Pergamente und Papyri

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Welche Bücher lasen die ersten Christen?

»Auch wenn uns die Bücher der verschiedenen Evangelien unterschiedliche Dinge lehren, macht das für die Gläubigen keinen Unterschied. Denn in ihnen allen ist alles bekannt gemacht worden, durch den einen, souveränen Geist: alles über seine Geburt, seine Leiden und seine Auferstehung, sein Leben mit seinen Jüngern und sein doppeltes Erscheinen. Das erste, geschehen in Niedrigkeit und Verachtung; das zweite, das in der Zukunft geschehen soll, in strahlender königlicher Macht.«5

Dieses Zitat aus dem Jahr 180 n.Chr. sagt mindestens drei Dinge darüber, welche Bücher die Christen gelesen haben: Zum einen kannten und verwendeten sie mehrere Evangelien. Zum anderen waren sie sich der Unterschiede zwischen den Evangelien bewusst. Des Weiteren stellten diese Unterschiede kein Problem für sie dar, denn das Wichtigste war in ihnen allen enthalten.

Diese Haltung ist für Bibelleser seit jeher typisch: Sie sind die Verschiedenheit der Bücher und den ungleichen Erzählstil gewohnt – und finden das vollkommen in Ordnung. Gleichwohl wurde Ende des 2.Jahrhunderts n.Chr. ein Versuch unternommen, die vier Evangelien zu einem zusammenzuführen. Ein Syrer namens Tatian hatte die Idee, alle Geschichten der vier Bücher zu einem Riesenevangelium miteinander zu verbinden. So könnte vermieden werden, dass der Leser im falschen Evangelium zum Beispiel nach dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter sucht (das ausschließlich im Lukasevangelium steht). Alles würde an einem Ort zu finden sein, in einer zusammenhängenden Erzählung.

Die Idee war gut. Das Riesenevangelium des Tatian fand schnell weiträumig Verbreitung und war allem Anschein nach beliebt. Historisch betrachtet wurde es jedoch zu einem Fiasko. Keines der Manuskripte ist vollständig erhalten. Bekannt ist es heute lediglich durch Erwähnungen, durch Zitate in anderen Büchern, und weil kleine Teile davon gefunden wurden. Es trug den Namen Diatessaron, was so viel bedeutet wie »durch vier«. Wie dem Titel zu entnehmen ist, enthielt das Buch die gleichen Erzählungen, die in den vier Evangelien wiedergegeben sind.

Im 5.Jahrhundert endete die Verwendung des Buches. Viele Bischöfe wollten, dass die Gemeinden die vier individuellen Evangelien lasen. Mitte des 5.Jahrhunderts prahlte ein Bischof damit, zweihundert Exemplare des Diatessaron durch individuelle Evangelien ersetzt zu haben. Der wichtigste Grund aber war wohl, dass die Leser die vier Einzelbücher lieber mochten. Sie waren schlicht und einfach der Ansicht, es sei interessanter, vier unterschiedliche Porträts von Jesus zu lesen als ein standardisiertes. So ist es auch heute: Auch wir finden es spannend, die gleiche Person von vier unterschiedlichen Künstlern porträtiert zu sehen. Der Einsatz von Farben und Formen kann sehr unterschiedlich sein; dennoch sehen wir, dass alle Künstler in ihren Werken die gleiche Person porträtiert haben und lediglich eine bestimmte Seite von ihr besonders betonten.

Den ersten Lesern gefiel es also, dass es mehrere, unterschiedliche Erzählungen gab. So zieht es sich durch die gesamte Bibel. Die unterschiedlichen Bücher des Alten und des Neuen Testaments weisen große Unterschiede auf. Dennoch haben sich die Leser daran gewöhnt, eine Vielzahl unterschiedlicher Genre und Stilarten zu bewältigen. Wie aber kam es dazu, dass exakt diese Auswahl von Büchern zwischen zwei Umschlagseiten landete?

Weder Konzile noch eine zentrale Kirchenmacht haben entschieden, welche Bücher das Neue Testament bilden sollten. Es waren die Christen selbst, die die Bücher durch deren Nutzung auswählten. Bereits Ende des 2.Jahrhunderts hatte sich ein Kern von etwa zwanzig Büchern herauskristallisiert, die überall in Gebrauch waren. Es handelte sich um die vier Evangelien, die Apostelgeschichte des Lukas, dreizehn Paulusbriefe, den 1.Brief des Petrus sowie den 1.Brief des Johannes. Die letzten sieben Bücher waren noch nicht überall in Gebrauch: der Hebräerbrief, der Brief des Jakobus, der 2.Brief des Petrus, der 2. sowie der 3.Brief des Johannes, der Brief des Judas und die Johannesoffenbarung. Dieser Kern von zwanzig Büchern findet sich in zwei verschiedenen Dokumenten des 2.Jahrhunderts:

Im Jahr 1740 fand der Historiker Lodovico Antonio Muratori in der Bibliothek von Mailand ein altes Manuskript. Es ist eine Liste der Bücher, die in den christlichen Gottesdiensten verwendet wurden. Die Liste ist um das Jahr 180 n.Chr. in Rom verfasst worden und erwähnt 22 der Bücher des Neuen Testaments: die vier Evangelien, die Apostelgeschichte des Lukas, zwei Briefe des Johannes, dreizehn Paulusbriefe, den Brief des Judas sowie die Johannesoffenbarung. Das Manuskript bekam den Namen Kanon Muratori, nach dem Historiker, der es gefunden hat.

Ein zweites Beispiel finden wir weiter westlich in einem Gebiet, das heute zu Frankreich gehört. In den 180er-Jahren schrieb Irenäus sein drittes Buch »Gegen die Häresien« (Adversus Haereses). Darin hat er 23 Schriften aufgelistet, die für die Kirche verpflichtend sind. Neben jenen des Kanon Muratori benennt Irenäus den 1.Brief des Petrus sowie den Hebräerbrief, lässt jedoch den Brief des Judas aus. Noch immer ist die Außengrenze der Schriftensammlung also leicht fließend. Gleichzeitig ist ein fester Kern erkennbar: die Evangelien, die Apostelgeschichte des Lukas und die Paulusbriefe sind überall in Gebrauch und werden von niemandem angezweifelt. Irenäus spricht von den »Schriften der Wahrheit« im Gegensatz zu der »Menge an Apokryphen und unechten Schriften«, die es zu seiner Zeit offensichtlich auch gegeben hat.

Wenn wir das Mittelmeer überqueren und ins nordafrikanische Karthago segeln, begegnen wir dort Anfang des 3.Jahrhunderts dem großen christlichen Theologen Tertullian (ca. 160–225 n.Chr.). Er verwendet als Erster den Namen »Das Neue Testament« für eine Sammlung von Schriften. Mit diesem Namen scheint er eine abgegrenzte Sammlung von Büchern zu meinen, auch wenn er nicht angibt, welche Bücher er dazurechnet. Wahrscheinlich denkt auch er an die vier Evangelien, die Apostelgeschichte des Lukas und die verschiedenen Briefe.

Eine Generation später versucht auch Origenes (185–253 n.Chr.) den Umfang des Neuen Testaments zu definieren. Er hält sich in der Nähe des östlichen Mittelmeers, in Caesarea auf. Origenes hält alle 27 Schriften, die heute das Neue Testament ausmachen, für verpflichtend. Er fügt jedoch hinzu, dass der Hebräerbrief, der 2.Brief des Petrus, der 2. und 3.Brief des Johannes, der Brief des Jakobus und der Brief des Judas mancherorts umstritten sind. Zudem ordnet er einige Schriften als falsch ein, unter anderem das apokryphe »Thomasevangelium«.

Einhundert Jahre später hält sich der große Kirchenhistoriker Eusebius (gest. 339 n.Chr.) in Caesarea auf. In seiner Kirchengeschichte beschreibt er die Bücher des Neuen Testaments und teilt sie in drei Gruppen ein: Die erste Gruppe bilden die allgemein anerkannten Bücher, wozu die vier Evangelien, die Apostelgeschichte des Lukas, die Paulusbriefe, der Hebräerbrief, der 1.Brief des Johannes, der 1.Brief des Petrus sowie die Johannesoffenbarung gehören; insgesamt 22 Bücher. In der zweiten Gruppe finden sich die umstrittenen Bücher, die nicht überall in Gebrauch sind: Das sind der Brief des Jakobus, der Brief des Judas, der 2.Brief des Petrus sowie der 2. und 3.Brief des Johannes – das heißt, die restlichen Bücher dessen, was wir als das Neue Testament bezeichnen. Die dritte Gruppe umfasst Bücher, die Eusebius als die unechten bezeichnet: der »Hirte des Hermas«, der Barnabasbrief und die »Lehre der zwölf Apostel«. Daneben gibt es einige Schriften, die es laut Eusebius nicht einmal verdienen, als »unecht« bezeichnet zu werden, wozu er unter anderem das Petrusevangelium und das Thomasevangelium zählt.

Einer der bedeutendsten Kirchenväter zur Zeit der Abgrenzung des Neuen Testaments war Augustinus (354–430 n.Chr.). Er war Bischof im nordafrikanischen Hippo. In seinem Buch »Über die christliche Lehre« benennt er die wichtigsten Kriterien bei der Auswahl der Bücher des Neuen Testaments. Seine Aussagen können in drei Punkten zusammengefasst werden:

– Die Schriften mussten apostolischen Ursprungs sein:

Sie mussten von einem Apostel oder einem Mitarbeiter eines Apostels geschrieben worden sein.

– Ihr Inhalt musste apostolisch sein:

Sie mussten die gleichen Botschaften über Christus enthalten wie die anderen Schriften, die bereits in Gebrauch waren.

– Sie mussten allgemein verbreitet sein:

Es reichte nicht aus, eine Schrift vorzuschlagen, die lediglich an einigen wenigen Orten in Gebrauch war. Die Bücher mussten in der gesamten christlichen Kirche bekannt sein und genutzt werden.

Der endgültige Schlussstrich unter das Neue Testament wurde 397 n.Chr. während einer Synode in Karthago gezogen. Dort wurde festgelegt, dass keine anderen Schriften als die 27 des heute bekannten Neuen Testaments verwendet werden sollen. Diese Schriften hatte Bischof Athanasius (298–373 n.Chr.) im Jahr 367 n.Chr. in einem Osterbrief in Alexandria aufgelistet. Und so geschah es.

Diese Punkte belegen, dass die Bücher, die zum Neuen Testament wurden, sowohl im Norden und Süden als auch im Osten und Westen des Mittelmeerraums in Gebrauch waren. Auch wenn dieser lange und spannende Prozess seinen Abschluss letztendlich im Rahmen einer Synode fand, waren es doch die Leser, die entschieden, welche Bücher sie am meisten mochten. Man kann von einer demokratischen Volksbewegung sprechen, die durch Gebrauch über die Auswahl der Bücher entschied – am Ende des Prozesses erst wurden die Beschlüsse gefasst.

Bislang sind wir den Manuskripten des Neuen Testaments zurück bis zum Beginn des 5.Jahrhunderts gefolgt. Jetzt begeben wir uns in das 4.Jahrhundert und widmen uns den beiden prächtigsten und wichtigsten jemals gefundenen Manuskripten des Neuen Testaments. Beide wurden im 19.Jahrhundert erstmals von Forschern beschrieben – und in diese Zeit führt uns das nächste Kapitel.

 

Das Manuskript im Kloster: Codex Sinaiticus

Siehe Abbildung 2

»Schlafen fühlte sich wie ein Verbrechen an.«6

Das Zitat stammt aus dem Tagebuch des jungen Textforschers Konstantin von Tischendorf (1815–1874). Er hatte soeben eine ganze Nacht mit dem weltweit ältesten kompletten Manuskript des Neuen Testaments in den Händen verbracht. Kein Forscher wusste von der Existenz des Manuskripts, bevor der Verwalter des von Tischendorf besuchten Klosters es aus einem Schrank holte. Tischendorf hatte die Erlaubnis erhalten, es sich näher anzusehen, jedoch nur bis zum nächsten Tag. Er war sich vollkommen im Klaren darüber, wie einmalig diese Möglichkeit war, und blieb dafür die ganze Nacht wach. Zu schlafen wäre schlicht und einfach nicht richtig gewesen, fand er.

Die moderne Geschichte des Manuskripts, das den Namen Codex Sinaiticus bekam, beginnt fünfzehn Jahre vor dieser Nacht 1859. Bereits 1844 reist Konstantin von Tischendorf auf der Suche nach alten Manuskripten des Neuen Testaments in das alte Katharinenkloster am Fuße des Sinai. Er ist nicht einmal dreißig Jahre alt, hat aber bereits viele griechische Bibelmanuskripte studiert. Mithilfe von Chemikalien hat er bereits den Versuch unternommen, die verborgene Schrift des Codex Ephraemi Rescriptus zu deuten. Mit wachsender Spannung hat er zugesehen, wie die alten Buchstaben auf dem Pergament sichtbar wurden, nachdem sie viele Hundert Jahre verborgen waren.

Sein Interesse, die ältesten Manuskripte der Bibel zu finden, entwickelte sich bereits in den Jahren 1834 bis 1838 während seines Theologiestudiums in Leipzig. Der Unterricht bei Professor Johann G.B. Winer löste bei Tischendorf den glühenden Eifer aus, die frühesten Texte des Neuen Testaments ausfindig zu machen. Er beschloss, sich voll und ganz dieser Lebensaufgabe zu widmen und schrieb 1838 an seine Verlobte:

»Ich stehe vor einer heiligen Aufgabe, dem Kampf, den ursprünglichsten Text des Neuen Testaments wiederzufinden.«7

Tischendorf gab sich dieser Lebensaufgabe mit immensem Arbeitseifer hin. Er weihte sein Leben der Suche nach alten Manuskripten, und seine Verlobte musste bis 1845 auf die Hochzeit warten. Tischendorf fand und publizierte mehr Manuskripte des Neuen Testaments als irgendein anderer. Auf seinen vielen und langen Reisen in den Orient fand er insgesamt 21 Manuskripte, die der Forschung bis dahin unbekannt waren. Er schrieb über 150 Bücher und Artikel, vor allem über die Textgeschichte des Neuen Testaments. Und nicht zu vergessen: Acht Mal nahm er die unsagbar detailreiche Kleinstarbeit auf sich, eine neue Textausgabe des griechischen Neuen Testaments anzufertigen. Für diese Textausgaben verglich er Hunderte von Manuskripten bis ins kleinste Detail und erklärte die Unterschiede in Tausenden von Fußnoten. Noch heute zählen Tischendorfs Fußnoten zu den Standardwerken der Forschung zum Neuen Testament.

In den Textausgaben Tischendorfs nimmt der Codex Sinaiticus selbstverständlich einen wichtigen Platz ein. Seiner Meinung nach war das Manuskript das beste und zuverlässigste Exemplar der vorhandenen Bibeltexte. Auch wenn diese Auffassung nach den neuen Funden im 20.Jahrhundert etwas zu differenzieren ist, ist der Codex Sinaiticus für die Forscher noch immer eines der wichtigsten Manuskripte, wenn es darum geht, die älteste Textform auszumachen.

Lassen Sie uns zu seinem ersten Besuch im Katharinenkloster 1844 zurückkehren. Die Geschichte des Klosters reicht bis ins 6.Jahrhundert n.Chr. zurück. Mehr als eintausend Jahre lang haben sich hier Mönche der Abschrift biblischer Bücher gewidmet. In den Wänden steckt eine uralte Schrifttradition – buchstäblich gesprochen, wie sich 1975 herausstellen sollte. »Hier könnten sich alte, unentdeckte Manuskripte finden«, denkt Tischendorf. Er erhält die Erlaubnis, sich in der Bibliothek des Klosters umzusehen, entdeckt jedoch nichts von besonderem Interesse.

Wie sich später herausstellen sollte, wurden andernorts im Kloster weitere Manuskripte gelagert. Erst 1975 wurde ein geheimer, zugemauerter Raum entdeckt. Niemand weiß genau, wann und warum der Raum versiegelt wurde. Wahrscheinlich haben die Mönche den alten Brauch praktiziert, abgenutzte Manuskripte nicht wegzuwerfen, sondern sie zu begraben. Bei dem Einmauern kann es sich um eine solche Grablegung alter, nicht mehr in Gebrauch befindlicher Dokumente gehandelt haben.

Das muss so weit in der Zeit zurückgelegen haben, dass sich keiner der Mönche daran erinnerte, als Tischendorf an jenem Tag ins Kloster kam. Der Raum muss spätestens im 18.Jahrhundert versiegelt worden sein. In ihm wurden mehr als 1000 Manuskripte in unterschiedlichen Sprachen gefunden; 836 davon waren auf Griechisch verfasst. Zwölf der gefundenen Bögen stammen aus dem alttestamentlichen Teil des Codex Sinaiticus und waren den Forschern bis dahin unbekannt.

Überhaupt haben sich die Klöster im östlichen Teil der Christenheit als unglaublich wichtige Verstecke des griechischen Bibeltextes erwiesen. Als die westliche Kirche im 4.Jahrhundert n.Chr. dazu überging, Latein zu verwenden, lasen die Mönche im Osten die Texte weiterhin auf Griechisch. Als die meisten im Westen noch vorhandenen griechischen Manuskripte durch Kriege und Verfolgungen vernichtet wurden, wurde im Osten der griechische Text hinter dicken Klostermauern beständig von Hand kopiert. Als im Zuge der arabischen Invasion um 640 die Klöster und Kirchen in Nordafrika in Schutt und Asche gelegt wurden, fuhren die Mönche im Osten damit fort, ihre Manuskripte abzuschreiben. Bis sie im 15.Jahrhundert selbst von der muslimischen Invasion übermannt wurden, hielten sie an ihren Traditionen fest und überlieferten den Bibeltext – auf Griechisch. Durch die wechselnden Jahreszeiten der Geschichte hindurch hat der griechische Bibeltext hinter den Klostermauern schlicht und einfach überwintert, sicher verborgen vor Kriegen und Gefahren.

Während seines ersten Besuchs 1844 findet Tischendorf jedoch nichts von besonderem Interesse. Erst als er aus der Bibliothek kommt, hält er inne: In einem Korb mit altem Abfall, den die Mönche zum Feueranmachen verwenden, entdeckt er einige alte Pergamentbögen mit griechischen Buchstaben darauf. Tischendorf erkennt sofort, dass die Schrift darauf sehr alt ist und dass die Texte von der griechischen Übersetzung des Alten Testaments stammen. Er zieht 43 Bögen aus dem Korb. Ein Mönch berichtet ihm, dass sie bereits zwei Körbe voll solch alter Bögen verbrannt hätten. Auf der Suche nach alten Dokumenten, die sie zum Feueranzünden verwenden konnten, hatten sie offensichtlich die Bibliothek aufgeräumt. Der alte Brauch, die Manuskripte zu begraben, anstatt sie zu verbrennen, war zu dieser Zeit offenbar in Vergessenheit geraten. Tischendorf bittet die Mönche, fortan nicht mehr mit alten Manuskripten Feuer zu machen, und nimmt die 43 Bögen mit nach Europa. Diese 43 Bögen beinhalten Text vom 1.Buch der Chronik, Jeremia, Nehemia und Ester. Tischendorf veröffentlichte sie unter dem Namen Codex Frederico-Augustanus. Heute befinden sie sich in der Universitätsbibliothek Leipzig.

1853 kehrt Tischendorf in das Kloster zurück, jedoch sind die Mönche dieses Mal ihm gegenüber ein wenig misstrauisch; seine Begeisterung beim ersten Besuch war ihnen nicht entgangen. Daher bekommt er keine weiteren Manuskripte zu sehen. Auch als er 1859 ein drittes Mal zurückkehrt, scheint die Suche nach alten Manuskripten ergebnislos zu bleiben. Am Tag vor seiner geplanten Abreise zeigt er dem Verwalter des Klosters eine von ihm in Druck gegebene neue griechische Ausgabe des Alten Testaments. Der Verwalter entgegnet, dass auch er über eine griechische Bibel verfüge. Aus dem Schrank in seiner Klosterzelle holt er ein riesengroßes Manuskript, eingewickelt in rotes Tuch. Das Tuch wird zur Seite geschlagen und dort, vor den Augen des überwältigten Tischendorf, liegt ein Schatz der Art, wie er ihn die ganze Zeit gehofft hatte zu finden: 199 Bögen eines biblischen Manuskripts aus den ersten christlichen Jahrhunderten, mit uralter, griechischer Handschrift geschrieben. Die Seiten sind weder verblasst noch an den Rändern beschädigt, wie es bei vielen alten Funden der Fall ist. Diese Bögen befinden sich in einem guten Zustand. Das Pergament ist noch immer geschmeidig und hell, die Handschrift auf allen Seiten gut und leicht lesbar.

Tischendorf bemüht sich, seine enorme Begeisterung zu verbergen, und bittet darum, sich das Manuskript bis zum nächsten Tag ansehen zu dürfen. Dieser Wunsch wird ihm gewährt. Es ist diese Nacht, in der Konstantin von Tischendorf hellwach, mit weit aufgerissenen Augen im schlechten Licht einer flackernden Lampe dasitzt und Seite um Seite des alten griechischen Bibeltextes liest. In dem Manuskript findet er viel mehr, als er gehofft haben kann. Es beinhaltet nicht nur den Großteil des Alten Testaments, sondern auch das komplette Neue Testament sowie zusätzlich zwei frühe christliche Bücher aus dem 2.Jahrhundert: den Barnabasbrief, der zuvor ausschließlich in der lateinischen Übersetzung bekannt war, sowie einen Großteil des Buches Der Hirte des Hermas, von dem Forscher bisher nur durch dessen Erwähnung in anderen Schriften wussten.

Am nächsten Morgen versucht Tischendorf das Manuskript käuflich zu erwerben, die Antwort lautet jedoch Nein. Der Abt des Klosters erlaubt ihm einzig, das Manuskript zwecks Anfertigung einer Abschrift auszuleihen. Auf dem Rücken eines Kamels wird ihm das Manuskript nach Kairo gebracht, jedoch immer nur in Auszügen. Die Seiten sind in zusammengefalteten Stößen mit jeweils acht Bögen geordnet, wobei Tischendorf jeweils nur einen Stoß ausleihen darf. Mithilfe zweier anderer Deutscher, die sich zufällig in Kairo aufhalten und ein bisschen Griechisch können, einem Apotheker und einem Buchhändler, wird das komplette Manuskript von Hand abgeschrieben. Innerhalb von zwei Monaten erfassen sie 110.000 Zeilen mit griechischem Text.

Heute befindet sich der Codex Sinaiticus nicht mehr im Katharinenkloster. Nach Tischendorfs drittem Besuch wurde das Manuskript anlässlich des tausendjährigen Jubiläums des russischen Imperiums dem Zaren von Russland als Geschenk vermacht. Der Zar war der oberste Schutzherr der orthodoxen Kirche, und dem Kloster war es daran gelegen, die Verbindung zu Moskau zu pflegen, um schmerzlich benötigte Mittel für den Erhalt der alten Gebäude zu bekommen. 1862 wurde der Codex Sinaiticus daher dem Zaren als Geschenk überreicht, und Tischendorf publizierte die erste gedruckte Ausgabe des Manuskripttextes. Im Gegenzug erhielt das Kloster vom Zaren sowohl wertvolle Gegenstände als auch Geld, unter anderem 7000 Rubel zur Erweiterung der Klosterbibliothek.

Viele denken vermutlich, das Manuskript hätte dort verbleiben sollen, wo es herkam. Es waren die vielen Mönche im Osten, deren Namen wir nicht kennen, die über die vielen Jahrhunderte des Mittelalters hinweg in unfassbar mühevoller Schreibarbeit die heiligen Schriften auf Griechisch bewahrt haben. Heute jedoch sind es die großen Manuskriptsammlungen im Westen, die sich im Glanz der prächtigen Pergamentbücher sonnen. Das fühlt sich nicht richtig an.

Gleichzeitig haben die westlichen Sammlungen und Museen eine enorme Arbeit geleistet, die alten Manuskripte zu untersuchen, zu beschreiben und zu bewahren und sie sowohl Forschern als auch anderen Interessierten zugänglich zu machen. So kann man sagen, Westen und Osten haben beide auf ihre Weise dazu beigetragen, dass wir heute Nutzen aus den alten Büchern ziehen können: Die Mönche im Osten verfügten über die Treue und den Fleiß, den griechischen Text über Jahrhunderte mit Kriegen und Katastrophen hinweg zu bewahren, während die Sammler im Westen über die Ressourcen verfügten, die Manuskripte in der Gegenwart zugänglich zu machen. Dieser gemeinsame Einsatz ermöglicht es, dass wir uns heute über diese Manuskripte freuen und sie Menschen zeigen können, die sich für Geschichte und die alten griechischen Bibeltexte interessieren.

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