Hans Fallada – Gesammelte Werke

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12

Er muss sehr fest ge­schla­fen ha­ben. Als er auf­wacht, sieht er, dass – mit dem Rücken ge­gen ihn – eine kur­ze fet­te Ge­stalt an sei­nem Schränk­chen steht, in Uni­form, mit ei­nem di­cken, kurz­ge­scho­re­nen Schä­del dar­über: der Haupt­wacht­meis­ter Rusch.

Er hat das Ge­sang­buch in der Hand. Nun fasst er es bei bei­den De­ckeln, schüt­telt es – und nichts fällt zur Erde. Dann schaut Rusch durch die Rücken­höh­lung.

Er legt das Ge­sang­buch in den Schrank zu­rück und kriegt die Bi­bel vor.

Ku­falt denkt: Such du nur! und bleibt lie­gen, mit of­fe­nen Au­gen.

Der Haupt­wacht­meis­ter schließt die Schrank­tür und geht an den Tisch. Er macht eine tie­fe Knie­beu­ge und sieht un­ter die Tisch­plat­te. Als er sich wie­der auf­rich­ten will, be­geg­net sein Blick dem des Ge­fan­ge­nen. Aber der Haupt­wacht­meis­ter hat sich in der Ge­walt. Er geht ge­gen das Bett. »Schla­fen! Schla­fen! Hel­ler Tag! Ar­bei­ten!«

»Die ha­ben mir ja die Ar­beit fort­ge­holt«, sagt Ku­falt.

»Scheu­ern! Rein­ma­chen! Wie­nern! Tisch­plat­te ist ganz schie­tig! Dr­un­ter! Dr­un­ter!«

»Mach ich, Herr Haupt­wacht­meis­ter. Mach ich, mach den Tisch auch von un­ten rei­ne!« sagt Ku­falt und eilt zum Tisch.

»Halt! Wann ha­ben Sie Post ge­habt?«

»Wann …? Ja, das ist lan­ge her, Herr Haupt­wacht­meis­ter. War­ten Sie …«

»Heu­te kei­nen Brief be­kom­men?«

»Nee. Ist ein Brief für mich da? Au fein, der ist von mei­nem Schwa­ger, der schickt Geld.«

»So!!!« sagt der Haupt­wacht­meis­ter, be­trach­tet sich noch ein­mal sei­nen Ge­fan­ge­nen und murrt: »Wie­nern! Scheu­ern! Rein­ma­chen! Bett hoch­ma­chen!« Und geht aus der Zel­le.

»Und mein Brief?« ruft Ku­falt, aber der Haupt­wacht­meis­ter ist schon fort.

So stürzt er sich wirk­lich über den Tisch, er hat noch nie dar­an ge­dacht, dass man den auch von un­ten rein­ma­chen könn­te. Und als er da­mit fer­tig ist, hängt er sein Schränk­chen ab und scheu­ert die Rück­wand.

Er ist ge­ra­de da­bei, als er merkt, dass ein un­ge­wohn­ter Lärm durchs Haus geht. In al­len Sta­tio­nen wird Zel­le um Zel­le auf­ge­schlos­sen, et­was hin­ein­ge­ru­fen – Ku­falt springt auf und lauscht. Aber er ver­steht nicht, bis er das Wort »Brief« hört, dann »falscher«, er grinst.

Nä­her und nä­her kommt sei­ner Zel­le das Geras­sel, nun sind sie in der Zel­le ne­ben­an, und nun …

Sei­ne Tür geht auf, ein Wacht­meis­ter steckt den Kopf rein. »Ist hier ein falscher Brief … ach so, Sie sind das, Ku­falt, nee, ist schon al­les in Ord­nung.«

»Was ist denn los, Herr Wacht­meis­ter?«

Der ist schon wei­ter.

Als Ku­falt aber sei­nen Schrank sau­ber hat, stellt sich die Not­wen­dig­keit her­aus, den Zel­len­bo­den neu zu wie­nern. Er hat stramm zu tun. Der Bau ist voll von den lei­sen, ge­dämpf­ten Tag­ge­räuschen, die Ei­sen­stan­ge ei­nes Net­ze­strickers klirrt, ein Kü­bel­de­ckel klap­pert, ei­ner fängt an zu pfei­fen und bricht rasch ab, ein paar Rol­len Strick­garn wer­den vor ei­ner Nach­bar­zel­le ab­ge­wor­fen. Von der hoch­ste­hen­den Son­ne wird sei­ne Zel­le ganz hell.

Neu­gie­rig bin ich doch, was die tun wer­den.

Es ist schon bald Abendes­sens­zeit, also nach fünf, als sei­ne Zel­len­tür sich wie­der öff­net. Drei Mann hoch tre­ten sie ein: Po­li­zei­in­spek­tor, Pfar­rer und Haupt­wacht­meis­ter. Die Tür wird sorg­sam an­ge­zo­gen. Ku­falt stellt sich un­ter das Fens­ter mit dem Ge­sicht ge­gen die Be­am­ten und war­tet.

Der Pfar­rer spricht zu­erst: »Ku­falt, hö­ren Sie. Es ist da ein Ver­se­hen vor­ge­kom­men, es wird sich noch auf­klä­ren. Heu­te ist ein Brief ein­ge­gan­gen für Sie …«

»Ja, ich weiß. Herr Haupt­wacht­meis­ter hat mir schon ge­sagt. Von mei­nem Schwa­ger, mit Geld.«

»Hab nichts ge­sagt«, grollt der Haupt­wacht­meis­ter. »Lügst. Gar nichts. Sie ha­ben’s ge­sagt.«

»Nein, nicht mit Geld, mein lie­ber jun­ger Freund. Es war – ein Schlüs­sel dar­in.«

»So?« fragt Ku­falt ge­dehnt. »Darf ich den Brief ha­ben …?«

»Das ist es eben. Der Brief ist ver­legt. Er wird sich wie­der an­fin­den. Aber Sie ge­hen mor­gen schon ab …«

»Ver­legt?« fragt Ku­falt. »Hier ver­schwin­det doch nichts? Wa­rum soll ich das Geld nicht ha­ben? Herr Po­li­zei­in­spek­tor, der Di­rek­tor hat auch an­ge­ord­net, dass ich mei­ne Ar­beits­be­loh­nung voll aus­be­zahlt be­kom­me, und die von der Ab­fer­ti­gung wol­len mir nur sechs Mark ge­ben. Das ist doch un­ge­recht. Wenn Herr Di­rek­tor es an­ord­net …«

»Nun, nun, Ku­falt, im­mer ru­hig! Dar­über lie­ße sich viel­leicht re­den. Aber …«

»Aber das Geld von mei­nem Schwa­ger, das ist mein Geld! Das müs­sen Sie mir aus­hän­di­gen. Wa­rum wol­len Sie mir den Brief nicht ge­ben …?«

»Ku­falt«, sagt der Haupt­wacht­meis­ter, »mach kei­nen Quatsch! Es ist kein Geld dar­in ge­we­sen. Der Pas­tor weiß es be­stimmt. Der Brief ist mir weg­ge­kom­men.«

»Ich hat­te Ihren Brief ge­ra­de ge­le­sen«, sagt nun wie­der der Pas­tor. »Ihr Schwa­ger schrieb Ih­nen gar nicht selbst, er ließ Ih­nen durch sei­nen Pro­ku­ris­ten sa­gen, er könn­te Ih­nen nicht hel­fen. Und Geld woll­te er Ih­nen auch nicht ge­ben, Sie hät­ten ja Ihre Ar­beits­be­loh­nung …«

»Die soll ich ja auch nicht krie­gen!«

»Aber Ihr Schwa­ger schickt Ih­nen einen Teil Ih­rer Sa­chen. Das an­de­re kön­nen Sie spä­ter ha­ben.«

»Ich hab mich er­kun­digt, Ku­falt. Ihr Kof­fer ist schon da. Sie kön­nen ihn aus­nahms­wei­se heu­te nach Ein­schluss ein­se­hen, wir las­sen ihn in Ih­rer Ge­gen­wart auf­ma­chen. Der Haus­va­ter bleibt ex­tra Ihret­we­gen hier.« Der Po­li­zei­in­spek­tor ist so sanft …

»Ku­falt«, sagt der Haupt­wacht­meis­ter, »der Brief ist wirk­lich weg. Wenn Sie dar­auf be­ste­hen, muss der Po­li­zei­in­spek­tor eine Mel­dung schrei­ben, und ich bin haft­bar.«

Der Po­li­zei­in­spek­tor sagt: »Sie sind doch ein Mann von Bil­dung und Ver­stand, Ku­falt. Wa­rum wol­len Sie dem Herrn Rusch Schwie­rig­kei­ten ma­chen? Ver­se­hen kom­men über­all vor.«

Ku­falt sieht sich die drei an. Er sagt: »Und wie mir beim Ba­den mei­ne St­rümp­fe ge­klaut wur­den, da krieg­te ich drei Tage Ent­zie­hung der war­men Kost und muss­te sie von mei­ner Ar­beits­be­loh­nung be­zah­len, nicht? Das ha­ben Sie da­mals an­ge­ord­net, Herr In­spek­tor! Wa­rum soll denn der Rusch ohne Stra­fe aus­ge­hen, wenn er sich Brie­fe klau­en lässt?«

Alle drei sind bei dem nack­ten »Rusch« zu­sam­men­ge­zuckt.

Dann sagt der Pas­tor: »Man muss auch ver­zei­hen kön­nen, lie­ber Ku­falt. Sie wer­den auch Feh­ler ma­chen und der Ver­zei­hung be­dür­fen.«

Aber nun ist es bei Ku­falt alle. Er schreit wü­tend: »Ge­hen Sie raus aus mei­ner Zel­le, Herr Pas­tor! Ge­hen Sie raus! Ich schlag al­les in den Klump. Und Sie, Herr In­spek­tor, ge­hen Sie auch raus!«

»Ich fin­de, Sie wer­den un­ver­schämt …«, bricht der In­spek­tor los.

Und der Pas­tor: »Schä­men Sie sich, Ku­falt …«

Aber Rusch ist ener­gisch: »Bit­te doch, bit­te!«

Sie ge­hen. Ge­hen mit bö­sen Bli­cken. Und sind weg.

Ku­falt steht da und sieht die Tür an. Er ist im­mer noch wü­tend, er hat rot ge­se­hen, er sagt has­tig: »Wa­rum brin­gen Sie die mit, Herr Haupt­wacht­meis­ter? Sol­che Lüg­ner wie die. Das macht mich wild, wenn ich die Schlei­cher nur sehe! – Sie ha­ben mir nie was vor­ge­macht, Herr Haupt­wacht­meis­ter, ver­spre­chen Sie mir, dass ich mor­gen mei­ne Ar­beits­be­loh­nung voll aus­be­zahlt krie­ge?«

»Ver­sprech ich dir, Ku­falt.«

»Ge­ben Sie den Zet­tel her, ich un­ter­schrei­be, dass ich den Brief be­kom­men habe.«

Der Haupt­wacht­meis­ter gibt den Zet­tel nicht her, er denkt nach.

»Wo­her wis­sen Sie denn, dass es ein Ein­schrei­be­brief war, Ku­falt?«

»Na, mein Schwa­ger wird doch einen Schlüs­sel nicht in ei­nem ein­fa­chen Brief schi­cken!«

Rusch denkt im­mer noch nach.

Ku­falt setzt fort: »Wo so­gar Ein­schrei­be­brie­fe ver­schwin­den …?«

Der Haupt­wacht­meis­ter zieht den Zet­tel aus der Ta­sche. »Ku­falt, bist en Aas. Na, un­ter­schreib schon. Kriegst dein Geld – trotz­dem.«

13

Es ist am Vor­mit­tag des an­de­ren Ta­ges, ge­gen elf Uhr.

Ku­falt steht in der Ab­gangs­zel­le. Sein Hand­kof­fer, der von Schwa­ger Pau­se nach­ge­sand­te große Hand­kof­fer, ne­ben ihm. Er steht und war­tet.

Die Zeit kriecht, nichts kann er tun. Er hat Bü­cher im Kof­fer, aber wer kann jetzt le­sen? In zwei Stun­den sind fünf Jah­re her­um, in zwei Stun­den ist er ein frei­er Mensch, kann hin­ge­hen, wo­hin er will, kann spre­chen, zu wem er mag, kann mit ei­nem Mäd­chen aus­ge­hen, Wein trin­ken, sich ins Kino set­zen … nein, es ist im­mer noch nicht vor­stell­bar … er ist im­mer noch so ge­fan­gen …

Kei­ne Glo­cke mehr mor­gens. Kein Pen­sum mehr zu stri­cken. Kei­ne Ge­häs­sig­kei­ten mehr mit an­de­ren Ge­fan­ge­nen. Kein Papps des Mit­tags. Kein Zel­len­wie­nern. Kei­ne Sor­ge, ob der Ta­bak auch reicht. Kein Wacht­meis­ter, kein stin­ken­der Kü­bel, kei­ne schlott­ri­ge Kluft … es ist nicht aus­zu­den­ken.

Wie fest der An­zug sitzt! Im Bauch so­gar zu stramm, trotz­dem er Wes­ten- und Ho­sen­schnal­len auf­hat, er hat einen Bauch ge­kriegt von der Was­ser­kost. Es hat Zei­ten ge­ge­ben, wo er mit­tags zwei Li­ter Es­sen und dann noch einen Schlag ver­drückt hat. Auf dem Bauch hat er eine Uhr, sei­ne sil­ber­ne Kon­fir­ma­ti­ons­uhr. Sie zeigt die Zeit, es ist elf Uhr acht­zehn.

Die an­de­ren sind schon über vier Stun­den drau­ßen, schön dumm ist er ge­we­sen, dass er nicht auch das noch her­aus­ge­presst hat aus Rusch. Die sind weg – und der Bas­tel, der Haus­va­ter­kal­fak­tor, hat ihm beim Ein­klei­den er­zählt, dass auch Se­the weg ist. Gleich früh ha­ben sie ihn ge­fragt, ob er die Stra­fe an­nimmt we­gen Be­am­ten­be­lei­di­gung, sonst muss er hier­blei­ben … nun, er hat sie an­ge­nom­men. Er wird Be­wäh­rungs­frist krie­gen. Im­mer­hin … Schwei­ne sind das hier. Schwei­ne. Und alle wer­den Schwei­ne. Ein Schwein ist auch er ge­we­sen mit dem Brief ges­tern Abend, ein Schwein ist er ge­we­sen mit dem Hun­dert­mark­schein, tau­send­mal ist er ein Schwein ge­we­sen die­se fünf Jah­re. Und was hat es für einen Zweck ge­habt …? An­ders­her­um wäre er auch zur glei­chen Stun­de her­aus­ge­kom­men – aber mit an­de­ren Ge­füh­len.

 

Nun ist es je­den­falls zu Ende. Er wird von nun an ge­nau das tun, was recht ist, er will ru­hig schla­fen kön­nen. Kei­ne Sor­gen mehr ha­ben, nur kei­ne Sor­gen mehr! Wenn er auch den Hun­der­ter mit raus­nimmt. Das ist das letz­te Mal, dass er so was tut.

Ku­falt läuft auf und ab, hin und her. Die Zel­le ist wie­der so hell. Ein herr­li­cher Tag ist drau­ßen. All die­se letz­ten Tage ist die Zel­le im­mer so hell ge­we­sen wie alle Jah­re vor­her nicht. Hof­fent­lich bleibt das Wet­ter gut, wenn er drau­ßen ist …

Nur die­ses Frie­dens­heim … Der In­spek­tor hat zu ge­mein ge­grinst. Je­den­falls krieg­te er nach­her im Tor­haus sein gan­zes Geld, und wür­de es ihm zu dumm im Frie­dens­heim, schmiss er de­nen ein­fach den Kram hin …

Es kratzt an der Tür. Ku­falt ist mit ei­nem Satz da. »Ja?«

»Du! Du bist doch Wil­li?«

»Na, na­tür­lich, kannst du nicht lin­sen?«

»Man er­kennt dich gar nicht mehr in dei­ner fei­nen Scha­le! Ich bin der Kal­fak­tor von dei­ner Sta­ti­on. Hast du die Toi­let­ten­sei­fe in dei­nem Kof­fer?«

»Ja.«

»Lass mir die da, Mensch. Leg sie un­ter den Kü­bel. Ich hol sie mir gleich aus der Zel­le, wenn du raus bist.«

»Mei­net­hal­ben.«

»Aber be­stimmt, Wil­li!«

»Kannst durch den Spi­on se­hen. Ich hol sie gleich raus, siehst du …«

»Du, Wil­li, du hast doch auch Ta­bak? Kannst dir ja gleich wie­der wel­chen kau­fen. Leg ihn hin.«

»Ihr Räu­ber, ihr!«

»Mensch, ich hab noch drei Jah­re Knast.«

»Was ist denn das? Ich habe fünf Jah­re ge­habt und der Bruhn, der heu­te raus­ge­kom­men ist, elf!«

»Au wei! Au wei! Der Bruhn! Das weißt du noch nicht?! Mensch, der gan­ze Bau ist voll da­von!«

»Was denn? Was ist denn mit Bruhn?«

»Der ist schon wie­der drin! Drei Stun­den ist er ge­ra­de drau­ßen ge­we­sen, ist schon wie­der drin!«

»Du spinnst wohl! Das ist ’ne Scheiß­hauspa­ro­le!«

»Wo’s der Haus­va­ter sel­ber er­zählt hat! Wie die raus­ge­kom­men sind, heu­te früh, sind sie gleich sau­fen ge­gan­gen. Nur der Se­the ist mit der Bahn ab­ge­fah­ren. Und ei­ner hat ge­wusst, wo Mäd­chen sind. Da sind sie zu de­nen ins Haus ge­gan­gen. Aber die Wei­ber ha­ben noch ge­schla­fen und ha­ben den be­sof­fe­nen Kerls nicht auf­ma­chen wol­len. Die ha­ben Krach ge­schla­gen, der Haus­wirt ist ge­kom­men und hat sie aus dem Haus ge­wie­sen. Da ha­ben sie den Haus­wirt die Trep­pe run­ter­ge­schmis­sen, aus sei­nem ei­ge­nen Haus raus­ge­schmis­sen! Und wie der Wirt wie­der zu­rück­ge­kom­men ist mit Po­li­zei, sind die Jun­gens doch drin bei den Wei­bern ge­we­sen! Ha­ben die ge­schri­en, wie die Po­len­te kam, die hät­ten’s mit Ge­walt ge­macht, die Tür hät­ten sie auf­ge­bro­chen – na, dass die Hun­ger ge­habt ha­ben, die Jun­gen, das ist doch si­cher! Und jetzt sit­zen sie alle im Va­ter Phil­ipp! Heu­te Nach­mit­tag kom­men sie ins Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis, sagt der Haus­va­ter.«

»Glau­be ich nicht! Glau­be ich nie im Le­ben! Wenn’s alle ma­chen, ver­ste­hen kann man es ja, aber nicht der Emil Bruhn! Der nicht!«

»Di­cke Luft! Rusch!!«

Ku­falt springt vom Spi­on fort, ans Fens­ter. Drau­ßen hört er den Haupt­wacht­meis­ter hin­ter dem Kal­fak­tor her schimp­fen.

Ja, es ist doch mög­lich! denkt Ku­falt. Emil Bruhn, so ein ar­mes Aas! Im­mer sol­che muss es tref­fen. Im­mer still ge­we­sen, nie hat er ’ne Stan­ge an­ge­ge­ben, all die elf Jah­re nicht – dich ha­ben sie fein an­ge­schis­sen mit dei­ner Freu­de aufs Raus­kom­men! Und wenn du auch nur ein paar Wo­chen Knast kriegst, die Be­wäh­rungs­frist ist doch ver­fal­len, und du fängst noch ein­mal von vor­ne an.

Er hat Angst, der Wil­li Ku­falt, er fühlt, ihm kann es auch so ge­hen. Kei­ner kann so auf sich auf­pas­sen, der raus­kommt aus dem Bau, ir­gend­wie ist ihm ein Bein ge­stellt …

Wer ein­mal aus dem Blech­napf frisst, frisst im­mer wie­der dar­aus!

Ku­falt be­sinnt sich. Er nimmt das Heft von der Wand, das blaue Heft mit dem Aus­zug aus der Straf­voll­zugs­ord­nung. Er blät­tert nur einen Au­gen­blick, dann liest er:

»Bei dem Voll­zu­ge der Stra­fen sind mit der Zu­fü­gung des Stra­fü­bels und mit der Auf­recht­er­hal­tung von Zucht und Ord­nung geis­ti­ge und sitt­li­che He­bung, Er­hal­tung der Ge­sund­heit und Ar­beits­kraft an­zu­stre­ben. Auf Er­zie­hung zu ei­nem ge­ord­ne­ten, ge­setz­mä­ßi­gen Le­ben nach der Ent­las­sung ist be­son­ders hin­zu­wir­ken. Das Ehr­ge­fühl ist zu scho­nen und zu stär­ken.«

Ku­falt schlägt das Heft wie­der zu. Na also, denkt er. Dann ist ja al­les in schöns­ter But­ter. Klappt der La­den. Al­les rich­tig, wie es ist. Was so ’ne Leu­te sich bei so was den­ken …

14

Es ist drei­zehn Uhr fünf­zehn, Ku­falt steht da mit der Uhr in der Hand. Er war­tet. Sein Herz klopft sehr. Schrit­te kom­men, nä­hern sich, ge­hen an sei­ner Zel­le vor­bei. Wenn die mich ver­ges­sen, die Lum­pen …! Wenn die mich aus Schi­ka­ne drei Mi­nu­ten län­ger war­ten las­sen …!

Schrit­te kom­men, nä­hern sich, ma­chen vor sei­ner Zel­le halt. Pa­pier ra­schelt. Dann wird der Schlüs­sel ins Loch ge­sto­ßen, der Rie­gel geht zu­rück, und Ober­wacht­meis­ter Fe­der sagt ge­lang­weilt: »Na, denn kom­men Sie man mit Ihren sie­ben Zwetsch­gen, Ku­falt!«

Er geht, er sieht noch ein­mal zu­rück, ge­gen den Glas­kas­ten, die Zen­tra­le. Da ist der große Bau mit sei­nen sie­ben­hun­dert Zel­len, er ist hier zu Haus ge­we­sen, Jahr um Jahr, vie­le Jah­re zu Hau­se. Um die Ecke späht sein Sta­ti­ons­kal­fak­tor, ob er schon in die Zel­le rein kann. Er nickt ihm zu.

Dann durch den Keller­gang beim Haus­va­ter vor­bei. Hier ist al­les still. Ku­falt fällt et­was ein. »Ist das wahr, Herr Ober­wacht­meis­ter, mit Bruhn? Dass der schon wie­der sitzt?«

»Habe was ge­hört, kann aber auch ’ne Scheiß­hauspa­ro­le sein.«

»Hier ist er noch nicht wie­der?«

»Nee, kann er auch nicht. Muss doch erst zum Rich­ter, der Haft­be­fehl er­lässt.«

Sie kom­men über den Vor­hof. Im Tor­ge­bäu­de steht Ober­wacht­meis­ter Pe­trow.

»Na, komm, mein Sohn. Komm, vie­le Pi­nun­se kriegst du.«

In der Wach­stu­be quit­tiert Ku­falt.

»Steck sie gut weg, dei­ne Pi­nun­se, wirst du brau­chen. War­te, Schei­ne in Geld­ta­sche. So. Hast du schö­ne Ta­sche. Dass sie im­mer voll ist! Und hier in Por­teh1 Sil­ber und hier Mes­sing und hier Kup­fer. Und nun komm, mein Jung.«

Sie ste­hen un­ter dem Tor­bo­gen. Pe­trow schiebt Rie­gel um Rie­gel zu­rück. Dann nimmt er den Schlüs­sel.

»Musst du jetzt los­lau­fen, ohne Um­se­hen. Musst nicht wie­der rück­se­hen auf Kitt­chen. Spuck ich dich drei­mal in Rücken, musst du nicht ab­wi­schen, ist gut da­für, dass du nicht wie­der­kommst. – Hau ab, mein Sohn!«

Das Tor geht auf. Ku­falt sieht vor sich einen großen be­sonn­ten Platz in grel­ler Son­ne. Der Ra­sen ist grün. Die Kas­ta­ni­en blü­hen. Men­schen ge­hen drü­ben, Frau­en in hel­len Klei­dern.

Er geht lang­sam und vor­sich­tig hin­aus ins Licht.

Nein, er sieht sich nicht um.

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DRITTES KAPITEL – Friedensheim

1

Ers­tens hat­te Pe­trow viel zu doll auf den Man­tel ge­spuckt; Ku­falt hat­te das Ge­fühl, alle Leu­te lach­ten. So hing er den Man­tel über den Arm, die Pla­cken ver­wisch­ten sich nun zwar, aber das galt nicht: Er kam doch nicht wie­der rein!

Zwei­tens hat­te er vom Zug auf die Stadt zu­rück­ge­schaut, da sah er plötz­lich zwi­schen den Häu­sern noch ein­mal die grau­en, stei­len Ze­ment­wän­de mit ih­ren vie­len Git­ter­lö­chern – auch das galt nicht, denn jetzt fuhr er dem Bun­ker fort: Er kam doch nicht wie­der rein!

Wenn er es aber recht über­dach­te, jetzt im Zug, so hat­te er doch schon Ver­schie­de­nes ganz ver­kehrt ge­macht. Ein­mal hat­te er sich eine Au­to­drosch­ke ge­nom­men zum Bahn­hof, weil ihn die Leu­te so an­sa­hen, er konn­te es nicht ver­tra­gen, dass sie ihn so an­sa­hen. Und dann hat­te er auf dem Bahn­hof zu Mit­tag ge­ges­sen, wo er doch im Kitt­chen sei­nen Rum­futsch hat­te ste­hen­las­sen. Und dann zehn Zi­ga­ret­ten zu sechs, die Sor­te vom Di­rek­tor. Und dann eine Zei­tung. Und dann, was das schlimms­te war, zum Mit­ta­ges­sen auch noch ein Glas Bier, trotz­dem er dem Al­ko­hol ab­ge­schwo­ren hat­te. Fünf Mark neun­zig völ­lig über­flüs­sig aus­ge­ge­ben, die Ar­beits­be­loh­nung für drei­und­sech­zig Pen­sums. Drei­und­sech­zig Tage hat­te er da­für ste­hen müs­sen und stri­cken, und im An­fang hat­te er zwölf, drei­zehn Stun­den für ein Pen­sum ge­braucht. In zwei Stun­den weg, die Ar­beit von drei­und­sech­zig Ta­gen, es fing ganz nied­lich wie­der an!

Ei­gent­lich hat­te er sie sich et­was an­ders ge­dacht, die Fahrt in die Frei­heit. Da ging es nun durch das som­mer­li­che Land, ge­wiss, es war ganz an­ge­nehm an­zu­se­hen, aber hat­te er Zeit da­für? Er muss­te sich Sor­gen ma­chen, eben­so Sor­gen wie in der Zel­le. Und wie es mit dem Heim wur­de …?

»Kann ei­ner von den Her­ren mir wohl sa­gen, wo ich in Ham­burg aus­stei­gen muss, wenn ich zur Ap­fel­stra­ße will?«

Stil­le – schon fürch­tet Ku­falt, kei­ner wird ant­wor­ten, schon wird ihm zwei­fel­haft, ob er wirk­lich laut ge­fragt hat, da lässt der Herr in der Ecke die Zei­tung sin­ken und sagt: »Ap­fel­stra­ße? Da müs­sen Sie beim Haupt­bahn­hof um­stei­gen. Sie fah­ren dann noch bis Ber­li­ner Tor wei­ter.«

»Er­lau­ben Sie mal«, wi­der­spricht der Herr ne­ben Ku­falt, »das stimmt doch nicht. Da ist doch kei­ne Ap­fel­stra­ße. Wo soll die denn da sein?«

»Na­tür­lich ist sie da. Das ist die bei der Ba­de­an­stalt …«

»Der Herr hat Ih­nen nicht rich­tig Be­scheid ge­sagt«, be­merkt Ku­falts Nach­bar, »Hol­s­ten­stra­ße müs­sen Sie aus­stei­gen. Die Ap­fel­stra­ße ist da gleich …«

Ein klei­ner Di­cker ent­schei­det: »Der Herr hat recht. Und der Herr hat auch recht. Es gibt näm­lich eine Ap­fel­stra­ße in Al­to­na und eine in Ham­burg. Zu wel­cher wol­len Sie denn?«

»Mir ist ge­sagt wor­den, Ham­burg.«

»Dann müs­sen Sie also bis Ber­li­ner Tor fah­ren, Haupt­bahn­hof um­stei­gen.«

Stil­le herrscht.

Plötz­lich fängt Ku­falts Nach­bar neu an: »Wo wol­len Sie denn da hin in der Ap­fel­stra­ße? Man sagt das so hin, Ham­burg, und nach­her ist doch Al­to­na ge­meint.«

»Bit­te, der Herr hat ge­sagt, Ham­burg, also muss er auch Ber­li­ner Tor raus.«

»Ist Ih­nen denn aus­drück­lich ge­sagt wor­den: Ham­burg? Oder nur so hin?«

»Ja, ich weiß doch nicht. Ich will zu Ver­wand­ten.«

»Und wie ha­ben Sie denn ge­schrie­ben an die Ver­wand­ten: Ham­burg oder Al­to­na?«

»Ja – ich habe nie selbst ge­schrie­ben. Das hat je­mand für mich ge­macht – mei­ne Mut­ter.«

Der Nach­bar hat ein pick­li­ges Ge­sicht und blin­zeln­de Au­gen. Au­ßer­dem riecht er schlecht, wenn er sich so nah zu Ku­falt beugt. »Du willst doch – da­hin?« flüs­tert er.

»Wie­so? Wo­hin«, tut Ku­falt.

»Na, Mensch. Ich weiß doch. Und ich rate dir, steig Hol­s­ten­stra­ße aus, da ist es. Sonst tip­pelst du nach­her mit dei­nem Kof­fer durch die gan­ze Stadt.«

»Ja, dan­ke. Ich weiß ja nicht. Ich fah­re zu Ver­wand­ten nach Ham­burg.«

»Wenn du mit de­nen ver­wandt bist …«

Ku­falt ver­flucht sich, dass er dies Ge­spräch ent­fes­selt hat. Sucht nach sei­ner Zei­tung.

»Wenn ich du wäre, ich füh­re ja lie­ber zu den Hal­le­lu­ja­brü­dern in der Stein­stra­ße.«

Ku­falt ent­fal­tet die Zei­tung.

»Da kos­tet es auch nur vier Gro­schen die Nacht.«

 

Ku­falt liest.

»Wenn du willst, ich trag dir dei­nen Kof­fer.«

Ku­falt hört nicht.

»Ich geh dir da­mit nicht über den Harz, ver­stehs­te. Ich trag dir den Kof­fer, und wenn du bis Blan­ke­ne­se tip­pelst.«

Ku­falt steht auf und geht aufs Klo.