Sie brachte unter 0,3 Prozent der Gesamteinnahmen ein, ihr Programmanteil lag 1927 in Berlin bei 14,1 Prozent, in Breslau sogar bei 15,3 Prozent, sank dann aber wieder rapide.

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Die Macht der Stimme

Die Wortsendungen beruhten auf Mündlichkeit und Stimme und waren doch zutiefst der Schriftlichkeit verbunden. Denn das Radio sendete zwar live, aber die gesprochenen Texte wurden zunächst geschrieben (und natürlich kontrolliert) und dann erst verlesen. Die sekundäre Oralität des frühen Radios beruhte also auf einer spezifischen, dem Medium sanft angepassten, einer »maskierten« (Gethmann 2006, 116) Schriftlichkeit. Ihre Bestandteile waren in Stilfibeln festgeschrieben: »kurze Sätze«, »natürliche Sprache« oder »keine Schachtelsätze«. Vor allem die Nachrichtensprecher setzten auf Nüchternheit und entwickelten einen eigenen Sicherheitston (der bis in die 1970er-Jahre stilbildend blieb). Das Sprechen im Radio wurde normiert und wirkte bei den Hörern normierend.

Merksatz

Der Hörfunk begann am Abend und der Abend war über Jahrzehnte die wichtigste Radiozeit. Hier fanden die großen Radioangebote statt: Kultur, Unterhaltung, Musik, Vorträge.

Das frühe Radio mit seinen »Kästchenprogrammen« wandte sich »an alle« (in der Region). In den ersten Jahren wurden die Sendungen von den Programmverantwortlichen eher intuitiv in den Programmtag, die Programmwoche und das Jahr eingebaut. Der Rundfunk reagierte auf die Rhythmen der Jahres- und Tageszeiten oder den Wechsel zwischen Werk-und Feiertagen. Sehr rasch und dauerhaft setzte sich (bis in die 1960er-Jahre) die Zeit zwischen 18 und 22 Uhr als die wichtigste Sendezeit, die Hauptsendezeit durch. Radiozeit war Abendzeit. Jetzt gab es die meisten Hörer und die ambitioniertesten Sendungen. Das bürgerliche Kulturleben prägte die Programmstruktur des Hörfunks und konkurrierte insofern mit Kino, Theater oder Oper.

Moderne Informiertheit

Das frühe Radio galt keineswegs als hörerfreundlich, aber es etablierte sich außerordentlich rasch. Dazu trug nicht nur sein akustisches Monopol bei. Das ›permanente‹ Programm befriedigte ein neues »lebensweltliches Interesse am Wissen«; es tat dies nebenbei, ersparte den Hörern die gezielte Auswahl und bot ihnen – so Kaspar Maase – eine »moderne Informiertheit« (Lersch 2004, 68). Das Radio brachte den Hörern|17◄ ►18| statt ihrer primären Milieus oder sekundären (über Parteizeitungen vermittelten) »Klassenkulturen« eine neue, akustisch homogenisierte (tertiäre) »Massenkultur«; es kombinierte bisher einzigartig Kultur, Musik, Unterhaltung, Nachrichten und Werbung in professionell ausgewählten und erstellten Programmen. Arnold Gehlen hat für das neue, massenmedial vermittelte Wissen später die Formel der »reich unterrichteten Weltfremdheit« geprägt.

Rapide technische Innovationen veränderten das Radio bis in die 1950er-Jahre nicht mehr. Am 26. August 1929 wurde in Deutschland der Kurzwellenrundfunk eingeführt und vor allem vom Auslandsfunk genutzt. Der Mittelwellenempfang wurde verbessert; nach den (Groß-)Städten wurde langsam auch das Land erschlossen; 1933 gab es im Deutschen Reich 4,5 Millionen Hörer, 1939 waren es 9,5 Millionen – doch auch der populäre »Volksempfänger VE 301« ließ gerade mal den Empfang des Deutschlandsenders auf Langwelle und eines Regionalsenders zu.

Merksatz

Die erste Hörfunkperiode war in Deutschland durch das Mittelwellenradio geprägt. Diese technische Gegebenheit beeinflusste das Programm zutiefst: Von der großen Bedeutung des Wortes bis zum – durch die mäßige Übertragungsqualität nötig gewordenen – »rufenden« Sprechgestus. Das frühe Radio definierte sich als Kulturmedium, seine Programmstrukturen waren schwach. Es war ein Livemedium, in dem Aktualität, Nachrichten und Politik eine untergeordnete Rolle spielten.

Es waren politische Veränderungen, die die junge Medienlandschaft rapide veränderten: Spätestens 1933 wurde der Hörfunk endgültig zum Staatsrundfunk, die regionalen Gesellschaften wurden 1934 zu »Reichssendern«. Der Anteil der Eigenproduktionen sank, das Regionale wurde reduziert. Am 22. März 1935 startete – für ein ganz kleines Publikum – das visuell-akustische und später große Konkurrenzmedium Fernsehen; der »Siegeszug der Kurzwelle verlieht dem Auslandsrundfunk neue Dimensionen« (Boelcke 1977, 28). Doch in Deutschland war Radio weiterhin bevorzugt Mittelwellenradio; der Abend blieb die wichtigste Radiozeit; der Musikanteil stieg (etwa in Köln) phasenweise auf bis zu 60 Prozent. Nach dem Kriegsausbruch 1939 wurden Wehrmachts- und Frontberichte im Wortprogramm immer wichtiger. Seit dem 9. Juli 1940 sendete nur noch der »Großdeutsche Rundfunk« mit einem Sendernetz, |18◄ ►19| das bis Wien, Luxemburg, Oslo oder Belgrad reichte, der Musikanteil erreichte bis zu 85 Prozent. 1944/45 wurden die Luftwarnungen zur wichtigsten und Leib und Leben sichernden Serviceleistung des Hörfunks. Die Jahre zwischen 1933 und 1945 waren eine Sonderphase: Der Rundfunk wurde national und dann international (Auslandsrundfunk, besetzte Gebiete, Soldatensender). Nicht zufällig pointierten frühe kommunikationswissenschaftliche Arbeiten die Allmacht des Hörfunks, die Passivität, ja das Ausgeliefertsein der Empfänger sowie die Bedeutung der Propaganda. Erst viel später setzte sich die Einsicht durch, »dass das Gemeinschaftsleben gegen Massenmedien resistent« (Hondrich 2001, 158) sein kann.

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das Radio (vor allem) ein Mittelwellenmedium und wurde wieder ein Regionalangebot – darüber dürfen alle Metaphern vom »Ohr der Welt« oder vom »Ohr zur Welt« nicht hinwegtäuschen. Nach 1945 gab es sechs (westliche) »Besatzungssender« in München, Baden-Baden, Frankfurt, Bremen, Hamburg und Stuttgart; sie traten zunächst unter Namen wie Radio München oder Radio Hamburg auf; aus Berlin sendete – sowjetkontrolliert – der Berliner Rundfunk. Die neuen Hörfunkprogramme waren improvisierte Programme inmitten brachliegender Medienlandschaften: Theater waren zerstört, die Kinos lagen brach, die neuen Tageszeitungen erschienen zwei- bis dreimal pro Woche und nicht mehr mehrmals am Tag (wie bis in den Zweiten Weltkrieg praktiziert), der Umfang der Presse war gering. 42 Prozent der Haushalte besaßen 1946 noch einen Radioapparat, 1950 waren es 89 Prozent.