Hans Fallada – Gesammelte Werke

Tekst
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2

Als Ku­falt am nächs­ten Mor­gen auf die Schreib­stu­be kommt, sitzt Beer­boom schon an sei­nem Platz und schmiert, die Schul­tern hoch­ge­zo­gen. Von hin­ten fasst Ku­falt ihn und zieht ihn hoch. Schon sieht er wie­der den wei­ner­li­chen, fle­hen­den Blick: Beer­boom ist un­glück­lich, dass ihm al­les ver­quer geht.

»Beer­boom, Idi­ot«, sagt Ku­falt und nimmt nicht die ge­rings­te Rück­sicht auf die ge­hei­lig­te Ord­nung der Schreib­stu­be. »Wenn’s Ih­nen noch ein­mal ein­fal­len soll­te, mei­ner Wir­tin oder ir­gend­ei­nem Men­schen im Hau­se zu er­zäh­len, dass Sie ein Raub­mör­der sind –: Ich krie­ge Sie und …«

Er schüt­telt ihn.

Beer­booms Kör­per wird un­ter sei­nen Fäus­ten ganz weich, er wankt hin und her, wie kno­chen­los.

»Pss­st!« macht Mer­gen­thal. »Herr Ku­falt, ich muss doch sehr bit­ten …«

»Sie sind ein Idi­ot!« sagt Ku­falt zu Beer­boom. »Aber wenn Sie zehn­mal ein Idi­ot sind, ich ver­dre­sche Sie der­ar­tig …!«

»Ich will’s ja auch nicht wie­der tun«, be­reut Beer­boom. »O Gott, was bin ich un­glück­lich! Sie war so teil­nahms­voll, ich dach­te, sie hät­te Mit­leid mit uns. Sie hat ge­fragt, warum wir so ’ne gel­be Far­be hät­ten, wir ar­bei­ten wohl in ei­ner che­mi­schen Fa­brik, und da habe ich …«

»Idi­ot!« sagt Ku­falt, gibt Beer­boom noch einen ab­schlie­ßen­den Stoß und setzt sich. »Noch mal ver­mas­seln Sie mir nischt. Ich schlag Sie tot, ver­ste­hen Sie!«

»Jetzt bit­te ich aber end­gül­tig um Ruhe«, sagt Mer­gen­thal. »Sonst rufe ich Herrn Sei­den­zopf.«

Beer­boom seufzt schwer. Und schreibt. Auch Ku­falt schreibt. Er denkt: Der ver­quatscht mich nicht ein zwei­tes Mal. Aber es gibt so vie­le Mög­lich­kei­ten. Auf dem Re­vier kann man der Wir­tin einen Wink ge­ben. Oder die schi­cken mir einen Brief vom Ge­fäng­nis nach. Oder eine An­fra­ge kommt … Auch Ku­falt seufzt schwer.

Aber dann – in der von Sei­den­zopf groß­mü­tig ver­län­ger­ten Mit­tags­pau­se, aber Herrn Pe­ter­sen schickt er doch zur Beglei­tung mit –, aber dann, auf die­ser Ein­kaufs­fahrt in das Wa­ren­haus, sein Jung­ge­sel­len­heim aus­zu­stat­ten – da er­weist es sich, dass er doch gu­ter Stim­mung ist.

»So. Tel­ler, Tas­se, Auf­schnitt­scha­le ha­ben wir. Was braucht man sonst noch als Jung­ge­sel­le, Fräu­lein?«

»Eine Kä­seglo­cke?«

»Kä­seglo­cke? Vi­el­leicht. Was kos­tet eine Kä­seglo­cke? Nein. Aber eine But­ter­do­se, Fräu­lein, dass Sie dar­an nicht ge­dacht ha­ben …!«

Ku­falt, Pe­ter­sen und Fräu­lein kau­fen eine But­ter­do­se. Aber: Solch mö­blier­tes Zim­mer ist kei­ne Spei­se­kam­mer, ist oft heiß, also die­se Ton­do­se mit Was­ser­küh­lung …

»Sehr teu­er. Und ob es prak­tisch ist …?«

Der Stu­dent er­läu­tert: »Wis­sen Sie, Ku­falt, es be­ruht auf dem Prin­zip der Ver­duns­tung. Sie müs­sen es in den tolls­ten Son­nen­schein stel­len, umso käl­ter wird es, ver­ste­hen Sie? Schon die al­ten Ägyp­ter …«

»Also schön, Fräu­lein, was braucht man noch für einen Jung­ge­sel­len­haus­halt? Nichts? Fer­tig? Al­les er­le­digt? Dann schrei­ben Sie auf … Ich fin­de das Por­zel­lan ja wirk­lich hübsch mit die­sem ro­ten Rand …«

»Ich an Ih­rer Stel­le«, sagt das Fräu­lein mit ei­nem schrä­gen, ra­schen, lä­cheln­den Auf­blick von ih­rem Kas­sen­block, »ich an Ih­rer Stel­le hät­te mir al­les ja gleich dop­pelt ge­kauft …«

»Dop­pelt?« fragt Ku­falt. »But­ter­do­se dop­pelt?«

»Nein«, lacht sie, »But­ter­do­se nicht. Aber Tel­ler und Tas­sen. Man bleibt ja doch nicht al­lein.«

»Ach nee!« sagt Ku­falt la­chend. »Sie müs­sen’s ja wis­sen.« Und nach­denk­lich schaut er den wei­ßen, sanf­ten Brus­taus­schnitt im schwar­zen Kleid an.

»Weiß ich auch«, lacht sie halb ver­le­gen. »Und nach­her kriegt man das­sel­be Mus­ter nicht wie­der. Und es soll doch al­les zu­sam­men­pas­sen.«

»Das soll es«, be­stä­tigt Ku­falt, an­ge­sichts der at­men­den Brust. In der Zel­le, in den fünf Jah­ren, hat­ten sich die frü­he­ren Mäd­chen ver­braucht. Sie wa­ren ihm zer­gan­gen, sie wa­ren so oft zu­rück­ge­führt auf die ein­fachs­ten kör­per­li­chen Din­ge, sie wa­ren in­ein­an­der über­ge­gan­gen. Erst gli­chen sie ein­an­der alle, dann ent­schwan­den sie in ei­nem Ne­bel, Haar und Fleisch – nichts mehr …

Nun, an die­sem herr­li­chen Ju­ni­nach­mit­tag, da Ku­falt wie­der Um­schlag nach Um­schlag in die Ma­schi­ne spannt, schmet­tert, aus­spannt – nun ist das bun­te­re Le­ben wie­der da: ein Herz­ge­sicht und ein wei­ßer, at­men­der, milch­far­be­ner Aus­schnitt. Schon zwei. Schon zwei statt kei­ner.

Al­les hängt zu­sam­men. Da war die Verab­re­dung mit Batz­ke ge­we­sen. Es wäre trü­be und ge­mein ge­wor­den, es kam aus der Zel­le, es ging in die Zel­le.

Das jun­ge le­ben­di­ge Grün im Gar­ten, die strah­len­de Son­ne, ein Herz­ge­sicht und: »Man bleibt doch nicht al­lein« – kann eine Schreib­ma­schi­ne sin­gen …? Er singt im Takt: »Es gibt einen Weg ins Freie – man bleibt ja doch nicht al­lein. – Es gibt einen Weg ins Freie – am bes­ten gehst du ihn zu zwein …«

Net­te Welt, denkt er.

*

Die alte Behn ist im Zim­mer und hilft ih­rem neu­en Mie­ter beim Auspa­cken.

Was die jun­ge Behn ist …

»Die Lie­se«, sagt die alte Behn, »ich weiß nicht, was im­mer mit der Lie­se ist. Ich kann es Ih­nen so ge­nau nicht sa­gen, aber je­den Abend ist sie un­ter­wegs. Sie sagt, sie höre im Ham­mer Park Mu­sik – was das wohl für ’ne Mu­sik ist, die die hört.«

Oh, was für ein bö­ser Dra­che! denkt Ku­falt und fragt laut: »Ist es Ihre Ein­zi­ge, Frau Behn?«

»Nee, drei­zehn. – Nun könn­te sie Ih­nen so fein hel­fen bei den Sa­chen, aber nein, Mu­sik. Wis­sen Sie, als ich jung war, ich habe nichts ge­kannt wie Ar­beit, von früh vie­re bis nachts zeh­ne. Ich bin bei den Bau­ern ge­we­sen seit mei­nem vier­zehn­ten Jahr …«

»Drei­zehn Kin­der ha­ben Sie?«

»Zwei le­ben noch. – Nach­her hab ich in die Stadt ge­macht. Aber dumm bin ich ge­we­sen. Die Frau sagt zu mir in der Stadt: ›Geh, hol vier Pfund Roast­beef.‹« (Sie spricht es Ross­behf.) »Ich steh auf der Stra­ße, ich den­ke: Nein, Pfer­de­fleisch es­sen, das fängst du gar nicht erst an. Ich sag zur Frau: ›Ross­behf is alle.‹ Hat die ’nen Stunk ge­macht, wie sie da­hin­ter­kam, warum ich nie Ross­behf brach­te.«

Die alte Frau lacht, Ku­falt lacht mit.

»Heu­te sind die Mäd­chen schlau­er, aber die Lie­se könn­te es ru­hig halb­weg ein biss­chen sach­ter an­ge­hen las­sen. Je­den Abend un­ter­wegs …«

»Wenn man jung ist, Frau Behn.«

»Ich sage ja nichts! Ich sage doch nichts! Die Lie­se ist so schlecht noch nicht, sie gibt pünkt­lich ihr Kost­geld. Aber mein Jun­ge, der Wil­li, so­viel Geld ver­dient er, Chauf­feur ist er. Aber ein Räu­ber. Ein Räu­ber. Kommt, sagt: ›Mut­ter, hast du was zu es­sen?‹ Isst mir mein Es­sen weg, fragt: ›Mut­ter, hast du zehn Mark? Du kriegst sie heu­te Abend wie­der, ich muss nur schnell mal tan­ken.‹ – Geht, lässt sich vier Wo­chen nicht wie­der se­hen. – Man müss­te kei­ne Kin­der ha­ben, jun­ger Herr, wozu? Man ra­ckert sich ab, füt­tert sie, dann ge­hen sie weg, aber ewig zie­hen sie von ei­nem.«

»Aber doch nicht alle, Frau Behn, Sie sa­gen doch selbst, Ihre Toch­ter …«

»Was sage ich? Weil sie ihr Kost­geld be­zahlt? Da­rum? Weil sie mir, wenn’s schief­geht, ih­ren Balg an­dre­hen will, jun­ger Herr, dar­um doch! Ich bin nicht dumm, ich bin vom Lan­de, ich weiß, wie’s kommt. Die Mäd­chen sind heu­te so schlau, sie la­chen. Sie sagt: ›Mut­ter, was du denkst, is nich …‹ Ich sage: ›Wie­so is nich?‹ – ›Na, lass man, Mut­ter‹, lacht sie. ›Bei mir Fehl­ver­bin­dung von we­gen drei­zehn wie du – das is nich.‹ Aber ich sage …«

Ku­falt ist heiß ge­wor­den, er rückt mit den Schul­tern im Jackett hin und her, er sieht nach dem Fens­ter hin.

Nein, das Fens­ter steht of­fen, ein gu­ter Nacht­wind be­wegt die Gar­di­nen.

»Ja, die Bü­cher«, sagt er ge­dan­ken­los. »Wo blei­ben wir mit den Bü­chern? Vi­el­leicht kön­nen Sie die Nip­pes vom Ver­ti­ko neh­men, Frau Behn?«

»Kann ich«, sagt die Alte. »Mir macht das nichts. Der eine Mie­ter will die Bil­der von den Wän­den, der an­de­re will kei­nen Nacht­topf – Sie wol­len kei­nen Nipps – mir ist es Wurst, wir wer­den alle auf die Schip­pe ge­nom­men, wie wir ge­ba­cken sind. Aus Bü­chern wird man auch nicht schlau.«

»Nein«, be­stä­tigt Ku­falt.

»Weiß ich«, sagt die Alte be­frie­digt. »Sie ha­ben Rän­der um die Au­gen, und wenn ich von der Lie­se klö­ne, kön­nen Sie nicht her­gu­cken. Ich ver­steh al­les, lie­ber Herr, mir macht es nichts mehr. Eins rat ich Ih­nen (aber Sie hö­ren doch nicht), las­sen Sie sich mit der Lie­se nicht ein, die ist ein Aas, die kennt kein Mit­leid …«

»Wer ist ein Aas? Wer kennt kein Mit­leid?« fragt es von der Tür, und die bei­den über der großen Kis­te fah­ren zu­sam­men wie er­tapp­te Sün­der.

Lie­se Behn steht in der Tür, klein: ja. Zier­lich: ja. Herz­ge­sicht: ja. Aber eine senk­rech­te böse Fal­te zwi­schen den Au­gen­brau­en. Mit ei­nem ro­ten Mund, aber mit ei­nem schar­fen, schma­len Mund.

»Hast du wie­der ge­quatscht, Mut­ter? Hast du wie­der die Zun­ge lau­fen las­sen, Mut­ter? Hat sie Ih­nen wie­der er­zählt, dass ich eine hal­be Hure bin, Herr Ku­falt? Dass ich es mit al­len Män­nern habe? Leg dich schla­fen, geh raus, Mut­ter. Sollst dich was schä­men. Pfui!«

Die Alte mit dem run­den, ver­ar­bei­te­ten Bu­ckel hat laut­los mit lee­rem Ge­sicht ne­ben der Kis­te ge­hockt, ohne ein Wi­der­wort, ohne das Ge­sicht auch nur zu be­we­gen. Jetzt steht sie auf, schlurft ohne ein Wort mit ge­senk­tem Kopf ge­gen die Tür. Sie zö­gert, die Toch­ter steht im Tür­rah­men, die macht kein biss­chen Platz. Die Alte guckt de­mü­tig, dann drückt sie sich vor­bei, ohne ein Wort. Das Schlur­fen ver­klingt auf dem Gang, eine Tür fällt zu, Stil­le.

 

Ku­falt, auch be­klom­men (jetzt kom­me ich dran), wirft einen scheu­en Blick auf das Mäd­chen. Sie steht noch ge­nau­so da, be­nagt die Un­ter­lip­pe, sieht ihn nicht an. Er hebt einen Stoß Bü­cher aus der Kis­te, geht zum Ver­ti­ko, sieht die Lie­se von der Sei­te an.

Sie trägt ein Kleid mit ro­ten Tup­fen, weiß, ihr hel­ler Hut ist in­nen auch rot – nun ja, die Alte hat si­cher ge­lo­gen, so sieht sie nicht aus …

»Mut­ter ist krank«, sagt sie sto­ckend. »Am bes­ten, Sie re­den gar nicht mit ihr, sie er­fin­det von al­len Men­schen Ge­schich­ten, lau­ter Schmutz …«

»Jaja«, sagt Ku­falt. »Man braucht Sie nur an­zu­se­hen, Fräu­lein Behn …«

»Sie sol­len mich nicht an­se­hen!« ruft sie und stampft mit dem Fuß auf. »Jetzt nicht. Jetzt da­nach nicht. Ges­tern Abend ja, heu­te nein.«

»Ich stel­le die Bü­cher weg«, mur­melt Ku­falt. »Ich sehe gar nicht hin.«

Eine Wei­le ist Stil­le. Ku­falts Herz klopft sehr, al­les ist doch an­ders, wie wach­sen Men­schen auf, Mäd­chen, was gibt es al­les …

Sie räus­pert sich. Sie nimmt ein Buch, sieht es an, stellt es weg, sieht ein an­de­res an. Was sagt sie? Sie sagt: »Also, gute Nacht.«

Sie geht aus dem Zim­mer, sieht ihn nicht wie­der an, gibt ihm nicht die Hand.

3

Es ist auf der Schreib­stu­be im­mer da­von ge­mun­kelt wor­den, die­ser Be­trieb in der Ap­fel­stra­ße sei nicht der ein­zi­ge Schreib­saal des Pas­tors Mar­ce­tus, es gebe noch einen an­de­ren drin­nen in der Stadt, neu­zeit­lich ein­ge­rich­tet, wo es nicht nur Adres­sen zu schrei­ben gäbe, son­dern auch fei­ne­re Ar­beit: Brie­fe, Ma­nu­skrip­te, Dik­ta­te. Aber es war nicht mehr als Ge­mun­kel, Be­stimm­tes wuss­te kei­ner. Manch­mal ging ein klei­ner, di­cker, rot­pick­li­ger Mann durch die Schreib­stu­be Ap­fel­stra­ße, er hieß Jauch, und Herr Mer­gen­thal wie Herr Sei­den­zopf wa­ren sehr höf­lich zu Herrn Jauch. Manch­mal auch ver­schwand der eine oder an­de­re Schreib­stu­ben­ar­bei­ter, Herr Sei­den­zopf ging mit ihm fort, er kam nicht wie­der.

Gab es die sa­gen­haf­te Schreib­stu­be wirk­lich?

Ein paar Tage nach Ku­falts Um­zug in die Ma­ri­entha­ler Stra­ße er­scheint Va­ter Sei­den­zopf auf der Schreib­stu­be und sagt: »Herr Maack! Herr Ku­falt! Lie­fern Sie die fer­ti­ge Ar­beit ab. Ge­ben Sie die Adress­bü­cher zu­rück. Säu­bern Sie Ihre Ar­beitsplät­ze. Zie­hen Sie sich Ihre Män­tel an, und set­zen Sie Ihre Hüte auf. Sie tref­fen mich auf dem Vor­platz.«

Die an­de­ren se­hen nur ein­mal hoch, und schon schrei­ben sie wei­ter, nur der ewi­ge Beer­boom stimmt sei­nen Kla­ge­ge­sang an: »O Gott, o Gott, Sie kom­men wohl weg? Und wann kom­me ich aus die­ser Bruch­bu­de? Sie ha­ben’s fein. Wie­so Sie ei­gent­lich, Ku­falt, ver­steh ich nicht. Sie schrei­ben doch höchs­tens sie­ben­hun­dert Adres­sen.«

Ku­falt schüt­telt Mer­gen­thal die Hand, sagt in die Luft hin­ein un­ter der Tür: »Gu­ten Mor­gen«, und trifft Va­ter Sei­den­zopf auf dem Vor­platz.

»Wo bleibt Herr Maack? – Schön, da sind Sie, mein lie­ber Maack. Also ge­hen wir. Wir müs­sen schnell ge­hen, vie­le Din­ge har­ren heu­te noch mei­ner. Ein schö­ner Tag das, ein rech­ter Got­tes­tag, über­haupt ein recht er­freu­en­der Som­mer, dies Jahr.«

Er zot­telt zwi­schen den bei­den großen, jun­gen Män­nern, der klei­ne, ält­li­che Mann mit dem schwar­zen, krau­sen Bart, er brab­belt so vor sich hin.

»Wo­hin ge­hen wir ei­gent­lich, Va­ter Sei­den­zopf?« fragt Ku­falt.

»Still, mein jun­ger Freund, husch!« macht Va­ter Sei­den­zopf. »Man muss war­ten kön­nen. War­ten. Aus­ge­zeich­net wer­den Sie vor vie­len – ha­ben Sie ein­mal von der Schreib­stu­be Pre­sto ge­hört, dem mo­d­erns­ten Be­trieb Ham­burgs? Nun, Sie wer­den se­hen, Sie wer­den er­le­ben.«

Und am Schal­ter der Hoch­bahn: »Ja, wie ist es, mei­ne Her­ren, wol­len Sie Ihre Fahr­kar­ten nicht selbst lö­sen? – Nun gut, ich ver­aus­la­ge den Be­trag, er kann Ih­nen von Ih­rer nächs­ten Ar­beits­be­loh­nung ab­ge­zo­gen wer­den. Oder …«, er kämpft sich zu ei­nem he­ro­i­schen Ent­schluss durch, »… wir kön­nen auch groß­zü­gig sein –: Es wer­den Spe­sen der Schreib­stu­be wer­den.«

Va­ter Sei­den­zopf fin­det einen Sitz­platz, Maack und Ku­falt ste­hen an der Tür und rau­chen.

Ku­falt sagt: »Es freut mich, dass wir zu­sam­men auf die neue Schreib­stu­be kom­men.«

»Ja? Jauch soll ein wahn­sin­ni­ges Schwein sein.«

»Jauch …?«

»Der di­cke Rot­pick­li­ge, der manch­mal bei uns durch­kam. Das ist der Bü­ro­vor­ste­her von Pre­sto.«

»Sie wis­sen Be­scheid? Ach, Maack, Sie re­den auch nie ein Wort! Ist es so eine Schreib­stu­be wie bei uns? Ver­die­nen wir mehr da?«

»Vi­el­leicht, wenn Sie zu ir­gend­ei­ner Fir­ma zur Aus­hil­fe ge­schickt wer­den. Oder wenn Sie auf die Dik­tat­stu­be kom­men. Aber das dau­ert noch lan­ge. Erst geht es wie­der mit den Adres­sen los. Dann be­kom­men Sie Zeug­nis­ab­schrif­ten und so was. Und wenn das al­les gut ge­gan­gen ist und, die Haupt­sa­che, Ihre Nase ge­fällt dem Jauch, dann be­kom­men Sie eine Aus­hil­fe.«

»Aber in den Sat­zun­gen heißt es doch, wir sol­len nur mög­lichst kurz auf den Schreib­stu­ben ar­bei­ten und mög­lichst rasch in die Be­trie­be.«

»Ich will dir was sa­gen, Kum­pel«, er­klärt Maack. »Das ist doch al­les Mist, das ist doch nur dar­um, da­mit sie uns im­mer gleich auf die Stra­ße set­zen kön­nen, wenn ih­nen was nicht passt oder die Ar­beit wird knapp. Siehst du, ich ar­bei­te seit an­dert­halb Jah­ren für die, ich bin noch nicht mal ar­beits­lo­sen­ver­si­chert. Wenn ich krank wer­de, muss ich auf die Wohl­fahrt und um einen Arzt bet­teln – und die spa­ren sich die Kran­ken­kas­sen­bei­trä­ge.«

»Aber das ist doch Ge­setz, dass je­der, der ar­bei­tet, ver­si­chert ist!«

»So blau, die sind doch ein Wohl­tä­tig­keits­ver­ein. Das ist doch Gna­de, das Geld, das wir am Sonn­abend krie­gen. Wir ar­bei­ten doch gar nicht rich­tig!«

»Na, weißt du …«

»Ich weiß schon, was man ma­chen müss­te. Drei, vier Kerls, die stie­kum sind, und ein paar Krö­ten. Ich spa­re schon wie wild, aber der Pfaf­fe, der Mar­ce­tus, sagt ja, mehr als drei Mark soll man mög­lichst nicht den Tag ver­die­nen, mehr ver­führt zu Lie­der­lich­keit.«

»Na, glaubst du, dass der nur drei Mark am Tage ver­dient?!«

»Eben! Ver­dienst du je mehr als zwan­zig Mark die Wo­che? Mal ein­und­zwan­zig, mal zwei­und­zwan­zig, wenn du dir die Fin­ger wund schreibst, aber da zie­hen sie schon Ge­sich­ter und möch­ten die Löh­ne am liebs­ten wie­der run­ter­set­zen. Ich, ich woh­ne mit ei­ner zu­sam­men. Ver­käu­fe­rin, kriegt fünf­und­sech­zig Mark im Mo­nat – was kann man da viel spa­ren?«

»Glaubst du, dass man mit hun­dert Mark im Mo­nat le­ben kann?« fragt Ku­falt ängst­lich.

»Aber si­cher! Aber gut kannst du das! Was gibst du fürs Zim­mer?«

»Fün­f­und­zwan­zig.«

»Viel zu viel. Ich be­sorg dir eins mit fünf­zehn. Mit zwölf. Was brauchst du denn schon? Bett und Stuhl, al­les an­de­re ist doch nur Quatsch, wenn man vor­wärts­kom­men will. Machst die Bude sel­ber sau­ber, un­term Dach ir­gend­wo. – Nun pass auf: Es­sen mor­gens und abends zu­sam­men fünf­zig Pfen­nig, mit­tags noch mal fünf­zig Pfen­nig …«

»Es gibt doch kei­nen Mit­tags­tisch für fünf­zig Pfen­nig!«

»Mit­tags­tisch? Willst du je­den Tag warm fres­sen? Wer tut denn so was heu­te noch? Brot, Mar­ga­ri­ne, ein Bück­ling, ein hal­ber Li­ter Milch, da­mit kommst du fein durch, fällst nicht von Kräf­ten, und der« – Hand­be­we­gung – »steigt dir nicht zu Kop­fe. Sonn­tags kannst du ja warm es­sen, neun­zig Pfen­nig höchs­tens. Also fünf­zehn Mark Mie­te, fünf­und­drei­ßig Mark Es­sen höchs­tens. Wä­sche viel­leicht fünf Mark, dann noch mal fünf Mark für Rau­chen, Kino, und das al­les macht zu­sam­men im Mo­nat sech­zig Mark. – Vi­el­leicht kann ich dir auch ein Mäd­chen be­sor­gen, das ein biss­chen was ver­dient. Dann fällt noch die Wä­sche weg, und die Mie­te geht auf Kip­pe.«

»So machst du das«, sagt Ku­falt be­wun­dernd und fest ent­schlos­sen, es nicht so zu ma­chen.

»Wie soll man es denn sonst ma­chen? Über­leg es dir, und wenn du willst, sag mir Be­scheid, ich such dir dann ein Zim­mer.«

Der Zug hält, Leu­te stei­gen aus und ein. Der Zug fährt wie­der an.

»Sag mal«, sagt Ku­falt zö­gernd, »hast du nicht mal dran ge­dacht, dass man ja viel leich­ter zu Geld kom­men kann?«

Stil­le.

Dann sagt Maack zö­gernd: »Ja, Kum­pel, da den­ken wir na­tür­lich im­mer dar­an. Und ver­re­den will ich es nicht. Ich ge­hör nicht zu den Brü­dern, die im­mer ›nie wie­der‹ schrei­en. Was weiß ich, was pas­siert? Wenn mein Mä­del mir ab­haut, weil ir­gend so ein rei­cher Stub­ben sie kö­dert, oder es schnappt mal. Das ist doch auch so ein Mist, dass der Gum­mi viel zu teu­er für un­serei­nen ist. Dann fas­se ich viel­leicht wie­der was an. Aber sonst – aus­ge­schlos­sen, den La­den ken­ne ich nun.«

»Aber was hast du denn von dei­nem Le­ben? Al­les Net­te kos­tet Geld, und du kriegst nie was.«

»Ich ver­re­de es ja nicht, ich sage, ich weiß auch nicht, ob ich es durch­hal­te. Aber viel­leicht kriecht man wirk­lich mal wie­der un­ter in ei­nem Ge­schäft mit hun­dert­vier­zig oder hun­dert­sech­zig. Vor­läu­fig ver­such ich es wei­ter auf die­se Tour …«

»Nun, mei­ne lie­ben Freun­de, ha­ben Sie den Ha­fen im Son­nen­schein ge­se­hen? Die ›Cap Ar­co­na‹ lag da, nicht wahr? Welch schö­nes Schiff! Da ist man doch stolz, dass man ein Deut­scher ist!«

»Ja­wohl, Herr Sei­den­zopf.«

»Und nun, mei­ne Lie­ben, füh­re ich Sie in un­se­re Schreib­stu­be Pre­sto. Ma­chen Sie dem Frie­dens­heim Ehre. Zei­gen Sie sich wür­dig der Wahl.«

Die brum­meln was vor sich hin.

Dann geht es eine Trep­pe in ei­nem Bü­ro­haus hin­auf.

»Schreib­stu­ben Pre­sto – Er­le­di­gung sämt­li­cher Schreib­ar­bei­ten – Un­er­reicht bil­lig – Un­er­reicht schnell – Un­er­reicht ge­nau.«

»Mein lie­ber Herr Jauch, hier brin­ge ich Ih­nen zwei neue Schütz­lin­ge, die sich be­reits bei mir be­währt ha­ben. Herr Maack. Herr Ku­falt. – Nun, Sie ha­ben die bei­den schon bei mir ge­se­hen.«

»Wie­so zwei? Was soll ich mit zwei­en? Ei­nen brauch ich, hab ich Ih­nen ge­sagt. Im­mer ma­chen Sie sol­che Ge­schich­ten! Aber na­tür­lich, da heißt es, der Jauch, der Jauch wird das schon rich­ten.«

Der klei­ne Di­cke, mit dem kahl­ge­scho­re­nen Kopf, ganz über­sät von Pi­ckeln, Pus­teln und Mi­tes­sern, stürmt auf und ab.

»Kön­nen die über­haupt was? So se­hen die nicht aus! Die ha­ben Sie wohl los sein wol­len? Na, Sie da, Sie, Sie! Ja, Sie mei­ne ich, set­zen Sie sich mal da an die Ma­schi­ne! Ha­ben Sie so ’ne Ma­schi­ne schon mal ge­se­hen? Ist ’ne Schreib­ma­schi­ne, wis­sen Sie! Zum Schrei­ben, ver­ste­hen Sie! Mit Durch­schlag, nor­mal­zei­lig, ich dik­tie­re. Mein Gott, mein Gott, mein Gott, mein himm­li­scher Heer­va­ter, wie span­nen Sie das denn ein?! Heißt das Ein­span­nen? Zwei Mil­li­me­ter sitzt der Bo­gen min­des­tens schief, und die Ver­schie­bung wächst pro­por­tio­nal! Ver­ste­hen Sie das …?«

»Ja …«, flüs­tert Ku­falt.

»Ja, sagt er, aber er hat kei­ne Ah­nung. Ich dik­tie­re: Ham­burg, am 23. Juni … Lie­ber Sei­den­zopf, was für ein An­schlag! Neh­men Sie den Mann wie­der mit, hier brau­chen wir per­fek­te Kräf­te. Ich dik­tie­re: Sehr ge­ehr­ter Herr … Wo ist denn das S? Das schwebt ja, schla­gen Sie die Tas­te ge­fäl­ligst or­dent­lich an! Wie Ma­schi­nen­ge­wehr­feu­er muss das klin­gen, wenn Sie schrei­ben. Sind Sie im Fel­de ge­we­sen? Nein, na­tür­lich nicht, wie sol­len Sie da wis­sen, was Ma­schi­nen­ge­wehr­feu­er ist?! Lie­ber Herr Sei­den­zopf, neh­men Sie den Mann wie­der mit. Ich habe hier kei­ne Schreib­schu­le. Aus­ge­bil­de­te Kräf­te brau­che ich. Ich dik­tie­re: Be­zug neh­mend auf Ihr Wer­tes vom 3. cur­ren­tis … O Gott, o Gott, o Gott …«

»Lie­ber Freund Jauch …! Mei­ne Her­ren, ich bit­te Sie, ge­hen Sie erst ein­mal in die Schreib­stu­be, se­hen Sie sich da um. – Also hö­ren Sie, lie­ber Jauch, Herr Pas­tor Mar­ce­tus wünscht …«

»Was für ein Schwein!« flüs­tert Ku­falt atem­los.

»Lass dich doch nur nicht aus der Ruhe brin­gen, du warst ja ganz ner­vös.«

»Wenn der Kerl ewig me­ckert!«

»Lass ihn doch me­ckern, brauchst ja nicht hin­zu­hö­ren.«

 

Sie se­hen sich um.

Ei­gent­lich ist es ge­nau das­sel­be wie in der Ap­fel­stra­ße. Nur et­was grö­ßer: nicht zehn, son­dern zwan­zig Ma­schi­nen, nicht zehn, son­dern zwan­zig Schrei­ber.

Die Tür zu ei­nem Ne­ben­zim­mer öff­net sich. Ein Mäd­chen­kopf er­scheint, dann noch ei­ner. Sie be­trach­ten un­ge­niert die bei­den Neu­lin­ge und ver­schwin­den wie­der.

»Die Zib­ben sind neu­gie­rig«, flüs­tert Maack.

»Sind die auch wie wir?«

»I wo. Das sind ganz fei­ne, mit un­serei­nem spre­chen die über­haupt kein Wort. Die sind fest en­ga­giert, die Wei­ber, zum Be­die­nen der Ver­viel­fäl­ti­gungs­ma­schi­nen. So was kann man Vor­be­straf­ten ja doch nicht an­ver­trau­en.«

Die Tür zum Chef­bü­ro öff­net sich.

Sei­den­zopf geht has­tig. »Also le­ben Sie wohl, mei­ne jun­gen Freun­de.«

Dann nach ei­ner Wei­le kommt Herr Jauch, sehr mür­risch.

»Das ist Ihre Ma­schi­ne. Und das Ihre. Ar­beit habe ich heu­te nicht für Sie. Se­hen Sie sich die Ma­schi­nen an. Sie, Sie kön­nen das große S üben. So was von Schrei­be­rei habe ich noch nicht ge­se­hen! – Hö­ren Sie mal, wenn ich mit Ih­nen spre­che, se­hen Sie nicht die Ma­schi­ne an, dann se­hen Sie mich an, ja? Was ist das für eine Schrift auf die­ser Kar­te?«

»Ver­viel­fäl­tig­te Schreib­ma­schi­nen­schrift«, sagt Ku­falt nach ei­ni­gem Über­le­gen.

»O Gott, o Gott, himm­li­scher Herr, mit so was soll man nun ar­bei­ten! Vio­let­te Schrift ist das! Die Far­be ist vio­lett, ja?«

»Ja.«

»Na, gott­lob, ich dach­te schon, Sie wür­den sa­gen, sie wäre grün.«

Herr Jauch me­ckert, und im Saal an den Schreib­ma­schi­nen he­ben sich da und dort Köp­fe und me­ckern nach. Maack sieht um­her und merkt sich die Köp­fe, die ge­senkt blei­ben.

Jauch fährt fort: »Dort ist ein Kas­ten. Se­hen Sie den schwar­zen Kas­ten dort?«

»Ja.«

»In dem sind Farb­bän­der. Sie su­chen sich da für Ihre Ma­schi­ne ein vio­let­tes Farb­band aus, nicht grün, wer­ter Herr (wür­den Sie auch kaum fin­den). Vio­lett, das ge­nau zu die­ser Schrift passt. Aber ge­nau! Ganz ge­nau! Das­sel­be Vio­lett. Auf einen Zehn­tel Grad ge­nau. Ver­stan­den?«

»Ja.«

»Also ma­chen Sie das.«

Jauch ver­schwin­det, die bei­den su­chen im Kas­ten.

»Ha­ben Sie ’ne Ah­nung, was ein Zehn­tel Grad Far­be ist?«

»Kei­nen Schim­mer. Na, Sie krie­gen es nicht gut hier. Der hat Sie ge­fres­sen vom ers­ten Au­gen­blick an. Ich wer­de es umso bes­ser ha­ben. Neh­men Sie die­ses Farb­band. Das stimmt am bes­ten. Ich neh­me das an­de­re. So, nun wol­len wir un­se­re Ma­schi­nen ver­su­chen.«