Warnung vor Büchern. Erzählungen und Berichte

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Ein toller Unfug wurde in unserer Strafanstalt mit der Bewährungsfrist (B.-F.) getrieben. Nehmen wir ein Beispiel: Ein Gefangener, der eine halbjährige Strafe zu verbüßen hat, tritt an. »So«, wird ihm gesagt, »Sie sind noch nicht vorbestraft? Führen Sie sich nur gut, dann können Sie nach der Hälfte der Strafzeit B.-F. bekommen.«

[23]Der Gefangene hat erwartet, an dem und dem Tage entlassen zu werden, nun hört er, dass es vielleicht ein ganzes Vierteljahr früher sein kann. Nur drei Monate, wenn er sich nur gut führt? Er wird sich schon gut führen! Drei Monate, das scheint ihm nichts, übermorgen, denn er war ja auf sechs Monate eingestellt. Hoffnung beseelt ihn, wann – –?

Er beginnt sich einzuleben, er begreift, dass drei Monate im Gefängnis eine endlose Zeit, dass sie gar nicht gar nichts sind, er schaudert bei dem Gedanken, noch weitere drei Monate … Er arbeitet bis zum Äußersten. Nur das Wohlwollen jedes Beamten erwerben. Ein böses Wort kann alles zerstören.

Er ist vereinzelt worden. Die Mitgefangenen sind eine geschlossene Schar, er muss besser sein als sie alle, damit er seine Bewährungsfrist bekommt.

Er beginnt sich zu erkundigen. Es scheint sicher zu sein, dass es zwecklos ist, ein Gesuch um B.-F. einzureichen, ehe er die Hälfte seiner Strafzeit verbüßt hat. Früher gestellte Gesuche werden erfahrungsgemäß abgelehnt. Aber dann kann er ja sein Gesuch erst nach Ablauf eines Vierteljahres stellen? Wie lange dauert die Beantwortung? Vier Wochen? So können ihm also im besten Falle nur zwei Monate geschenkt werden, vielleicht nur sechs Wochen, vielleicht gar nur ein Monat?

Er gibt sich auch damit zufrieden. Er hat gelernt, dass ein Monat eine endlose Zeit ist, er wird auch damit zufrieden sein. Er verdoppelt seine Anstrengungen. Er ist glücklich, wenn er einem Beamten eine Gefälligkeit erweisen kann. Er belauert die anderen, um Ungehörigkeiten melden zu können, sich als der Vertrauensmann zu beweisen, der er [24]sein muss, um eine Befürwortung seines Gesuchs durch die Anstaltsleitung zu erreichen.

Das weiß er so auch schon, wie wichtig diese für ihn ist. Von den andern erfuhr er, dass die Gerichte ganz verschieden mit der Zubilligung von B.-F. verfahren. Manche sind »freigebig« damit, andere, die Mehrheit, lehnen es ab, immer. Wenn dann sein Gesuch von der Anstalt befürwortet ist, geht es trotz der Ablehnung durch das verurteilende Gericht an das Ministerium weiter. Das entscheidet dann.

Und wie lange dauert das? Man zuckt die Achseln. Man erzählt ihm lächelnd den Fall, dass ein Gefangener ein Gesuch einreichte. Es wurde befürwortet, vom verurteilenden Gericht abgelehnt, es ging ans Ministerium. Da lag es. Es kam keine Antwort, das Gesuch wurde vergessen. Nach Monaten reichte der Gefangene – er hatte eine lange Strafe zu verbüßen – ein zweites Gesuch ein. Dieses Gesuch hatte sofort Erfolg, der Gefangene wurde entlassen. Als er schon Wochen auf freiem Fuß ist, trifft die Antwort des Ministers auf das erste Gesuch ein: Das Gesuch ist abgelehnt. Verzweiflung der Leitung: Was soll man tun? Der Entlassene ist zu Unrecht frei und zu Recht frei, er hat B.-F. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist, es scheint dies eine juristische Frage mit immerhin menschlichem Hintergrund zu sein.

Schließlich ist unser Beispiels-Gefangener so weit, dass er die Hälfte seiner Strafe verbüßt hat, er wird beim Sekretär vorgeführt, sein Gesuch wird aufgenommen und er bittet demütig darum, es zu befürworten. Das ist es, er bittet demütig. Es wird ihm zugesagt. Er dankt, aber er ist nicht sicher, dass es auch wirklich geschieht. Er durchschaut schon dies System. Er erlebt an jedem Montag, wenn die [25]Kolonnen zur Außenarbeit abrücken, die Ansprachen des Anstaltleiters. Er hat gemerkt, je höher bestraft der Gefangene, je aussichtsloser seine Sache ist, umso größere Hoffnungen werden ihm gemacht. »Führe dich nur gut, mein Sohn.« Der Gefangene soll abgehalten werden, einen Fluchtversuch zu machen.

Und trotzdem er dies durchschaut, trotzdem glaubt er daran. Denn sein Fall liegt auch anders wie die andern, nicht wahr, sein Fall ist ein ganz besonderer Fall.

Aber es ist auch gefährlich, grübelt der Gefangene, zu tüchtig zu sein. Dann ist man unentbehrlich, wird ungern fortgelassen, solch Gesuch wird gar nicht befürwortet. Und dann hat die Leitung ja auch ein Interesse daran, den Gefangenenbestand möglichst hochzuhalten. Seit die Strafen der Inflationszeit größtenteils verbüßt sind, ist der Bestand der Gefängnisse teilweise unter 50 v. H. der Normalbelegung gesunken. Das hat Beamtenentlassungen, Zusammenlegungen etc. zur Folge. Nein, sicher ist es mit dem Befürworten ganz und gar nicht.

Schon ein paar Wochen nach der Stellung seines Gesuches ist eine Antwort da. Der Gefangene soll angeben, wo er in der Zwischenzeit seit Begehung seiner Tat gearbeitet hat. Der Gefangene ist Beamter, Angestellter; man wird also an seinen früheren Arbeitsstellen anfragen, wie er sich dort geführt hat. Er hat schon so schwere Sorgen, wie er nach der Entlassung Arbeit bekommen wird, nun sieht er es beinahe unmöglich werden, da das Gericht so eifrig für Bekanntwerden seiner Verschuldung sorgt. Nach Verbüßung der Strafe wird erst die wahre Schädigung beginnen.

Vielleicht bekommt der Gefangene dann schließlich sechs Wochen B.-F. zugebilligt. (In den meisten Fällen [26]nicht.) Aber wie oft hat er unterdes die Stunde verflucht, da er von dieser B.-F. hörte. Er kam her, er hatte sich mit sechs Monaten abgefunden. Dann machte man ihm Hoffnungen, er lebte die ganze Strafzeit darin. Es waren peinigende, quälende Hoffnungen. Sie zwangen ihn zu erschöpfender Arbeitsleistung. Sie brachten ihn zur tiefsten, feigsten Demut. Er wurde von den andern isoliert, er wurde ihr Spion, ihr Aufpasser, ihr Verräter. Dann zerstörte man ihm auch noch die spärlichen Aussichten für seine Zukunft.

Man glaubt doch nicht, dass der einzelne Beamte daran Schuld trägt. Der Beamte ist in weitem Maß dafür verantwortlich, dass der Gefangene nicht flieht, sich anständig benimmt usw. Die Behandlung durch die Beamten ist gut. Gewiss, es sind fast nur Subalternbeamte, die zudem im jahrzehntelangen Strafanstaltsdienst stumpf geworden sind. Aber was sie tun können, die Lage nicht unnütz zu erschweren, das tun sie. An ihnen liegt es nicht.

Es liegt an dem System, der Gesamtheit des Strafvollstreckungsdienstes, der längst ein toter Körper, versteinertes Gerippe ist. Was vielleicht einmal sinnvoll war, hat längst seinen Sinn verloren. Und es ist zwecklos, an dieser Leiche Kuren zu versuchen. Man sehe doch, wie ein an sich menschlich gewolltes Gesetz, wie das über die B.-F. sich in sein Gegenteil verkehrt, hässliche Quälerei wird.

Tot ist tot, ein anderes muss werden.

[27]Tscheka-Impressionen
1

Ich komme wieder einmal heim aus den Verhandlungen des Staatsgerichtshofs gegen die Tschekaleute, angewidert, halb krank, aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht: erledigt. Ist etwas Besonderes geschehen? Gar nicht. Zwar: es hat Ordnungsrufe ohne Zahl gegeben; zwar: Wortentziehungen sind nicht eben selten erfolgt; zwar: Zeuge und Angeklagter haben sich gegenseitig »Lump, Lügner, Meineidiger« geschimpft; zwar: Zeugen und Angeklagte, am Ende ihrer Nervenkraft, haben Geschlechtskrankheiten, Weiberbekanntschaften, Betrunkenheiten mit allen (körperlich schmierigen) Folgen einander ins Gesicht geschrien – aber ist das etwas Besonderes? Das hören, das sehen wir seit vier Wochen alle Tage.

Ein Verteidiger beginnt zu reden. Vorsitzender: »Herr Rechtsanwalt, ich entziehe Ihnen das Wort.« – »Ich erbitte das Wort zu einem Antrag.« – »Sie können den Antrag später stellen. Ich entziehe Ihnen das Wort.« – »Ich verlange Protokollierung dieser Verweigerung.« – »Ich lehne diese Protokollierung ab.« – »Nach § X der Strafprozessordnung …« – »Herr Rechtsanwalt, ich entziehe Ihnen das Wort!«

Auf der Anklagebank sitzen rund ein Dutzend Männer, seit über einem Jahre in Untersuchungshaft, durch die endlose Voruntersuchung zermürbt, seit vier Wochen auf der Marterbank dieses Prozesses, sie werden von Tag zu Tag blasser, gereizter, kränker. Immer wieder meldet sich einer: [28]»Mir wird schlecht.« – »Ich kann nicht mehr folgen!« – »Ich habe Hunger. Ich muss erst was zu essen haben.« Ist es ihnen zu glauben. Man sehe sie an. Doch, es ist ihnen zu glauben.

Dieser Gerichtshof ist – wie jeder Gerichtshof – dazu eingesetzt, die Wahrheit zu finden. Es geht bei den meisten Beteiligten um Strafen, die ihr ganzes Leben vernichten werden. Menschlichstes wird verhandelt? Ich höre immer: Nach § … Wortentziehung … Gerichtsbeschluss … Protokollierung …

Wer noch einen Beweis braucht, dass dieser Staatsgerichtshof nicht in der Lage ist, seine Aufgabe – sie besteht nicht in Verurteilung, sondern in Wahrheitsfindung – zu lösen, der höre diese Verhandlungen an. Hier vernimmt man – am Richtertisch – eine sinnlose, überreizte Schärfe des Tons, eine fast persönlich zu nennende Feindschaft wird sichtbar, eine überpäpstliche Unfehlbarkeitspose verhindert jede weichere Tönung –: all dies war bei dem Reichsgericht, das der Stamm war, aus dem auf höheren Befehl die Frucht Staatsgerichtshof reifte (nein, nicht reifte), – all dies, sage ich, war vor wenigen Jahren hier noch nicht möglich. Solche Verhandlungen müssen das Ansehen des obersten deutschen Gerichtshofes in nie wieder gutzumachender Weise erschüttern.

Die Wahrheit finden? O nein. Zwischen Vorsitz und Verteidigung wird ein Beutestück hin und her gezerrt (der Reichsanwalt sitzt in seinem Winkel und schweigt), und es gehört keine Prophetengabe dazu zu sagen, wer in diesem Prozess Sieger sein wird: der Vorsitz.

 

Und die Zerrupften zahlen die Zeche.

[29]2

Von einer Reihe von Angeklagten wird behauptet, in der Voruntersuchung seien Erpressungen an ihnen versucht oder verübt, Geständnisse seien belohnt, größere Belohnungen seien in Aussicht gestellt.

Margies, ein herzlich unsympathischer Typ, sehr wenig Mensch und sehr viel Tier, aber was tut das zur Sache? Er gibt an, dass er, als er auch beim zweiten Verhör während der polizeilichen Voruntersuchung die Aussage verweigert habe, nicht in seine frühere Zelle, sondern in eine Dunkelzelle zurückgeführt sei, in der er acht Wochen habe zubringen müssen. Während acht Wochen habe er keine frische Wäsche erhalten, der Zukauf von Lebensmitteln aus eigenem Gelde, der den anderen Gefangenen erlaubt gewesen sei, sei ihm trotz Erlaubnis des Untersuchungsrichters nicht gestattet worden, die Freistunde-Bewegung in frischer Luft – sei ihm verweigert.

Die Wahrheit dieser Angaben wird nicht bestritten. Der Kriminalbeamte, der seinerzeit die Vernehmungen vornahm, erklärt unter seinem Eid, er habe diese Strafmaßnahmen nicht veranlasst. Dies ist ihm zu glauben, ist damit aber die Sache erledigt? Wer hat dies denn veranlasst? Weiß man so wenig vom Innenbetrieb der Gefängnisse, dass es noch der ausdrücklichen Versicherung bedarf, ein Kriminaloberinspektor habe diese Maßnahmen nicht veranlasst? Er wird sich hüten! Es ist ja auch gar nicht nötig, man weiß doch, wie rasch in einem Gefängnis das Ergebnis solcher Vernehmung durchsickert. Er hat nicht gestanden! Wir werden es dem Bruder schon zeigen!

[30]Das Gegenstück: Poege. O welcher Glanz! Er hat den wahren Bekenntniseifer gezeigt, sogar dem Oberinspektor ist er mit seinen ewigen Vorführungswünschen, seinem Enthüllungsfieber ein wenig auf die Nerven gefallen. Aber immerhin hat ihm dieser Oberinspektor doch als Gegenleistung einige Versprechungen gemacht, über deren Tragweite natürlich die Aussagen des Verhörführers und des Beschuldigten ein wenig auseinandergehen.

Immerhin leugnet dieser Beamte nicht, dass er dem Poege, in Anbetracht seiner Verdienste um Rettung des Staates, eine weitgehende Strafermäßigung, vielleicht gar Strafaussetzung in Aussicht gestellt hat. Sogar von der Verhandlung dieses Prozesses in Stuttgart statt in Leipzig soll die Rede gewesen sein, damit Held Poege nicht den Blicken seiner Leipziger Genossen im Gerichtssaal ausgesetzt wird. Und natürlich hat Poege in keiner Dunkel-, in keiner Einzelzelle gelegen, man hat ihn in Gemeinschaftszelle gelegt, wo er andere Untersuchungsgefangene ausgehorcht und ihre Geständnisse brühwarm hinterbracht hat, man hat ihm diese »häufigen Spaziergänge in frischer Luft zum Polizeipräsidium gerne gegönnt«, er hat gutes Essen und Zigaretten bekommen, mit späterer Anstellung im Polizeidienst hat man gewinkt, am Horizont erscheinen undeutlich die Umrisse eines Auslandspasses.

All dies lebt, all dies kommt täglich vor, und wir wundern uns nicht einmal darüber. Es ist eben so, wer soll es ändern? Der Untersuchungshäftling, der sich seiner Haut wehrt, im Dunkelarrest, der Untersuchungshäftling, der sein eigen Nest beschmutzt, beim Spazierengehen.

Wir zahlen Prämien für die schuftigste Gesinnung.

[31]3

In diesem Prozess kann man melancholische Betrachtungen über »die Macht der Presse« anstellen. Über ihre Macht, die Wahrheit zu verbergen. Einige wenige Blümlein aus einem vollen Strauß.

Eines Tages erschienen in einer Reihe der größesten Tageszeitungen Berichte und Bilder, die die Abführung des Rechtsanwalts Samter aus dem Gerichtssaal durch Schupoleute zeigten. Auf diesen Bildern sah man einen Herrn in Robe mit von Schreien verzerrtem Gesicht und gekrallten Fingern, den rechts wie links je ein kerniger Schupomann gepackt hatte. Am anderen Tage erklärte der Vertreter der Verteidigung, dass Samter keineswegs abgeführt sei, sondern von selbst den Gerichtssaal verlassen habe. – Welche von all diesen Zeitungen hat eine Berichtigung gebracht?

Bei seiner Vernehmung hat der Angeklagte Skoblewsky erklärt: »Ich habe mich nie Hellmut, Gorew, Wolf genannt, sondern nur Skoblewsky.« Eine Reihe von Blättern berichtet getreulich: »Ich habe mich nie Skoblewsky, Gorew, Wolf genannt«, wodurch ein Skoblewsky zu einem geheimnisvollen Niemand umfrisiert wurde.

Als der Angeklagte Poege in der Hauptverhandlung einen Teil seiner Geständnisse aus der Voruntersuchung mit der Begründung widerrief, er habe sie nur wegen der ihm von der Polizei in Aussicht gestellten Belohnungen gemacht, und diese Belohnungen des Genaueren angab, dachte ich: »Nun, dies wird wie eine Bombe einschlagen.« Ein Teil der Rechtspresse meldete lakonisch: »Der [32]Angeklagte Poege widerruft seine Geständnisse.« Punktum. Streusand.

Diese drei Beispiele zeigen die drei Wege der Macht: vollkommen Neues erfinden, Geschehenes verfälschen, Gehörtes unterdrücken. Alle drei Wege werden eifrig benutzt.

Dies wären Kleinigkeiten? Bitte schön, im Zuhörerraum des Staatsgerichtshofs haben rund hundert Personen Platz, die ausschließlich Rechtsblätter lesen – nun, wie viele Personen?

4

Heute sind die Sachverständigen vernommen worden. Welche Änderung! Welche Sanftmut! Milde wie ein Vater gestattete der Vorsitzende den Anwälten, ihrem Fragedrang Genüge zu tun, und, als es doch einmal bei einer Frage des Rechtsanwalts Samter zu einem Zusammenstoße zu kommen drohte, war alles im Handumdrehen in den verbindlichsten Formen erledigt. Wo sind die rauen Töne von gestern? Des Winters scharfe Winde wehen nicht mehr, ist der Frühling im großen Sitzungssaale eingezogen? Ach, es ist, als ob in einer arg neurasthenischen Familie ein hoher Besuch angekommen ist, alles benimmt sich, niemand zankt sich mehr, morgen, o morgen werden wir wieder unter uns sein!

Das Publikum zerfällt in zwei Parteien. Die eine seufzt: Der arme Vorsitzende hat es so schwer! Die andere: Die unseligen Anwälte sind zu bedauern. Der unparteiische Beobachter schwankt zwischen einem einerseits, andererseits, [33]zwischen sowohl, als auch, und ihm fällt bei näherem Zuhören auf, dass in diesem Prozess die Verteidigung eine besondere Taktik anwendet.

Gewiss, da ist noch ein junger Anwalt, der mit unendlichem Eifer dicke Bücher wälzt, Reichsgerichtsentscheidung auf Reichsgerichtsentscheidung zitiert und immer wieder erleben muss, dass all dies für die Leitung der Verhandlungen gar keine Verbindlichkeit besitzt. Der Reichsjustizminister hat ihr ja eben erst bestätigt, dass sie völlig nach eigenem Ermessen zu entscheiden hat.

Doch andere Verteidiger haben längst eingesehen, dass auf dem formalen Wege nicht zum Ziel zu kommen ist. Es handelt sich ja nicht so sehr um die Straftat der Angeklagten, die ziemlich klar zutage liegen, da alle nach ihren ersten Verbrechen zusammengeklappt sind und wissentlich oder unwissentlich Komödie gespielt haben, es handelt sich hier darum, wie diese einzelnen Taten zu einer allgemeinen Gefahr ausgerufen worden sind, wie dieser ganze Prozess inszeniert worden ist, seine Aufbauschung, seine einseitig parteipolitische Frisierung, um den ganzen Fragenkomplex: Wie ist dieser Prozess »gemacht« worden? (Und: wer hat ihn gemacht?)

Von Zeit zu Zeit gelangt der Verteidigung in dieser Hinsicht ein Vorstoß. Da taucht plötzlich eine seltsame Broschüre auf. Ist sie Poege von der Polizei zugesteckt worden und hat er aus ihr seine Aussagen abgeschrieben? Er behauptet es. Ist sie erst aufgrund der Aussagen von Poege verfasst worden? Ein Polizeibeamter behauptet es. Wie aber sind dann die Aussagen Poeges in die Hände des Broschürenverfassers gekommen?

[34]Das taucht auf aus dem Wust, entschwindet ferner, versinkt.

Da wird die Abschrift einer Krankengeschichte des Rausch aus dem Lazarus-Krankenhause vorgelesen. Und plötzlich stellt die Verteidigung fest, dass in dieser Abschrift an entscheidender Stelle Abschwächungen und Streichungen dem Urtext gegenüber vorgenommen sind. Der Kriminalinspektor Koppenhöfer hat eines Tages Rausch die Lichtbilder seiner Mörder vorgelegt, er hat ein mindestens dreiviertelstündiges Verhör mit ihm angestellt. Von diesem Tage an ist eine entschiedene Wendung zum Schlechten eingetreten, vier oder fünf Tage danach starb Rausch, selbst den Ärzten überraschend. Und gerade in dem Text der Krankengeschichte von diesem Tage finden sich redaktionelle Änderungen. Seltsam. Sehr seltsam!

Es wäre von Interesse, einmal das Buch zu schreiben: Wie inszeniert man politische Prozesse, A. gegen rechts, B. gegen links. Es würde ein sehr phantastisches Buch abgeben, völlig romanhaft.

5

Richten die Angeklagten ihre Blicke auf das ihnen gegenüberliegende Fenster, so lesen sie in einem Wappen die Inschrift »Fidelitas«. Sie werden dies als eine wenig angebrachte Aufforderung zum Frohsinn ansehen. Und gibt es einmal wirklich Gelegenheit zum Lächeln, achtet niemand ihrer. Der Vorsitzende sagte: »Der Gedanke liegt allerdings [35]nahe, dass der Getötete, als ihm die Bilder der Täter vorgelegt wurden, diesen Ausspruch aus Rache getan hat.« Unbemerkt vorübergegangen.

[36]Stahlhelm-Gemüs
1

Es ist nicht ganz leicht, mit dem ostelbischen Adel in Verkehr zu kommen. Er sitzt in seinen ländlichen Katen, die, sind sie zweistöckig, stets Schloss heißen, und verkehrt mit den Versippten und Verschwägerten. Und mit allen adligen ländlichen Kateninhabern ist er versippt und verschwägert. Kommt aber einer von außen und nun gar aus Mitteldeutschland, oh weh!

Mein Lieber, dort ist doch alles rot! Und wenn Herr Bomst auch nicht rot sein mag, es muss ja auf ihn gewirkt haben, dass er immer solche Ansichten hat anhören müssen. Nichts für uns, mein Verehrter. Besser ist besser.

Herr Bomst hat also umsonst seinen Zylinder aufgesetzt und umsonst den Frack angezogen. Man zeigte ihm die kalte Schulter. Aber Herr Bomst ist nicht umsonst aus Mitteldeutschland, speziell aus Sachsen. Herr Bomst ist helle. Da er nun einmal vergeblich auf die hochherrschaftlichen, herkömmlich mit Aloe geschmückten Rampen vorfuhr, denkt er: Nun müssen sie mir kommen.

Und Bomst, der natürlich Offizier gewesen ist, entdeckt, dass die ländliche Jugend dringend nach Zusammenschluss lechzt. Er gründet eine Ortsgruppe des Stahlhelm. Das ist eine sehr einfache Geschichte. Er hängt sich zwei Stunden ans Telefon und klingelt alle großen Güter der Gegend an. Wozu gibt es landwirtschaftliche Beamte? Er lädt sie freundlich zu einer Vorbesprechung zwecks Gründung einer Ortsgruppe des Stahlhelm ein. Etwaige nationale [37]Bauernsöhne sind mitzubringen. Kann er den Herren nicht haben, nimmt er’s Gescherr.

Und welcher landwirtschaftliche Beamte könnte solcher Lockung widerstehen? Bei einem Rittergutsbesitzer eingeladen! Kann man’s denn überhaupt riskieren, wegzubleiben? Weiß der Himmel, wie der Bomst mit dem eigenen Chef steht! Vierzehntägige Kündigung ist bei landwirtschaftlichen Beamten noch sehr Mode.

So kommen sie alle. Und es lohnte sich wirklich. Es war, es war, nun, einfach kameradschaftlich herzlich. So ein gemütlicher Ton. Und die ältesten Feldzugsgeschichten, die kein Aas mehr hören wollte, an Bomst waren sie loszuwerden. Und es gab Wein. Und es gab Zigarren mit Leibbinde. Alle unterschrieben.

Das dringende Bedürfnis war gestillt und die Ortsgruppe X des Stahlhelm gegründet.

Die nächste Versammlung sah bereits anders aus. Erstens fand sie nicht mehr bei Herrn Bomst, sondern in irgendeinem Gasthof statt, wo jeder sich seinen Topp Bier selber kaufen musste, und zweitens erhob sich Herr Bomst und bat die Herren dringend, doch ja recht pünktlich zu sein. Jawohl, pünktlich auf die Minute. Es sei ein Unding, ihn eine ganze Viertelstunde wie heute warten zu lassen. Man sei hier zur Pflege des kameradschaftlichen Geistes, vor allem aber des militärischen Geistes. In diesen verrotteten Zeiten ...... Und unser oberster Kriegsherr ........

Es war wunderbar. Und Herr Bomst konnte sich nun hinsetzen und dem Großgrundbesitz (mit Adel) Briefe schreiben, die Ortsgruppe sei gegründet und der Geehrte Herr Major oder Oberst oder General werde gebeten, als Mitglied.. Unterstützung.. nationale Pflicht ….

[38]Herr Bomst kann ruhig schlafen, er hat den Anschluss gefunden.