Glaube und Zweifel

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Der Spielraum dieser Insecuritas humana ist nach Wust so weit und umfassend wie das menschliche Dasein selbst. Sowohl das Einzelleben als auch das Gemeinschaftsleben unterliegen diesem Gesetz der Insecuritas. So wechseln sich in der Geschichte Epochen der Sekurität mit solchen der Irrationalität und Unberechenbarkeit ab. Und das Einzelleben des Menschen steht nicht minder unter dem Gesetz dieser Dialektik. In deutlicher Anlehnung an Schelers Unterscheidung zwischen Herrschaftswissen, Bildungswissen und Erlösungswissen – wobei das erste das Wissen von Technik und Wissenschaften meint, das zweite das philosophische und das dritte das religiöse – sieht Wust beim Menschen näherhin drei Bereiche der Insecuritas: den Bereich der vitalen Existenz, den der geistigen Existenz und den der übernatürlichen Existenz. In keinem dieser Bereiche, das ist die Grundeinsicht Wusts, kommt der Mensch zu einer letzten Gesichertheit bzw. Gewissheit. Und doch führt ihn das übernatürliche Wagnis der Glaubensweisheit „in die übernatürliche Situation einer ‚Securitas insecuritatis‘“39: Der Mensch fühlt sich hier letztlich geborgen in der Ungeborgenheit. Das kommt ja auch schon in der eingangs beleuchteten Parabel vom verlorenen Sohn zum Ausdruck. „Spontan stimmt man der Lebenshaltung des älteren Bruders bei, aber die Symbolik weist hin auf die Dialektik zwischen der Gesichertheit und der Ungesichertheit. Denn der Umweg des jüngeren Bruders über die Ungesichertheit der Fremde läßt ihn schließlich tiefer in der Geborgenheit des Vaterhauses ausruhen, als der ältere in seiner alltäglichen und oberflächlichen Lebensgesichertheit.“40

Auf die Ungesichertheit des „homo religiosus“ kommt Wust in den Kapiteln neun bis dreizehn von „Ungewißheit und Wagnis“ näher zu sprechen. Hier scheint er seinen eigenen religiösen Weg verarbeitet zu haben, der über „Trotz und Hingabe“ schließlich zu jener Gelassenheit im Geiste der Liebe führt, mit der allein die Dunkelheiten zu überwinden sind.

Letzten Endes muss die Frage nach dem Wesen der Insecuritas humana nach Wust somit als ein religiöses Problem angesehen werden, und er erklärt dies so: „In gewissem Sinne ist der Mensch in allen seinen Lebenslagen, mögen sie auch zunächst noch so alltäglich erscheinen, als ein Wesen zu erkennen, das im tiefsten Grunde seiner Natur immer von der einen Frage bestimmt und bedrängt wird, die seine existentielle Erdennot betrifft, nämlich von der Frage nach seinem religiösen Heil oder Unheil. In all seinem Streben nach Gesichertheit ist schließlich diese seine religiöse Kontingenznot wiederzuerkennen, sei es nun, daß er in diesem Streben sich selbst ausweichen will durch die Flucht in niedere Wertbereiche, die ihm für Augenblicke das Wesentliche seiner Existenz verhüllen, sei es, daß er mit offenem Auge diese metaphysische Not vor sich sieht und sich mit ihr auseinandersetzt. Selbst sein Streben nach der vitalen Existenzsicherung verrät noch überall etwas von dem letzten Ewigkeitsdurst seiner Seele. Und erst recht ist sein grenzenloses Wissensstreben, seine nie stillstehende Intellektunruhe, ein deutliches Zeichen dafür, daß der tiefste Grund seiner Seele über das Endliche hinausdrängt, um in der wahrhaften Unendlichkeit Ruhe und Frieden zu finden. Der ‚homo faber‘ mit seiner ins Grenzenlose zielenden Zivilisationsunruhe und der ‚homo philosophus‘ mit seiner leidenschaftlichen, in immer tiefere Regionen hinabdrängenden Frageunruhe, sie deuten beide über sich hinaus auf den ‚homo religiosus‘ mit seinem unstillbaren Heimweh nach einer letzten Region überzeitlicher Vollendung.“41

Wust verengt den Begriff des „homo religiosus“ nicht auf den „positiv-christlichen Menschen“, sondern er möchte darunter im weitesten Sinne „den Menschen als Menschen überhaupt“ verstehen, denn er deutet die „religiositas“ als ein konsekutives Merkmal der menschlichen „rationalitas“, was ganz auf der Linie von Karl Jaspers und Paul Tillich liegt: Der Mensch „mag noch so irreligiös leben, sei es nun im Sinne der Indifferenz gegenüber seiner religiösen Anlage, sei es im Sinne positiver Ablehnung dessen, was diese Anlage von ihm fordert, seine Irreligiosität sogar gehört dann noch in den Bereich des Religiösen hinein.“42

In seiner Schrift „Naivität und Pietät“ von 1925 drückt er das so aus: „So will auch der Zweifler eigentlich nur die Wahrheit. […] Und auch der Leugner des Weltgrundes leugnet ihn niemals im objektiven Sinne; er kann ihn nicht leugnen, weil die geistige Natur in ihm aus dem letzten objektiven Grunde heraus sich bejahend verhalten muß. Und deshalb bejaht der Leugner des Absoluten das Absolute nur um so lauter, je lauter und hartnäckiger er es zu verneinen glaubt. […] Radikale Skepsis wie radikaler Unglaube sind, auf ihren letzten Sinn hin angesehen, gleicherweise unmöglich.“43

Dass die Insecuritas-Situation in Bezug auf den religiösen Menschen geradezu kulminiert, versucht Wust mit einem Hinweis auf den berühmten „Don Quichote“ des spanischen Dichters Cervantes zu illustrieren. Don Quichote und sein Stallknecht Sancho Pansa stellen – so Wusts Deutung – nur eine einzige Gestalt dar, sie symbolisieren den zwiespältigen Menschen, der zwei Stimmen in seiner Brust hat, nämlich die Stimme der „Welt“ und die Stimme der „Überwelt“. Letztlich geht es hier also um die Dialektik von Glaube und Unglaube, eine Ambiguität, die der Mensch nie wirklich los wird. Diese Ambiguität ist auch nicht aufzulösen durch eine „Flucht des religiösen Menschen vor der ‚Welt‘“, denn eine solche bedeutete nach Wust „eine feige Flucht aus der ‚Insecuritas mundi‘ in eine ‚sacra securitas‘ des Glaubens“, die den Sinn des Glaubenswagnisses geradezu entstellt.44 Denn „der religiöse Mensch, der der ‚Welt‘ ins Heiligtum des Übernatürlichen entfliehen wollte“, ist damit der Welt erst recht ausgeliefert.45 Im Bereich des Religiösen gilt nämlich nicht „die natürliche Sancho-Pansa-Vernunft“, sondern „es gilt eben hier jene paradoxe Zuteilungsordnung, wie sie uns in der Parabel von den Arbeitern im Weinberge symbolisch vor Augen gestellt wird: ‚Die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein.‘“46

Wust beschreibt hier psychologisch äußerst subtil und bilderreich die Erfahrungen, die der religiöse Mensch macht: „Gerade dann, wenn die Flitterwochen des jungen Eheglücks mit dem Übernatürlichen vorüber sind und die tiefe Trostlosigkeit der enttäuschten Seele sich einstellt, öffnet sich auch sehr leicht für sie der dunkle Abgrund der Menschennatur. Und dann kommen plötzlich alle jene dämonischen Plagegeister aus diesem Abgrund wieder hervor, die der Mensch bereits für immer bezwungen zu haben glaubte.“47 Nur wenn der religiöse Mensch diese Dunkelheit mit Gelassenheit hinnimmt, einer Gelassenheit, „die aus dem Geiste der Liebe stammt“, nur dann wandelt sich die Situation der höchsten Gefährdetheit „in eine Situation der größten Fruchtbarkeit“.48

Diese prinzipielle Ungesichertheit erlebt der religiösen Mensch nach Wust näherhin in Bezug auf drei Hauptfragen, nämlich in Bezug auf die Fragen der religiösen Gottesgewissheit, der Offenbarungsgewissheit und der persönlichen Heilsgewissheit. So erfährt der Mensch nicht nur die Gottesnähe, sondern immer auch die Gottesferne: „Gott ist im religiösen Gottesbewußtsein für die Seele zugleich da und nicht da. Dadurch entsteht für sie ein gewisser Schwebezustand zwischen Gewißheit und Ungewißheit.“49 Damit bekommt der Unglaube für Wust eine „eminent positive Bedeutung“, trägt er doch dazu bei, „daß der Glaube sich niemals einer bequemen Sekurität überlassen kann“: „Der Unglaube ist das nie aufhörende Stimulans des Glaubens, den er stets zu neuer Vergeistigung und zu lebendiger Verjüngung antreibt. […] In dem Maße, wie der Gegendruck des Unglaubens nachläßt, pflegt sehr oft auch die jugendliche Beschwingtheit des Glaubens zu erlahmen.“50 Eine ähnliche Formulierung ist uns auch schon bei Jaspers begegnet.

Auf der anderen Seite macht diese Einsicht aber auch deutlich, dass auch der Ungläubige „niemals zu einer bequemen ‚securitas dubii‘ gelangt. Bei aller angemaßten Sicherheit in seinem positiven Gotteszweifel wird er das Unbehagen einer gewissen Unsicherheit, eines wenn auch noch so verborgenen Zweifels am Zweifel, nicht los.“51 Von hier aus wird auch der Fanatismus des Glaubens wie des Unglaubens verständlich, nämlich als der nichtdurchschaute Kampf gegen den Gegner in der eigenen Brust: „Während der Fanatismus des Unglaubens oft aus einem ihm selbst unbewußten Glauben stammt, der ihn beständig zum Kampf reizt, stammt der Fanatismus des Glaubens nicht selten aus einem ihm selbst verborgen bleibenden Unglauben, der die scheinbar oder manchmal auch wirklich überlegene Logik der ‚Welt‘ als eine tatsächliche Gefahr für seine Sache betrachtet, ohne sich selbst freilich dieses Minoritätsbewußtsein offen einzugestehen.“52 Demgegenüber gründet der Glaube, der durch den Zweifel hindurchgeht, in der Liebe und in der Demut, die an die unendliche Langmut und großzügige Geduld Gottes – selbst den Irrenden gegenüber – erinnern.

Die Brisanz dieser impliziten innerreligiösen Kritik, die sich in solchen Sätzen ausdrückt, scheint Kardinal Galen erahnt zu haben, wenn er Wust nach Erscheinen von „Ungewißheit und Wagnis“ entgegengehalten haben soll, „der Glaube sei für ihn weder Ungewißheit noch Wagnis und solche Lektüre eigne sich auch nicht für seine Theologen“ – eine Äußerung, die Wust „tief verstört und verletzt“ haben muss.53

Das, was Wust über die Dialektik der religiösen Gottesgewissheit ausführt, bestätigt sich auch in Bezug auf die Offenbarungsgewissheit. Denn auch gegenüber dem Offenbarungswort haben „der Glaube wie der Unglaube in gleicher Weise Raum“.54 Im Rahmen dieser Überlegungen spart Wust auch nicht mit Kritik an der Institution Kirche, die immer wieder „durch das tiefe Dunkel des Menschlichen, allzu Menschlichen“ überschattet wurde und wird.55 Zusammenfassend resümiert er: „Wie aber so die Gesamtoffenbarung, zugleich mit Christus und der Kirche, immer für die ‚Welt‘ in diesem sonderbaren Zwielicht dasteht, in dem sich die Scheidung der Geister vollzieht, die Scheidung zwischen den beiden Reichen des Glaubens und des Unglaubens, so verbleibt auch die einzelne gläubige Seele im sakralen Raum der Offenbarungsgewißheit immer ‚in statu insecuritatis‘. Der lebendige Glaube an das Ewige Wort, an Christus und die Kirche mag noch so felsenfest sein, er wird trotzdem niemals die Seele auf ihrem inneren Wege zu Gott von den Anfechtungsmöglichkeiten befreien, die nun einmal zum Schicksal der irdischen Pilgerschaft gehören. Die irdische Hülle kann für niemand hinweggenommen werden.“56

 

Entsprechend kann auch die persönliche Heilsgewissheit nie zu einer absoluten werden. Denn eine solche würde nach Wust geradezu „eine Verwegenheit, ja eine Vermessenheit“ bedeuten.57 So findet hier „das überall für die menschliche Daseinssituation geltende ‚Inscuritas‘-Gesetz seine markanteste Bestätigung“. Der Mensch „muß sich erfahren als ein Wesen, das ungesichert ist bei prinzipieller oder allgemeiner Gesichertheit, als ‚insecurus in securitate‘ und als ‚securus in insecuritate‘“ – als „ungeborgen in der Geborgenheit“ und als „geborgen in der Ungeborgenheit“.58 Mit Josef Pieper kann Wust darum den „Habitus der hoffenden Gelassenheit“ als „den einzig angemessenen“ der menschlichen Daseinssituation bezeichnen.59

4. Paul Tillich: Der Zweifel als ein notwendiges Element im Glauben

Der Deutsch-Amerikaner Paul Tillich (1886-1965), der 1933 aus Nazi-Deutschland in die USA emigrieren musste, ist neben Karl Barth der prominenteste Vertreter der evangelischen Theologie im 20. Jahrhundert und einer der originellsten Religionsphilosophen überhaupt.60 Sein Symbol- und Korrelationsbegriff sind heute in der Religionspädagogik nicht mehr wegzudenken. Im Zentrum seines philosophisch-theologischen Werkes steht die Idee einer Theologie der Kultur, der zufolge alles Thema der Theologie sein kann, versteht Tillich doch die Religion als die Substanz der Kultur und die Kultur als die Form der Religion. Ein entscheidender Aspekt seines Denkens besteht schließlich darin, dass Tillich wesentlich darum bemüht ist, die alten Worte der Religion auf einer neuen Grundlage wieder aufleben zu lassen; und das betrifft besonders auch die Begriffe „Religion“ und „Glaube“.

Tillichs Bestimmung der Religion ist allseits bekannt: „Religion ist das, was uns unbedingt angeht“, oder auf Englisch: „Religion is ultimate concern.“ Den Glauben bestimmt er ähnlich: „Faith is the state of being ultimately concerned.“61 „Glaube ist der Zustand des Ergriffenseins von dem, was uns unbedingt angeht.“ Dass die Begriffe Religion und Glaube bei Tillich fast synonym verwendet werden, macht schon deutlich, dass er Religion in einem wesentlich positiveren Licht sieht, als das in der sog. Dialektischen Theologie Karl Barths der Fall ist, wo diese beiden Größen in einen unüberwindlichen Gegensatz zu geraten scheinen, indem der Glaube ganz auf der Seite der Offenbarung angesiedelt und Religion als „Unglaube“ qualifiziert wird.62

Allerdings scheint Tillichs Bestimmung des Glaubens auf den ersten Blick kaum noch eine Beziehung zum spezifisch Christlichen aufzuweisen; darauf haben auch immer wieder kritische Stimmen aufmerksam gemacht. Demgegenüber wurde Tillich nicht müde zu betonen, dass seine Glaubensbestimmung die „abstrakte Übersetzung“ des großen Gebotes sei: „Der Herr, unser Gott, ist ein Gott. Und du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte, und von allen deinen Kräften.“63 Den christlichen Glauben versteht er in diesem Sinne als „den Zustand des Ergriffenseins durch das Neue Sein, wie es in Jesus als dem Christus erschienen ist“.64

Worum es Tillich bei seiner formalen Bestimmung des Glaubens geht, ist Folgendes: Nehmen wir uns aufgrund religiöser oder theologischer Voreingenommenheit selbst die Möglichkeit zur Abstraktion, und formulieren wir den Glaubensbegriff nicht auf eine Weise, die über unser eigenes Sein hinausgreift, so nehmen wir uns letztlich die Möglichkeit, mit anderen Religionen und auch mit der säkularisierten Kultur ins Gespräch zu kommen. Zudem besteht die Gefahr eines zu eng gefassten Glaubensbegriffes nach Tillich darin, in einem Dialog – beispielsweise mit einem Humanisten – die christliche Grundlage zu verlieren. Tillichs ganzes Interesses ist es demgegenüber, den möglichen Verlust des Fundaments dadurch zu verhindern, dass dieses in einer Weise ausgedrückt wird, dass es standhalten kann, weil es die möglichen Einwände im Prinzip in sich fasst und infolgedessen von den Einwänden nicht wirklich getroffen werden kann.

In der schon genannten Schrift „Dynamics of Faith“ wird dieser Glaubensbegriff näher entfaltet. Glaube als Zustand des Ergriffenseins von dem, was uns unbedingt angeht, ist für Tillich ein Akt der ganzen Person: „Er vollzieht sich in der Mitte des personalen Lebens, und alle Elemente des persönlichen Seins nehmen daran teil. Glaube ist der zentralste Akt des menschlichen Geistes. Er ist kein Vorgang in einem Teilbereich oder eine spezielle Funktion des menschlichen Gesamtseins. Alle Funktionen des Menschen sind im Akt des Glaubens vereinigt. Der Glaube ist jedoch nicht bloß der Inbegriff ihrer einzelnen Elemente. Er überschreitet jeden Teilbereich wie auch ihre Gesamtheit und wirkt zugleich auf jeden einzelnen von ihnen ein.“65 Mit einem solchen Glaubensverständnis wendet sich Tillich gegen eine intellektualistische, voluntaristische oder emotionale Verzerrung des Glaubens. Der Glaube ist kein Wissensakt mit einem geringeren Grad von Gewissheit; ein solcher Glaube wäre nichts anderes als ein „Für-wahr-Halten“. Der Glaube ist aber auch kein Willensakt, der den Mangel an Gewissheit, der dem intellektualistischen Missverständnis des Glaubens zugrunde liegt, ergänzt. Und der Glaube ist schließlich auch nicht mit dem Gefühl identisch, denn ein solches Verständnis macht die Religion zur Privatsache des Einzelnen und damit letztlich harmlos.

Glaube und Religion sind aber für Tillich alles andere als harmlos; sie sind vielmehr die treibenden Kräfte im menschlichen Leben, denn der Mensch ist wesenhaft ein Glaubender, können wir doch ohne ein letztes Anliegen nicht leben – und sei dieses letzte Anliegen auch nur ein „vorletztes“, d.h. ein endliches wie beispielsweise die Nation, die klassenlose Gesellschaft, Erfolg im Leben, der Partner oder gar der sog. „Fußballgott“. Allerdings führt ein solches endliches Anliegen, das an die Stelle des Absoluten tritt, das ist Tillichs tiefste Überzeugung, notwendig in die „existentielle Enttäuschung“, ja letztlich in die Verzweiflung.66

In Tillichs Bestimmung des Glaubens kommt diese doppelte Möglichkeit immer auch schon zum Ausdruck, denn die Betonung kann auf dem Wort „unbedingt“ liegen, sie kann aber auch auf dem Wort „uns“ liegen. Bei ersterem haben wir es mit dem wahren Glauben zu tun, denn „unbedingt“ geht uns nur das „wahrhaft Unbedingte“ an; bei letzterem kann Götzenglauben vorliegen, denn „uns“ gehen nur allzu oft „vorläufige, endliche Dinge“ unbedingt an.67

Gewissheit besitzt für Tillich nur „die Unbedingtheit an sich, die unendliche Leidenschaft als unendliche Leidenschaft“: „Das ist eine Realität, die dem Selbst mit seiner eigenen Natur gegeben ist. Sie ist ebenso unmittelbar und ebenso außer Zweifel, wie das Selbst dem Selbst außer jedem Zweifel ist. Ja, sie ist das Selbst, insofern es sich selbst transzendiert.“68 Mit dieser an Augustinus und das Prinzip der Identität erinnernden Aussage will Tillich deutlich machen, dass in unserem Innersten ein Punkt ist, wo wir – um einmal eine Formulierung aus dem Bereich der Mystik aufzugreifen – das Absolute „berühren“. Damit ist aber noch keine inhaltliche Qualifizierung gegeben, sondern nur das nackte „Dass“ der in der Selbstgewissheit des Ichs enthaltenen und sie begründenden Gewissheit des Unbedingten.

Demgegenüber gibt es nach Tillich über den konkreten Inhalt unseres letzten Anliegens keine Gewissheit – sei dieser Inhalt „die Nation, Erfolg im Leben, ein Gott oder der Gott der Bibel. […] Hier geht es überall um Dinge, die nicht unmittelbar gewiß sind. Sie als Gegenstand unseres letzten, unbedingten Anliegens anzunehmen, ist ein Wagnis und somit ein Akt des Mutes.“ Mit anderen Worten: „Jeder Glaube enthält ein konkretes Element; er ist auf eine Sache oder eine Person gerichtet. Aber es kann sich herausstellen, daß diese Sache oder dieser Mensch durchaus nichts Letztgültiges an sich hat. Dann war der Glaube, was seinen konkreten Gehalt anbetrifft, ein Trug, obgleich die Erfahrung des Unbedingten, die auch in einem solchen Glauben vorliegt, an sich nichts Trügerisches ist. Ein Gott mag sich als nichtig erweisen, das Göttliche bleibt.“69 Schon in einem Brief an den Freund Emanuel Hirsch aus dem Jahre 1918 heißt es in diesem Sinne: „An Gott zu zweifeln ist unmöglich und an Gott nicht zu zweifeln ist unmöglich. Das erste bezieht sich auf den Gehalt, das zweite auf die Objektivationsform.“70

Das heißt, die Stelle des Absoluten ist immer besetzt, wenn nicht vom wirklich Absoluten, dann von einem vermeintlich Absoluten, also etwas Vorläufigem, Endlichen. Der Mensch ist ein „animal religiosum“, ein von Natur aus religiöses Lebewesen. Darin, dass jeder Mensch notwendig einen „ultimate concern“ hat, kommt für Tillich seine „eigentliche Natur“ mehr zum Ausdruck als in der rationalen Struktur seines Geistes.71

Versteht man Glaube im Sinne des „Für-wahr-Haltens“, dann sind Glaube und Zweifel natürlich unvereinbar. „Versteht man hingegen den Glauben als Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht, ist der Zweifel ein notwendiges Element im Glauben.“72 Der Zweifel, um den es hier geht, ist aber nach Tillich weder der methodische oder wissenschaftliche Zweifel, noch der skeptische, sondern es ist der existentielle Zweifel, der jedes Wagnis begleitet. Es geht hier um den „Zweifel eines Menschen, der von einer konkreten Sache mit letztem Ernst ergriffen ist“. Auf den ersten Blick scheint ein solcher Glaubensbegriff „jenem positiven Vertrauen, das wir in den Urkunden aller großen Religionen und natürlich auch im Christentum finden“, zu widersprechen. Aber Tillich geht es hier nicht um die Beschreibung eines bestimmten Zustandes, sondern um eine strukturelle Analyse, die sich aus einer Betrachtung der subjektiven und objektiven Seite des Glaubens ergibt.73 So muss sich der Zweifel nicht in jedem Glaubensakt geltend machen, und doch ist er nach Tillich „als ein Grundzug in der Struktur des Glaubens immer vorhanden“. Der Zweifel mag nur unter bestimmten Bedingungen auftreten, und doch ist er als wesentliches Element des Glaubens die universale Bedingung dafür, die sein Auftreten unter bestimmten Bedingungen erst möglich macht. Aus diesem Grunde sollte man nach Tillich das Auftreten des Zweifels nicht als Ablehnung des Glaubens auffassen. Tillich geht sogar so weit, den ernsten Zweifel als „eine Bestätigung des Glaubens“ anzusehen, da er gerade den Ernst und die Unbedingtheit des Betroffenseins zum Ausdruck bringt. „Existentieller Zweifel und Glaube sind die Pole, die den inneren Zustand des vom Unbedingten ergriffenen Menschen bestimmen.“74

Glaube, so beschließt Tillich seine Schrift „Dynamics of Faith“, ist „das innerste Anliegen im personhaften Leben des Menschen […]; er ist allgegenwärtig und konkret; er ist wandelbar und bleibt doch stets der gleiche. Glaube ist unlösbar mit dem Wesen des Menschen verknüpft und darum notwendig und universal. Er ist unbedingtes Ergriffensein, und so kann er weder durch Wissenschaft noch durch Philosophie widerlegt werden. Er ist möglich, ja notwendig auch in unserer Zeit. Er kann auch nicht durch abergläubische oder autoritäre Entstellung seines Sinnes innerhalb oder außerhalb der Kirchen, der Sekten oder weltanschaulicher Bewegungen entwertet werden. Der Glaube rechtfertigt sich selbst und verteidigt sein Recht gegen alle, die ihn angreifen, da sie ihn nur im Namen eines anderen Glaubens angreifen können. Es ist der Triumph der Dynamik des Glaubens, daß jede Verneinung des Glaubens selbst Ausdruck von Glauben ist.“75

Theologisch verbindet Tillich die Zweifelsproblematik mit dem protestantischen Rechtfertigungsprinzip, wenn er dieses nicht nur auf das religiös-moralische, sondern auch auf das religiös-intellektuelle Leben bezieht. Ganz in diesem Sinne heißt es in einem Beitrag mit dem Titel „Die protestantische Ära“ (1948): „Nicht nur der, der in der Sünde ist, sondern auch der, der im Zweifel ist, wird durch den Glauben gerechtfertigt. Die Situation des Zweifelns, selbst des Zweifelns an Gott, braucht uns nicht von Gott zu trennen. In jedem tiefen Zweifel liegt ein Glaube, nämlich der Glaube an die Wahrheit als solche, sogar dann, wenn die einzige Wahrheit, die wir ausdrücken können, unser Mangel an Wahrheit ist. Aber wird dies in seiner Tiefe als etwas, das uns unbedingt angeht, erlebt, dann ist das Göttliche gegenwärtig; und der, der in solch einer Haltung zweifelt, wird in seinem Denken ‚gerechtfertigt‘.“76 So wurde Tillich von dem Paradox ergriffen, dass derjenige, der Gott ernstlich leugnet, ihn letztlich bejaht. Und er bekennt, dass er ohne diese Einsicht nicht Theologe hätte bleiben können.77

 

Nach Tillich ereignet sich die Rechtfertigung des Zweiflers „als Durchbruch der unbedingten Gewißheit durch die Sphäre der Ungewißheiten und Irrungen; es ist der Durchbruch der Gewißheit, daß die Wahrheit, die der Zweifler sucht, der Lebenssinn, um den der Verzweifelte ringt, nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung alles Zweifels bis zur Verzweiflung ist.“78

Tillich greift diese Überlegungen in der bekannten Schrift „The Courage to Be“ („Der Mut zum Sein“) von 1952 erneut auf, und er führt sie sogar fort, wenn er hier den Begriff des „absoluten Glaubens“ einführt. „Mut“, so heißt es hier, „ist die Selbstbejahung des Seienden trotz des Nichtseins. Er ist der Akt des individuellen Selbst, in dem es die Angst vor dem Nichtsein auf sich nimmt.“79

Nach Tillich sind es drei Ängste, die diesen Mut grundsätzlich bedrohen: die Angst vor Schicksal und Tod, die Angst vor Schuld und Verdammung sowie die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit; wobei die letztere Form der Angst die für unser Zeitalter charakteristische ist. Viktor E. Frankl spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „soziogenen“ Neurose, also einer Form der Neurose, die eine ganze Gesellschaft befallen kann.

Ging es Luther vornehmlich um den Mut, sich zu bejahen als bejaht, trotz des Wissens um die eigene Schuld, wobei dieser Mut des Vertrauens in der persönlichen und unmittelbaren Gewissheit von der göttlichen Vergebung wurzelt, so steigert die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit sowohl die Angst vor Schicksal und Tod, wie sie für den antiken Menschen vorherrschend war, als auch die Angst vor Schuld und Verdammung, denn in diesen Formen ist immer noch ein Sinn bejaht.

Die entscheidende Frage ist darum: „Gibt es einen Mut, der die Angst vor der Sinnlosigkeit und den Zweifel besiegen kann? Oder mit anderen Worten: Kann der Glaube, der bejaht, daß man bejaht ist, der Macht des Nichtseins in seiner radikalsten Form Widerstand leisten? Gibt es einen Glauben, der angesichts von Zweifel und Sinnlosigkeit bestehen kann?“80 Der Sprung in den Glauben ist für Tillich keine Lösung des Problems, denn „wer von Zweifel und Sinnlosigkeit überwältigt ist, kann sich nicht von ihnen befreien; er verlangt nach einer Antwort, die innerhalb dieser Situation gültig ist und nicht außerhalb liegt“. So kann hier nur die Einsicht helfen, dass der Zweifel selbst immer noch ein Akt des Lebens ist, er also selbst immer noch etwas Positives ist – trotz seines negativen Inhalts. „In religiöser Sprache würde man sagen, daß man sich bejaht als bejaht trotz des Zweifels an dem Sinn einer solchen Bejahung. […] Das Negative lebt von dem Positiven, das es negiert.“81

Der Glaube, der den Mut erzeugt, Zweifel und Sinnlosigkeit in sich hineinzunehmen, dieser Glaube hat nach Tillich keinen besonderen Inhalt. „Er ist einfach Glaube – ohne auf etwas Bestimmtes gerichtet zu sein, absoluter Glaube. Er ist undefinierbar, da alles Definierte durch Zweifel und Sinnlosigkeit aufgelöst ist.“82 Nach Tillich transzendiert dieser absolute Glaube die göttlich-menschliche Begegnung. Warum? Weil in dieser Begegnung immer noch das Subjekt-Objekt-Schema herrscht: „Ein bestimmtes Subjekt (der Mensch) begegnet einem bestimmten Objekt (Gott). Man kann diese Behauptung umkehren und sagen, daß ein bestimmtes Subjekt (Gott) einem bestimmten Objekt (dem Menschen) begegnet. Aber der Zweifel untergräbt in beiden Fällen die Subjekt-Objekt-Struktur.“83 Demgegenüber ist der absolute Glaube „ohne spezifischen Inhalt, aber er ist nicht ohne Inhalt. Der Inhalt des absoluten Glaubens ist der ‚Gott über Gott‘.“84 Die Schrift schließt mit den Worten: „Der Mut zum Sein gründet in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels untergegangen ist.“85

Tillich will damit deutlich machen, daß der Zweifel nicht von außen zu überwinden ist, sondern nur von innen. Das erinnert an Augustins Versuch, die Skepsis durch Rückgang auf jenes Selbst zu überwinden, das mir absolut gewiss ist. Und in dieser Selbstgewissheit ist Tillich zufolge die Gewissheit Gottes immer schon miteingeschlossen. Aber der Gott, der hier erscheint, hat keinen spezifischen Inhalt mehr, denn alle Inhalte unterliegen dem Subjekt-Objekt-Schema und somit letztlich dem Zweifel. Darum nennt Tillich diesen Gott – im Anklang an neuplatonische Gedanken – auch den Gott „über“ Gott. Und diesen Gott über Gott erfahre ich im absoluten Glauben. Absoluter Glaube, das Wort sagt es schon, ist „los-gelöst“ von jedem spezifischen Inhalt. Menschliches Denken ist aber immer an Inhalte gebunden.

Glaube und existentieller Zweifel, so hat sich gezeigt, gehören nach Tillich zusammen und schließen sich nicht grundsätzlich aus: „Glaube ist die fortwährende Spannung zwischen sich selbst und dem Zweifel in ihm selbst. Diese Spannung erreicht nicht immer die Schärfe eines Kampfes; aber sie ist latent immer gegenwärtig. Das unterscheidet den Glauben von logischer Evidenz, wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit, traditionsgebundener Selbstsicherheit und blindem Autoritarismus. […] Glaube umgreift sich selbst und den Zweifel an sich selbst.“86 Nach Tillich schließt Endlichkeit Zweifel ein, da nur das Ganze die Wahrheit ist, aber kein endliches Wesen das Ganze besitzt. „Daher bedeutet es Bejahung unserer Endlichkeit, wenn wir erkennen, daß Zweifel zum Wesen des Menschen gehört.“87

Wenn der italienische Philosoph Gianni Vattimo in seiner Schrift „Glauben – Philosophieren“ auf die Frage, ob er glaube, antwortet: „Ich glaube, dass ich glaube“88 – die italienische Originalausgabe trägt auch diesen Titel: „Credere di credere“ –, so wäre das Tillich aber wiederum zu wenig, denn dann ginge es ja nicht um ein „unbedingtes Ergriffensein“, das ihm zufolge notwendig mit dem religiösen Glauben verbunden ist.89

5. Resümee

Der französische Dramatiker und christliche Existenzphilosophie Gabriel Marcel (1889-1973) schreibt in seinem „Metaphysischen Tagebuch“ mit Eintrag vom 12. Dezember 1918: „Diesen Morgen ein wichtiges Bindeglied entdeckt. Ich kann ausschließlich jene Fragen beantworten, die eine Auskunft betreffen, die zu geben ich imstande bin (sei es auch über mich selbst). Beispiel: Was ist die Hauptstadt von Afghanistan? Lieben Sie Bohnen? Doch je mehr es darum geht, was ich als Ganzheit bin (und nicht darum, was ich habe), um so mehr verlieren Antwort und Frage ihren Sinn; zum Beispiel: Sind Sie tugendhaft? Sogar: Sind Sie mutig? – Und eben deshalb hat es im Grund keinerlei Sinn, zu fragen: Glauben Sie an Gott? – wenn der Glaube an Gott als Seinsweise erfaßt wird und nicht als Meinung über die Existenz einer Person. Das gleiche gilt wohl für den Glauben an die Unsterblichkeit.“ Und weiter: „Wenn man mir sagt: Glauben Sie an Gott?, meint man mir eine Frage zu stellen, wie etwa: Glauben Sie, daß der Mars bewohnt ist? Oder: Sind Sie leicht zu beeindrucken? In beiden Fällen fragt man am Wesentlichen des Glaubens vorbei: eben einer persönlichen Art, die Welt, das heißt die Erfahrung metaphysisch zu qualifizieren.“90

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