Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Aber ich möch­te nicht ger­ne zum Pas­tor.«

»Sei­en Sie kein Tor«, sagt der an­de­re ener­gisch. »Der Pas­tor mel­det Sie an, das ist eine For­ma­li­tät, die eben­so gut der Po­li­zei­in­spek­tor oder der Post­wacht­meis­ter ma­chen könn­te. Zu­fäl­lig macht sie nun mal der Pas­tor.«

»Ich gehe nicht ger­ne zum Pas­tor.«

»Nun schön. Wol­len Sie fünf Mi­nu­ten Unan­nehm­lich­kei­ten beim Pas­tor in Kauf neh­men oder lie­ber ver­sa­cken? Also! Kom­men Sie!«

Der Di­rek­tor ist schon halb auf dem Gang und geht Ku­falt ei­lig vor­aus.

4

Plötz­lich ruft Ku­falt den Di­rek­tor, der schon fast an der Tür des Pas­to­ren­zim­mers ist, an: »Herr Di­rek­tor, bit­te noch was!«

Der Di­rek­tor wen­det sich um. »Ja?«

»Der Bruhn, Herr Di­rek­tor, kommt doch auch über­mor­gen raus. Wenn Sie ein­mal mit ihm re­den könn­ten?«

»Ja?«

»Es ist da was im Busch. Ich glau­be, es ha­ben ihm wel­che Ver­spre­chun­gen ge­macht, und nun soll er an­ge­schis­sen wer­den.«

Der Di­rek­tor über­legt eine Wei­le, er denkt scharf nach, dann fragt er: »Werk­meis­ter?«

Ku­falt sieht den Di­rek­tor an, aber er schweigt.

»Sie wol­len nicht mehr sa­gen?«

Zö­gernd ant­wor­tet Ku­falt: »Seit Se­the ei­gent­lich nicht mehr sehr ger­ne.«

Sie ste­hen sich bei­de ge­gen­über auf dem Bü­ro­gang, Ge­fan­ge­ner und Ge­fäng­nis­di­rek­tor, sie den­ken bei­de an jene Un­ter­re­dung, da der Di­rek­tor dem Ge­fan­ge­nen Hil­fe, Auf­de­ckung ver­sprach. Die Stirn des Di­rek­tors ist dun­kel­rot ge­wor­den. Er sagt be­hut­sam: »Es ist al­les nicht so leicht, Ku­falt. Man muss schus­tern, ewig schus­tern …«

Und plötz­lich rasch ent­schlos­sen: »Also, ich wer­de mit Bruhn re­den, dass er kei­ne Dumm­hei­ten macht.«

Und er geht Ku­falt rasch ins Pas­to­ren­zim­mer vor­an.

»Hier, Herr Pas­tor, brin­ge ich Ih­nen Ku­falt. Er hat ein An­lie­gen an Sie.«

Und zu Ku­falt: »Also las­sen Sie es sich gut ge­hen. Hal­ten Sie die Ohren steif und – al­les Gute!«

Er gibt ihm die Hand, lei­se mur­melt Ku­falt et­was, und der Di­rek­tor ist fort.

Der Pas­tor sagt: »Also, mein lie­ber jun­ger Freund, Sie ha­ben ein An­lie­gen an mich. Spre­chen Sie sich aus, sa­gen Sie mir al­les, was Sie auf dem Her­zen ha­ben.«

Das möch­test du wohl, denkt Ku­falt und schaut mit kaum ver­hoh­le­nem Wi­der­wil­len in das glat­te, wohl­ge­nähr­te Ge­sicht.

Pas­tor Zum­pe ist schnee­weiß von Haar, hat auch einen schö­nen wei­ßen, glat­ten Teint, aber dunkle Au­gen, über de­nen sehr bu­schi­ge und ra­ben­schwar­ze Brau­en sit­zen. Im Kitt­chen geht das Gerücht, die­se Brau­en sei­en nicht echt; je­den Sonn­tag vor der Pre­digt kle­be sie sich der Pas­tor neu an, mit Leim, und zum Be­wei­se, dass dies kein blo­ßes Gerücht sei, füh­ren sei­ne An­hän­ger an, dass manch­mal eine Braue hö­her sit­ze als die an­de­re.

Der Pas­tor sieht den Ge­fan­ge­nen freund­lich an, es ist eine mil­de Freund­lich­keit, et­was ka­nin­chen­haft, aber das hilft nichts: Ku­falt spürt ge­nau, dass er die­sem Mann völ­lig gleich­gül­tig ist.

Der Pas­tor fragt wie­der: »Also wo fehlt es, Ku­falt? Brau­chen wir noch et­was? Ei­nen schö­nen An­zug zur Ent­las­sung? Das kos­tet viel Geld, aber bei Ih­nen lohnt es viel­leicht. Bei Ih­nen ist ja noch Hoff­nung.«

»Dan­ke«, sagt Ku­falt. »Ich will kei­nen An­zug. Aber Herr Di­rek­tor hat mir ge­sagt, ich muss zu Ih­nen we­gen der An­mel­dung für ein Heim mit stel­lungs­lo­sen Kauf­leu­ten. Da­rum bin ich hier.«

»Also Sie wol­len nach Frie­dens­heim? Das ist er­freu­lich. Sehr er­freu­lich. Es ist eine große Ver­güns­ti­gung, wenn man dort auf­ge­nom­men wird, mein lie­ber Ku­falt. Sie le­ben dort – herr­lich, kann ich Ih­nen ver­si­chern. So gu­tes Es­sen. Und rei­zen­de Zim­mer. Und ein ent­zücken­der Ta­ges­raum mit ei­ner vor­züg­li­chen Biblio­thek. Ich bin selbst dort ge­we­sen, al­les habe ich mir an­ge­se­hen. Vor­bild­lich.«

»Und die Ar­beit?« fragt Ku­falt arg­wöh­nisch. »Wie ist denn die?«

»Ach ja«, sagt der Pas­tor über­rascht, »rich­tig, die Her­ren ar­bei­ten. Das ist vor­züg­lich or­ga­ni­siert. Da ist ein großer Raum und sehr viel Schreib­ma­schi­nen, und da sit­zen die Her­ren und schrei­ben. Es sieht so – ge­müt­lich aus.«

»Was ver­dient man denn da?«

»Ja, mein lie­ber jun­ger Freund, wie soll ich Ih­nen das sa­gen? Es ist doch eine Wohl­tä­tig­keit, eine Hil­fe, die Ih­nen ge­leis­tet wird. Aber na­tür­lich wer­den Sie ge­nau be­zahlt. Den Be­trag kann ich Ih­nen nicht sa­gen, aber Sie ver­die­nen si­cher sehr gut.«

»Na schön«, sagt Ku­falt, »wol­len Sie dann mal die An­mel­dung aus­schrei­ben?«

»Ja. Hier sind schon die For­mu­la­re. Wie hei­ßen Sie? Also Ku­falt. Und mit Vor­na­men? Wil­li? Also Wil­helm.«

»Nein, nicht Wil­helm. Wil­li. Ich bin auf den Na­men Wil­li ge­tauft.«

»Wirk­lich? Aber Wil­li ist eine Ver­stüm­me­lung. Nun, las­sen wir es dann also. Wil­li … hmmm … Wil­li. Und wann ge­bo­ren? – Da wer­den Sie ja bald drei­ßig! Es wird Zeit, lie­ber Freund, hohe Zeit. – Und wes­we­gen be­straft? – Un­ter­schla­gung und Ur­kun­den­fäl­schung? Schwe­re? Also Un­ter­schla­gung und schwe­re Ur­kun­den­fäl­schung. Wie lan­ge?«

»Wozu müs­sen die in dem Heim denn das ei­gent­lich wis­sen? Ich den­ke, da­mit ist es nun alle, hab’s ab­ge­ses­sen.«

»Aber die wol­len Ih­nen doch hel­fen, lie­ber Ku­falt. Und wenn man Ih­nen hel­fen will, muss man Sie ken­nen. Wie lan­ge?«

»Fünf Jah­re.«

Der Pas­tor wird im­mer freund­li­cher und sanf­ter, je brum­mi­ger Ku­falt ant­wor­tet. Fast ge­rührt fragt er: »Und die Ehren­rech­te, mein lie­ber Ku­falt? Die bür­ger­li­chen Ehren­rech­te – die ha­ben Sie doch noch?«

»Ja, habe ich noch.«

»Und die lie­ben El­tern? Was ist denn der lie­be Va­ter?«

Ku­falt ver­zwei­felt wirk­lich. Hef­tig sagt er: »Um Got­tes wil­len, Herr Pas­tor, kön­nen Sie da­mit nicht auf­hö­ren? Das macht mich … Was ha­ben denn mei­ne El­tern mit dem Krem­pel zu tun?«

»Lie­ber Ku­falt, sei­en Sie doch ru­hig … Es ist be­stimmt al­les zu Ihrem Bes­ten. Se­hen Sie, man muss doch wis­sen, aus wel­chen Krei­sen Sie stam­men. Ei­nen Ar­bei­ter­sohn kann man na­tür­lich nicht für einen Pri­vat­se­kre­tär­pos­ten in fei­nem Hau­se emp­feh­len. Nicht wahr? Also, was ist der lie­be Herr Va­ter?«

»Tot.«

Der Pas­tor ist im­mer noch nicht ganz zu­frie­den, aber er lässt es auf sich be­ru­hen. »Soso. – Aber die Mut­ter, die lebt noch, nicht wahr? Die ist Ih­nen noch ge­blie­ben?«

»Herr Pas­tor«, sagt Ku­falt und steht auf, »ich bit­te, mir die Fra­gen kurz und knapp, wie sie dort vor­ge­druckt sind, vor­zu­le­sen!«

»Aber, mein lie­ber jun­ger Freund, was ha­ben wir denn? Ich ver­ste­he Sie nicht. Ja, doch, doch, ich weiß, es ist eine wun­de Stel­le, wenn man mit sei­nen Nächs­ten aus­ein­an­der ist. Da­ran darf nicht ge­rührt wer­den. Aber sie schreibt Ih­nen doch, Ihre Mut­ter, sie schreibt doch?«

»Nein, sie schreibt nicht!« schreit Ku­falt. »Und das wis­sen Sie ganz gut. Sie le­sen ja die Brie­fe, Sie ha­ben ja die Zen­sur.«

»Aber, mein lie­ber jun­ger Freund, dann müs­sen Sie hin­fah­ren! Zu Ih­rer Mut­ter! Dann dür­fen Sie nicht nach Frie­dens­heim. Dann fah­ren Sie hin zu Ih­rer Mut­ter, si­cher ver­zeiht sie Ih­nen!«

»Herr Pas­tor«, fragt Ku­falt kalt ent­schlos­sen, »was ist es mit dem Blu­men­strauß?«

Pas­tor Zum­pe ist wirk­lich ver­blüfft. In ei­ner ganz an­de­ren Ton­art, völ­lig ohne Sanft­heit, fragt er: »Mit dem Blu­men­strauß? Mit wel­chem Blu­men­strauß?«

»Ja, mit wel­chem Blu­men­strauß wohl?!« höhnt Ku­falt jetzt ganz of­fen. »Was ist mit Ihrem Blu­men­strauß, den Sie drei Wo­chen nach Weih­nach­ten dem schwind­süch­ti­gen Siem­sen in die Zel­le ge­bracht ha­ben? Was ist mit der An­zei­ge von Siem­sen ge­wor­den, die er ge­gen Sie an den Straf­voll­zugs­prä­si­den­ten ge­schrie­ben hat? Ist die in Ihren Pa­pier­korb ge­kom­men?«

Und Ku­falt sieht sich wild im Zim­mer nach dem Pa­pier­korb um, als könn­te die An­zei­ge heu­te, ein Vier­tel­jahr spä­ter, noch drin lie­gen.

Der Pas­tor ist er­schüt­tert. »Aber, mein lie­ber jun­ger Freund, so be­ru­hi­gen Sie sich doch! So et­was muss Ih­nen ja scha­den. Sie sind ei­nem Irr­tum zum Op­fer ge­fal­len, ei­nem je­ner häss­li­chen Gerüch­te … Wenn ich dem kran­ken Ge­fan­ge­nen Siem­sen einen Blu­men­strauß ge­bracht habe, so dar­um, um ihm eine Freu­de zu ma­chen, aber doch nie …«

Über­wäl­tigt bricht der Pas­tor ab.

»Sie ha­ben, Herr Pas­tor Zum­pe«, sagt Ku­falt wild, »dem Siem­sen wie sei­ner Frau zu Weih­nach­ten zehn Zent­ner Bri­ketts und ein Le­bens­mit­tel­pa­ket ver­spro­chen für sei­ne Fa­mi­lie. Das war von der Ge­fan­ge­nen­für­sor­ge be­wil­ligt. Die Frau hat ge­war­tet und ge­war­tet mit den Kin­dern. Sie ha­ben es ein­fach ver­ges­sen. Und als die Frau dann zu Ih­nen ge­kom­men ist, ha­ben Sie sich ver­leug­nen las­sen. Und als Sie von ihr auf der Stra­ße an­ge­spro­chen wor­den sind, ha­ben Sie ge­sagt, sie soll Sie zu­frie­den­las­sen, es sind kei­ne Mit­tel mehr da. – Das ist so, Herr Pas­tor, das wis­sen alle Ge­fan­ge­nen im Bau, und die Be­am­ten wis­sen es auch.«

»Hö­ren Sie mal«, ruft der Pas­tor wü­tend, »das ist al­les nicht wahr, Ent­stel­lun­gen sind das, Ver­leum­dun­gen. Wis­sen Sie, dass ich Sie we­gen Be­am­ten­be­lei­di­gung an­zei­gen kann? Die Siem­sen ist eine zwei­fel­haf­te Per­son, sie lässt sich mit an­de­ren Män­nern ein, ei­ner Un­ter­stüt­zung ist sie gar nicht wür­dig!«

»Wahr­schein­lich soll sie ihre Gö­ren ver­hun­gern las­sen, statt auf den Strich zu ge­hen! – Und wie ist es denn, Herr Pas­tor, sind Sie nicht an dem Tage zu Siem­sen mit Ihrem Blu­men­strauß ge­kom­men, als er in sei­ner Wut an den Straf­voll­zugs­prä­si­den­ten ge­schrie­ben hat­te?«

 

»Aus Mit­leid bin ich zu ihm ge­gan­gen. Die An­zei­ge war blo­ßer Un­sinn, denn der Für­sor­ge­ver­ein ist ein pri­va­ter Ve­rein, und für den ist der Herr Prä­si­dent gar nicht zu­stän­dig!«

»Da­rum ha­ben Sie wohl dem Siem­sen gute Wor­te ge­ge­ben, dass er die An­zei­ge zu­rück­nimmt? Und das dum­me Schwein tut’s wirk­lich! Aber ich wer­de sie schrei­ben, wenn ich raus­kom­me, an die Zei­tun­gen wer­de ich den Fall ge­ben …«

»Tun Sie das nur«, sagt der Pas­tor gif­tig. »Sie wer­den ja se­hen, wie weit Sie kom­men. Ich bin vier­zig Jah­re Pas­tor hier, ich habe an­de­re Leu­te wie Sie aus­ge­stan­den. – Ist Ihre Mut­ter in der Lage, Sie zu er­näh­ren?«

»Nein.«

»Wel­cher Re­li­gi­on sind Sie?«

»Noch evan­ge­lisch. Aber ich tre­te so rasch wie mög­lich aus.«

»Also evan­ge­lisch. – Was kön­nen Sie?«

»Bü­ro­ar­bei­ten.«

»Wel­che?«

»Alle.«

»Kön­nen Sie spa­ni­sche Ge­schäfts­brie­fe schrei­ben?«

»Nein.«

»Also wel­che Bü­ro­ar­bei­ten kön­nen Sie?«

»Schreib­ma­schi­ne, Ste­no­gra­fie, dop­pel­te, ame­ri­ka­ni­sche und ita­lie­ni­sche Buch­füh­rung, bi­lanz­si­cher. Und so das Üb­li­che.«

»Also nicht spa­nisch. Kön­nen Sie Ver­viel­fäl­ti­gungs­ma­schi­nen be­die­nen?«

»Nein.«

»Falz­ma­schi­nen?«

»Nein.«

»Adres­sier­ma­schi­nen?«

»Nein.«

»Sehr we­nig. So – nun ha­ben Sie hier zu un­ter­schrei­ben.«

Ku­falt über­fliegt den Fra­ge­bo­gen. Plötz­lich stutzt er. »Hier steht, dass ich die Haus­ord­nung an­er­ken­ne. Wo ist denn die?«

»Die Haus­ord­nung ist die Haus­ord­nung. Die müs­sen Sie na­tür­lich an­er­ken­nen.«

»Aber ich muss doch wis­sen, was ich an­er­ken­ne. Darf ich die mal se­hen?«

»Ich habe kei­ne hier. Mein lie­ber Herr Ku­falt, für Sie wird kei­ne ex­tra ge­macht. Der ha­ben sich alle un­ter­wor­fen, also wer­den Sie’s auch müs­sen.«

»Ich un­ter­schrei­be nicht, was ich nicht ken­ne.«

»Ich dach­te, Sie wünsch­ten in das Heim auf­ge­nom­men zu wer­den.«

»Ja, aber die Haus­ord­nung muss ich erst se­hen. Sie ha­ben si­cher eine hier.«

»Ich habe kei­ne hier.«

»Dann kann ich auch nicht un­ter­schrei­ben.«

»Und ich nicht Ihre Auf­nah­me emp­feh­len.«

Ku­falt steht einen Au­gen­blick un­schlüs­sig und be­trach­tet den Pas­tor. Der sitzt am Schreib­tisch und blät­tert in Brie­fen.

»Sie soll­ten die Brie­fe ra­scher zen­sie­ren, Herr Pas­tor«, sagt Ku­falt. »Es ist eine Schwei­ne­rei, wenn die Brie­fe hier zwei Wo­chen lie­gen.«

Der Pas­tor sieht gar nicht erst hoch. »Also Sie un­ter­schrei­ben nicht?«

»Nein«, sagt Ku­falt und geht.

5

Ku­falt sieht sich auf dem Gang um. Drü­ben, bei der Auf­nah­me, ste­hen sechs, acht Mann in Zi­vil, neu ein­ge­lie­fer­te Ge­fan­ge­ne. Bei ih­nen hat Ober­wacht­meis­ter Pe­trow Auf­sicht, der bläst nichts, was ihn nicht brennt. Sonst ist der Gang leer.

Ku­falt geht in der an­de­ren Rich­tung, vom Zel­len­ge­fäng­nis fort, von Pe­trow fort, an all den Bü­rotü­ren vor­bei, bis er zur Trep­pe, die ins Erd­ge­schoss führt, kommt. Dies ist eine Be­am­ten­trep­pe, für Ge­fan­ge­ne nicht zu be­tre­ten, aber er wagt es.

Kei­ner be­geg­net ihm, er steigt nach un­ten, bis in den Kel­ler, und hier stellt sich Ku­falt an eine an­de­re große Ei­sen­tür, die in des Haus­va­ters Reich führt. Der Pas­tor hat ihn auf einen Ge­dan­ken ge­bracht: In wel­chem Zu­stand wird sein An­zug sein?

Fünf Jah­re ist es her, seit er ein­ge­lie­fert wur­de, er ver­sucht ver­geb­lich, sich zu er­in­nern, was er da­mals an­hat­te. Er be­saß da­mals nur, was er auf dem Lei­be trug: An­zug und Win­ter­man­tel und Hut, und dazu in ei­ner Ak­ten­ta­sche ein Nacht­hemd und eine Zahn­bürs­te.

Also wird er auch Wä­sche kau­fen müs­sen. Ehe er noch drau­ßen ist, schwin­det sein Geld, schwin­det. Und wie wird der An­zug aus­se­hen, jetzt nach fünf Jah­ren?

Er steht da an der Ei­sen­tür und sieht kum­mer­voll vor sich hin. Si­cher, es ist mit der Ent­las­sung viel zu schnell ge­kom­men, nichts ist vor­be­rei­tet, vor al­lem ist er nicht vor­be­rei­tet. Nun ist es auch wie­der mit dem Heim nichts ge­wor­den, er wird ein Zim­mer mie­ten müs­sen … We­nigs­tens be­kommt er sein Geld gleich ganz aus­be­zahlt, das hat er beim Di­rek­tor er­reicht, ein, zwei Mo­na­te hat er zu le­ben. Und kann sich auch ein biss­chen was kau­fen. Aber dann …?

Wacht­meis­ter Strehlow kommt. »Nanu, was ste­hen Sie denn hier? Wo ist denn Ihr Wacht­meis­ter?«

»Ich war zur Vor­füh­rung bei Di­rek­tor und Pas­tor. Ich soll zum Haus­va­ter we­gen mei­ner Sa­chen. – Weil ich doch mor­gen raus­kom­me«, fügt er er­läu­ternd zu.

»Lasst euch doch gleich ’nen Schlüs­sel ge­ben, ihr von der drit­ten Stu­fe! Wir sind ja schon ganz über­flüs­sig. Läuft al­lein rum im Bau! Na, es geht so lan­ge, bis ei­nem von uns der Schä­del ein­ge­schla­gen wird, dann wer­den’s die Her­ren am grü­nen Tisch ja ka­piert ha­ben, was sie hier an­rich­ten.«

Aber Strehlow lässt Ku­falt doch durch, schimp­fend, aber er lässt ihn durch, schließt hin­ter ihm wie­der ab und geht die Be­am­ten­trep­pe hin­auf.

Ku­falt ist auf ei­nem lan­gen Keller­gang, rechts und links ste­hen die Tü­ren der Lä­ger auf. Im Vor­bei­ge­hen sieht er Re­gi­men­ter von Ess­schüs­seln auf­mar­schiert, Ar­meen von Kü­beln. Un­ter un­end­li­chen Wä­sche­stö­ßen ha­ben sich die Re­ga­le durch­ge­bo­gen. Im­mer nä­her kommt er der Ab­fer­ti­gung, dort­hin, wo der Haus­va­ter sitzt. Sein Herz klopft stark, nun kommt al­les auf die Stim­mung des Haus­va­ters an.

Der Haus­va­ter ist näm­lich ein fei­ner Kerl, er be­han­delt kei­nen Ge­fan­ge­nen wie einen Ge­fan­ge­nen, son­dern ge­nau­so wie alle an­de­ren Men­schen: gut, wenn er gu­ter Stim­mung, hun­de­mä­ßig, wenn er schlech­ter ist. Und wenn er schlech­ter ist, schmeißt er Ku­falt ein­fach raus und wo­mög­lich gleich in Ar­rest, dass der hier al­lein an­ge­sockt kommt.

Wei­ter ist aber auch wich­tig, wie man es mit der An­re­de hält. Es gibt zwei Par­tei­en im Bun­ker: Die eine be­haup­tet, er will durch­aus »Haupt­wacht­meis­ter« ge­nannt wer­den, die an­de­re schwört auf die An­re­de »Haus­va­ter«.

Ku­falt hat frü­her zur Haupt­wacht­meis­ter­par­tei ge­hört, ist aber, trotz die­ser An­re­de, zwei­mal raus­ge­flo­gen mit sei­nen An­lie­gen. Bei »Haus­va­ter« ist er erst ein­mal an­ge­schnauzt, und das kann nun wirk­lich ge­we­sen sein, weil er Putz­po­ma­de ver­langt hat­te. So was ist ein An­sin­nen, eine Frech­heit, nur den Kal­fak­to­ren, die Be­am­ten­ge­rät zu put­zen ha­ben, steht Putz­po­ma­de zu.

Er nimmt einen An­lauf und lan­det vor dem Haus­va­ter.

»Herr Haus­va­ter, ich kom­me von Herrn Pas­tor. Ich woll­te mal fra­gen, Herr Haus­va­ter, ob mei­ne Sa­chen noch gut sind. Sonst krie­ge ich viel­leicht was von Herrn Pas­tor.«

»Wo kom­men Sie denn al­lein her?« fragt auch der Haus­va­ter zu­erst. »Wo ist denn Ihr Wacht­meis­ter?«

»Ich bin so durch­ge­las­sen«, sagt Ku­falt.

»Wer hat Sie denn durch­ge­las­sen? Der Pas­tor?«

Ku­falt nickt.

»Die­ser elen­de Pfaf­fe!« schimpft der Haus­va­ter. »Da sieht man’s wie­der. Wenn wir mal eine Er­leich­te­rung für die Ge­fan­ge­nen wol­len, dann ist er im­mer da­ge­gen, weil ›Stra­fe Stra­fe blei­ben soll‹, aber er ist zu faul, die zwan­zig Schritt den Gang run­ter­zu­ge­hen. Na war­te, in der nächs­ten Be­am­ten­kon­fe­renz brin­ge ich das aber vor.«

Ku­falt hat an­däch­tig zu­ge­hört. Der Haus­va­ter ist gu­ter Lau­ne, er kann auf die Pfaf­fen schimp­fen, das mag er ger­ne, der Haus­va­ter ist näm­lich rot. Und die nächs­te Be­am­ten­kon­fe­renz ist erst am Diens­tag, dann ist Ku­falt schon längst drau­ßen.

»Was wol­len Sie denn nun ei­gent­lich?« fragt der Haus­va­ter gnä­dig. »’nen An­zug schnor­ren? Ih­rer ist noch ganz gut.«

»Wenn ich ihn ein­mal an­pro­bie­ren dürf­te, Herr Haus­va­ter«, schmei­chelt Ku­falt. »Ich hab hier so ’nen Bauch ge­kriegt von all dem Brei!«

»Nach Bauch se­hen Sie aber nicht aus. Na, mir soll’s recht sein, trotz­dem man dem Pfaf­fen wirk­lich den Ge­fal­len nicht tun soll­te. – Bas­tel, ho­len Sie mal dem Ku­falt sei­ne Sa­chen.« Er blät­tert in dem Re­gis­ter. »Fün­fund­sieb­zig drei­und­sech­zig. – Ist der An­zug vom Schnei­der schon zu­rück?«

»Ja­woll, Herr Haupt­wacht­meis­ter«, schallt es aus dem Ge­wöl­be, und der Haus­va­ter­kal­fak­tor Bas­tel er­scheint mit ei­nem großen Sack, in dem kunst­voll auf ei­nem Bü­gel ge­ord­net sämt­li­che Sa­chen des Ge­fan­ge­nen Ku­falt hän­gen.

»Wart schon«, sagt Bas­tel zu Ku­falt. »Ich nehm dei­ne Kluft lie­ber selbst raus. Du zer­knautschst sie nur.«

Es ist der dun­kelblaue An­zug mit dem wei­ßen Na­del­strei­fen, Ku­falts Herz jauchzt, den hat er höchs­tens fünf- oder sechs­mal an­ge­habt.

»Ein fei­ner An­zug«, sagt auch der Haus­va­ter. »Was ha­ben Sie da­für be­zahlt?«

»Hun­dert­sechs­und­sieb­zig«, sagt Ku­falt aufs Ge­ra­te­wohl.

»Viel zu viel Geld«, sagt der Haus­va­ter. »Höchs­tens neun­zig Mark.«

»Das ist aber auch fast sechs Jah­re her«, gibt Ku­falt zu be­den­ken.

»Da ha­ben Sie recht, da­mals wa­ren An­zü­ge noch teu­er. Heu­te sech­zig, sieb­zig Mark. Es gibt schon wel­che für zwölf und fünf­zehn.«

»So was!« staunt Ku­falt be­reit­wil­lig.

»Nee, Ihre Wä­sche be­hal­ten Sie an. Ihr Ober­hemd ist über­haupt noch nicht von der Plät­te­rin zu­rück, bei der müs­sen wir heu­te Abend ran­ge­hen, Bas­tel. – Ja, fein kommt ihr raus, ihr Jun­gen. Die rei­nen Ka­va­lie­re, an uns lieg­t’s nicht.«

Und da­für ist der Haus­va­ter wirk­lich be­kannt, die Sa­chen hält er tipp­topp, das ist sein Stolz, da darf kein Fä­ser­chen feh­len. Sei­ne Kal­fak­to­ren ha­ben schwe­ren Dienst.

»Gut sieht das aus. Ein ganz an­de­rer Mensch, Ku­falt. – Bas­tel, se­hen Sie sich bloß mal den Ku­falt an …« Er un­ter­bricht sich är­ger­lich: »Was will der Batz­ke hier? Herr Stei­nitz, ich will den Kerl hier un­ten nicht ha­ben, wenn es nicht un­be­dingt sein muss. Der stän­kert nur. Ja, Sie stän­kern, Batz­ke, Sie sind auch jetzt nur zum Stän­kern ge­kom­men.«

»Ich hab ja noch nicht den Mund auf­ge­macht«, sagt Batz­ke und sucht Bas­tel mit den Au­gen. Ku­falt be­ach­tet er gar nicht.

»An­ord­nung vom Di­rek­tor«, sagt Wacht­meis­ter Stei­nitz. »Batz­ke darf sei­ne Sa­chen an­pro­bie­ren. Ob sie noch pas­sen.«

»Hab ich hier ’ne An­klei­de­stu­be? Nächs­tens kommt der gan­ze Bau und pro­biert an. Der Di­rek­tor könn­te auch was Schlau­e­res tun. Hau­en Sie we­nigs­tens ab, Ku­falt. Ihre Schu­he …? Ach was, Ihre Schu­he wer­den schon pas­sen.« Mil­der: »Na, mei­net­hal­ben, pro­bie­ren Sie Ihre Schu­he noch an. Bas­tel, die Sa­chen von Batz­ke, Num­mer vier­und­zwan­zig neun­zehn!«

Bas­tel kommt mit ei­nem neu­en Sack, und Batz­ke flüs­tert has­tig mit Bas­tel, der nickt, dann mit dem Kop­fe wiegt. Aus der Müt­ze, die Batz­ke in der Hand hielt, tau­chen plötz­lich vier Pa­ke­te Ta­bak, ei­nes nach dem an­de­ren, auf und ver­schwin­den in Bas­tels Hän­den.

Bas­tel zieht sich zu­rück, die bei­den Be­am­ten re­den mit­ein­an­der am Fens­ter.

Ku­falt müht sich mit sei­nen Schu­hen. Er kriegt und kriegt sie nicht an, wahr­schein­lich liegt es an den di­cken wol­le­nen So­cken. Und die zi­vi­len St­rümp­fe sind noch in der Wä­sche. Aber so eng wa­ren die Schu­he doch gar nicht! Kann man noch Ende Zwan­zig grö­ße­re Füße krie­gen?

Plötz­lich klingt Batz­kes Stim­me laut und ver­nehm­lich durch den Raum: »Hier ist ein Mot­ten­loch!«

Der Haus­va­ter macht drei Schrit­te. Dann bleibt er ste­hen. »Na­tür­lich, der Batz­ke! Na­tür­lich stän­kern! Ein Mot­ten­loch. Sieb­zehn Jah­re bin ich hier Haus­va­ter, und es hat noch nie ein Mot­ten­loch ge­ge­ben.«

Er kehrt um und geht wie­der ans Fens­ter.

»Und hier ist noch ein Mot­ten­loch. Und hier un­term Auf­schlag al­les zer­fres­sen.«

»Zei­gen Sie her! Ver­rückt sind Sie … Nie hat eine Mot­te …«

»Und es sind doch Mot­ten in mei­nen Sa­chen«, sagt Batz­ke un­er­bitt­lich und sieht gleich­mü­tig den wü­ten­den Haus­va­ter an.

Der zerrt das Jackett ans Licht. »Es ist un­mög­lich … oh, gott­ver­damm­te Hu­re­rei … Bas­tel, ver­fluch­ter Hund, warum hast du mir nicht ge­sagt, dass in Batz­kes Sa­chen die Mot­ten sind?«

 

Bas­tel blickt dumm. »Hab Schiss ge­habt, Herr Haus­va­ter.«

»Und warum ha­ben die Schnei­der nichts ge­sagt?«

»Sind zu fei­ge ge­we­sen, Herr Haus­va­ter, ha­ben Schiss ge­habt.«

»Wa­rum hast du’s nicht zum Kunst­stop­fen ge­ge­ben?«

»Hab ge­dacht, ich krieg­te was auf den De­ckel.«

»Hier in der Hose sind auch Mot­ten­lö­cher«, lässt sich Batz­ke un­ge­rührt ver­neh­men.

»Schwei­ne­rei, ver­fluch­te …! Ich sag­te, die­ser Batz­ke … Nie habe ich Mot­ten ge­habt … Aber es geht nicht mit rech­ten Din­gen zu, Batz­ke, da ist …«

Eine Er­leuch­tung kommt ihm: »Die wa­ren drin, als Sie ka­men! Mit­ge­bracht ha­ben Sie die, Batz­ke!«

»Müss­te im Pro­to­koll ste­hen. Müss­te ich un­ter­schrie­ben ha­ben, Herr Haus­va­ter.«

»Und das ha­ben Sie auch! War­ten Sie!« Der Haus­va­ter reißt Ak­ten aus dem Fach. »Wie lan­ge sind Sie drin? Wann sind Sie auf­ge­nom­men?«

»Wie soll ich das noch wis­sen, Haus­va­ter?« sagt Batz­ke ge­müt­lich. »So oft, wie ich rein- und raus­kom­me. Das steht doch al­les in Ihren di­cken Bü­chern.«

Der Haus­va­ter hat es schon ge­fun­den.

Er liest mit ge­run­zel­ter Braue das Auf­nah­me­pro­to­koll. Er liest es noch ein­mal. Und zum drit­ten Mal. Dann sagt er mit er­zwun­ge­ner Ruhe: »Also, ich lass Ih­nen den An­zug kunst­stop­fen, Batz­ke.«

»Ich hab ’nen hei­len An­zug mit­ge­bracht, Haus­va­ter. Ich will mit ’nem hei­len An­zug wie­der raus. Ein ge­stopf­ter steht mir nicht zu.«

»Das sieht kein Mensch, wenn der ge­stopft wird, Batz­ke. Die Stel­len sind dann fes­ter als die an­de­ren.«

»Brauch kei­ne fes­te­ren Stel­len, Haus­va­ter, ich will ’nen hei­len An­zug.«

»Wo­her soll ich den denn jetzt noch neh­men, Batz­ke? Sei­en Sie ver­nünf­tig. Bis Sonn­tag krie­gen die Schnei­der doch kei­nen fer­tig.«

»Ge­hen wir in die Stadt, Herr Haupt­wacht­meis­ter. Kau­fen wir einen. Ich trag auch Kon­fek­ti­on, Haus­va­ter, ich bin gar nicht so.«

»Und das Geld … Muss ich wahr­haf­tig Ihret­we­gen beim Pfaf­fen bet­teln, dass die Ge­fan­ge­nen­für­sor­ge Geld raus­rückt …! – Was ste­hen Sie hier noch rum, Ku­falt? Wol­len Sie ma­chen, dass Sie tür­men!«

»Mei­ne Schu­he, Herr Haus­va­ter!«

»Was ist mit Ihren Schu­hen, he? In Ihren Schu­hen sind wohl auch die Mot­ten? Ge­hen Sie, Herr Stei­nitz, las­sen Sie den Ku­falt durch. Ein­fach durch­las­sen. Ist ja auch so ge­kom­men, der große Herr!«

»Aber ich kann die Schu­he nicht …«

»Ich kann sie auch nicht …! Him­mel­don­ner­wet­ter, Stei­nitz, neh­men Sie den Kerl mit! Und Sie, Batz­ke, also hö­ren Sie mal …«

Ku­falt ist auf dem Gang. Wacht­meis­ter Stei­nitz lässt ihn ins Zel­len­ge­fäng­nis. »Ge­hen Sie gleich auf Ihre Zel­le, Ku­falt. Nein, vor­her mel­den Sie im Glas­kas­ten beim Haupt­wacht­meis­ter, dass Sie zu­rück sind.«