Am Nachmittag wurde Kufalt plötzlich von einem jähen Arbeitseifer ergriffen. Eigentlich hatte er bloß seine Zelle wienern wollen, aber dann sah er, dass ihm am Netz nur noch gegen zweitausend Knoten zu einem vollen Pensum fehlten, und wenn er sich dranhielt, war das zu schaffen, und er bekam achtzehn Pfennige mehr ausbezahlt bei der Entlassung.
So strickte er denn los auf Deubel komm raus. Ein bisschen schluderig wurde es ja, und gerade bei einem Heringsbelli sah es immer infam aus, wenn die Knoten nicht fest waren. Aber die Hauptsache blieben die achtzehn Pfennige, und wenn der Netzekalfaktor das Netz ordentlich reckte, war es noch zehnmal gut für die ollen Fischdampfer.
Dann ist er mit dem Stricken fertig, setzt sich auf den Fußboden und reibt ihn ein. Auch das muss man weghaben, nur eine Spur Terpentin mit Grafit, sonst bleibt die Erde stumpf und wird nicht blank, soviel man auch mit der Bürste reibt. Zum Schluss macht er »Muster«, das ist augenblicklich die große Mode im Zentralgefängnis: Aus einem Pappdeckel schneidet man sich eine Schablone und bürstet nun den Boden durch die Schablone »gegen den Strich«, dann hat man hell- und dunkelglänzende Muster auf der Erde, Blumen und Sterne und kleine galoppierende Tiere. Es ist das kein Muss, aber es macht Spaß und gefällt dem Auge des Hauptwachtmeisters Rusch und macht sein Herz geneigt für solche Künstler.
Als er auch das fertig hat, geht er ans Putzen des Metalls. Der schwierigste Fall ist die Innenseite des Kübeldeckels, die direkt mit dem Urin und Kot in Berührung kommt, da bildet sich immer ein weißlicher, schleimiger Schimmel. Nun, er hat den Bogen raus, man scheuert das erst mit einem möglichst hartgebrannten Backstein, dann …
Zu Anfang hat es ihn gestört, dass unterdes der offene Kübel dicke Gestankwolken in seine Zelle sendet, jetzt weiß er von so was nichts mehr. Der Kübel stinkt eben, da kann man nichts machen, und er stinkt auch noch lange nach, denn die Zellen sind klein und lüften sich schlecht.
Dann nimmt man etwas Putzpomade …
Aber da geht die Tür zu seiner Zelle auf, und der Netzemeister kommt herein, mit seinem Netzekalfaktor. Doch das ist der Rosenthal nicht mehr, das ist schon wieder ein neues Gesicht.
»Nanu, Meister«, grinst Kufalt und putzt emsig weiter, »haben Sie schon wieder ’nen neuen Kalfaktor? Das geht bei Ihnen ja wie Brezelbacken!«
Der Meister antwortet nicht, sondern sagt zu seinem Gehilfen: »Da, das Netz raus und alles Garn und die Eisenstange und – wo haben Sie Ihr Messer, Kufalt?«
»Liegt im Schrank bei der Bibel. Nee, auf dem Fenster. Habe eben noch das Pensum fertiggestrickt, Meister.«
»Welches Pensum? Wollen Sie nicht den Kübel solange zumachen? Das stinkt hier wie die Pest.«
»Ihre riecht wie Veilchen, was? – Welches Pensum? Das letzte Pensum natürlich. Immer, was unten dranhängt!«
»Sechzehn Pensen haben Sie seit dem Ersten! – Machen Sie jetzt den Kübel zu, ich befehle es Ihnen!«
»Geht nicht, muss den Deckel wienern. Trampeltier du da hinten, heb das Netz gefälligst auf und verschramm mir nicht meinen Boden! Siehste nicht, dass ich frisch gewienert habe?«
Der Gefangene, ein »Studierter«, wie Kufalt gleich gesehen hat, sagt: »Schnauzen Sie mich nicht an, ich verbitte mir das! Und dann sollen Sie den Kübel zumachen, haben Sie ja gehört, das stinkt hier wirklich gemein.«
»Mit dir red ich überhaupt nicht, du hast doch sicher ’ne alte Tante um ihre Spargroschen betrogen?! – Wieso sechzehn, Meister? Jetzt sind’s siebzehn, und die will ich morgen bezahlt haben, sonst kracht’s.«
»Seien Sie nicht so frech, Kufalt«, bittet der Meister förmlich. »Oder ich muss Herrn Hauptwachtmeister rufen.«
Kufalt aber ist in Wut und sagt: »Den ruf du man, mit dem erzähle ich mir gerne was. – Guck nicht so, du Dussel, raus mit dem Netz, raus mit dir aus meiner Zelle! – Wollen Sie mich zum Tort1 um ein Pensum betrügen?«
Der Netzemeister ist ganz verzweifelt. »Sie sind ja reine wild, Kufalt, Sie spinnen ja. Der Arbeitsinspektor hat doch heute früh schon die Pensumlisten von den Entlassenen verlangt! Da kann ich doch nichts mehr ändern, Kufalt. Nehmen Sie schon Vernunft an!«
Kufalt schreit: »Dann mussten Sie’s mir sagen!«
»Sie waren doch beim Arzt.«
»Ganz egal! Denkt ihr, ich schenke euch viertausendfünfhundert Knoten! Bring das Netz rein, du, ich knot’s wieder auf.«
»Kufalt«, fleht der Meister, »seien Sie nur einmal vernünftig. Sie brauchen doch sechs, acht Stunden, die Knoten wieder aufzumachen.«
»Ganz egal!« schreit Kufalt wieder. »Das ist Schikane von dir! Das ist deine Rache, dass du mir das Pensum nicht zahlen willst, ich kenne dich doch! Das Netz her oder ich schmeiß den Kübel mit dem ganzen Scheißdreck …«
»Wat denn! Wat denn!« klingt es von der Tür, und der Herrscher des Zentralgefängnisses, Hauptwachtmeister Rusch, schiebt sich herein. »Mit Scheiße schmeißen? Feste, feste! Aber alles wieder einsammeln, mit den Händen, selbst! Selbst!!«
»Und der Mann will übermorgen rauskommen«, sagt der Netzemeister, der sich plötzlich sehr sicher fühlt.
»Das geht Sie gar nichts an«, fährt Kufalt neu auf. »So was haben Sie überhaupt nicht zu sagen! Sie sind hier kein Beamter, verstehen Sie! Beim Direktor werd ich Sie melden! Sie, Sie haben mich erst so gemacht! Schikaniert haben Sie mich Tag für Tag! Ich hab’s Ihnen nicht vergessen, Meister, wie Sie mir immer das schlechteste Garn gegeben haben und immer gesagt haben, die Knoten sind nicht fest genug. Und ich hab getreckt und getreckt, bis ich mir den Daumen verknackst habe, und Sie haben sich in den Bart gelacht und haben gesagt: Immer noch nicht fest genug.«
»Warum schreien Sie denn so, Kufalt?« fragt der Hauptwachtmeister. »Sind Sie krank?«
»Gar nicht bin ich krank, aber siebzehn Pensen hab ich gestrickt, und der Meister will mir nur sechzehn anrechnen. Ist das Gerechtigkeit? Ich denke, wir werden hier nach Gerechtigkeit behandelt?«
»Wenn der Mann siebzehn gestrickt hat, muss er auch siebzehn bezahlt kriegen«, erklärt Rusch.
»Aber ich hab dem Arbeitsinspektor …«
»Wat! Wat! Aber! Hat er siebzehn gestrickt …?«
»Ja, aber …«
»Wat! Wat! Aber? Kriegt er siebzehn bezahlt! Alles klar!«
»Aber ich hab die Listen doch schon abgeliefert.«
»Dann sagen Sie eben, Sie haben einen Fehler gemacht.«
»Es ist nur, Herr Hauptwachtmeister«, sagt plötzlich grinsend Kufalt, »weil er denkt, ich hab ihn in die Pfanne gehauen mit seinem Rosenthal. Darum soll ich ein Pensum weniger kriegen. Und darum bin ich so wütend gewesen.«
Der Hauptwachtmeister guckt und wartet. Dies ist seine Stunde. In solchen Stunden erntet er, in diesen Stunden, wenn sich die Kumpel verfeinden und die Genossen anschwärzen, da sammelt er sein Material gegen Gefangene und Stufenstrafvollzug, da kommt der Stoff her für seine Anzeigen. Alles weiß er, alles erfährt er, und vorne in seinem Büro der Direktor schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und verzweifelt: Ist denn nicht ein Gerechter …?
Der Netzemeister läuft blaurot an und schluckt. »Herr Rusch, wenn hier einer in die Pfanne gehauen werden muss …«
»Na, wat denn?« fragt Rusch breit und gemütlich. »Sie meinen doch nicht unsern Musterknaben, den Willi Kufalt? Gucken Sie sich die Zelle an, wissen Sie sonst noch so ’ne Zelle im ganzen Bau? Gewienert, glänzt wie ein Affenarsch.«
Und Kufalt ist seiner Sache so sicher, dass auch er noch den Meister hetzt: »Freilich, ich muss in die Pfanne gehauen werden, Meister. Sie haben’s gerade nötig, mir Lampen zu machen, Meister. Haben doch wohl auch als Hilfsbeamter einen Eid geschworen, Meister?«
Worauf nun wieder der Netzemeister wütend losbricht: »Der Erpresser der, aber ich will Ihnen sagen, Hauptwachtmeister …« Und besinnt sich, dunkelrot, aber besinnt sich: »Also Sie kriegen Ihre siebzehn Pensen bezahlt, Kufalt. Und wenn ich Ihnen die achtzehn Pfennig übermorgen unterm Tor selber geben muss. Sie kriegen sie!«
Der Netzemeister geht ab. Jetzt steht der Hauptwachtmeister unzufrieden und wütend da.
»Hab ich keine Post, Herr Hauptwachtmeister?« fragt Kufalt.
»Post. Post. Sie kriegen Ihre Post, wenn’s Zeit ist. Und überhaupt haben Sie nicht so frech zu sein. Der Netzemeister ist Ihr Vorgesetzter. Ich schreib’s in Ihren Entlassungsschein, Kufalt, dass die Führung schlecht war. Dann kommen Sie bei keiner späteren Strafe auch nur in die zweite Stufe.«
Spricht’s und schrammt die Tür zu, ehe Kufalt sich von Neuem entrüsten kann.
1 Kränkung, Verdruss <<<
Abends um acht Uhr hat die dritte Stufe ihren allwöchentlichen Radioabend. Es ist schön still im Bau, die paar Wachtmeister vom Nachtdienst schlurren auf Filzlatschen herum und schließen die schon für die Nacht versperrten Zellen der Leute von der dritten Gruppe vorsichtig und leise noch einmal auf. Und sachte gehen die runter zum Schulzimmer, denn nichts ist schlimmer als ein Gefängnis, das nachts in Lärm gerät. Sind die Gefangenen erst einmal in ihrer kostbaren Nachtruhe gestört, dann hört das Schreien und Toben und Brüllen überhaupt nicht wieder auf.
Im Schulzimmer sammeln sich die zwölf, es ist noch ziemlich taghell, der Schuster hantiert schon am Radio.
»Was gibt’s denn?« fragt Kufalt, aber der Schuster ist noch von Mittag her böse und antwortet nicht.
Dafür sagt Batzke, der lange Batzke, der über nackte Mädchenschönheiten gebietet und der die Heizkessel der Anstalt versorgt: »’ne Oper, von Verdi. Willste zuhören?«
»Nee, nur nicht. Warum die am Abend nie was Humoristisches machen, versteh ich nicht. Könnten doch auch mal an ’nen Gefangenen denken.«
Aber Batzke leiert seinen alten Vers: »Warum sollen die an uns denken? Sind froh, dass sie nicht an uns zu denken brauchen. Heilfroh, dass sie uns los sind, Vieh, das wir sind.«
Das Radio hat eingesetzt, und die beiden gehen den langen Gang neben den Schulbänken auf und ab.
»Hast du Tabak? Au, Mensch, Batzke, wo kriegst du nur immer den feinen Tabak her? Ich habe hier ja auch was gelernt von Schieben, aber so wie du …«
»Wenn du erst vierzehn Jahre Knast abgerissen hast wie ich«, sagt der sechsunddreißigjährige Batzke, »kennst du den Laden auch schon besser.«
»Nur nicht!« ruft Kufalt. »Lieber tot!«
»Das sag man nicht«, tröstet Batzke. »Dafür ist die Zeit draußen um so schöner.«
»Nee, danke, ich werde jetzt solide.«
»Mach bloß so was nicht«, warnt Batzke. »Du hältst es ja doch nicht durch. Da strampelst du dich zwei Monate ab oder drei oder fünf und schiebst Kohldampf und rennst dich um nach Arbeit. Und vielleicht kriegst du wirklich Arbeit und schuftest dich tot, dass sie dich nur behalten. Aber dann kommt’s doch irgendwie raus, dass du gesessen hast, und der Chef befördert dich an die Luft, oder die Kollegen – die sind immer die Schlimmsten – wollen mit so ’nem Verbrecher nicht arbeiten. Hab ich alles versucht. Aber wenn du dann mürbe bist und hast drei Tage nichts gefressen und fasst was an und gehst hoch dabei, gleich sagen sie: ›Das haben wir uns doch gedacht. Gut, dass wir den damals gleich rausgeschmissen haben.‹ So sind die, und wenn du schlau bist, dann hörst du auf mich und fängst gar nicht erst so was an wie Solidwerden. Dann machste mit mir mit.«
»Aber man wird geschnappt und kommt wieder ins Kittchen.«
»Nicht so leicht, wenn man ausgeruht ist und Geld hat. Immer wenn man Kohldampf hat und Angst und Geld kriegen muss. – Irgendwann fassen sie einen natürlich doch, aber bei mir wird das seine Weile haben.«
»Aber es gibt doch welche, die kommen nicht wieder rein?«
»Wer denn? Wer denn? Sag doch, wie lange schiebst du Knast? Wie viel Leute hast du schon wiederkommen sehen in der Zeit? – Na also! Und die nicht hierher wiedergekommen sind, die schieben jetzt woanders Knast. Ich dreh mein nächstes Ding auch nicht wieder in Preußen, ich geh mit ’nem Stadtplan brechen in Hamburg, dass ich nur nicht über die Grenze nach Altona gerate. Knast in Fuhlsbüttel ist viel besser als in Preußen, da kann schon die zweite Stufe Fußball spielen.«
»Ich mag aber nicht brechen gehen. Hab keinen Mumm für so was.«
»Sollst du auch nicht, mein Junge. Weiß ich doch selber. Wie wirst du mit solchen Ärmchen brechen gehen? Nee, auf so einen wie dich habe ich schon lange gewartet. Du bist doch fein, kennst die Fremdwörter und ein bisschen Englisch Parlewuh,1 du ahnst ja nicht, wie einem so was fehlt. Ich mach auch lieber was anderes als auf Bruch gehen.«
Kufalt fühlt sich geschmeichelt.
»Ich hab gelernt und gelernt«, erzählt Batzke weiter, »aber den richtigen Dreh krieg ich doch nicht raus. Eine Weile lang hab ich mal in Heiratsschwindel gemacht, das Risiko ist nicht so groß, und du brauchst kein Geld auszugeben für die Nutten, aber glaubst du, ein besseres Mädchen hab ich gekriegt …? Ich hab so aufgepasst, wie’s gemacht wird, auf der Rennbahn und in der Bar, und die Fingernägel hab ich mir manikürt – nichts. Die feinen Kavaliere sind mit den großen Kallen abgezogen, und wenn ich meine besah, dann war’s immer ein Dienstbolzen oder höchstens ’ne Stütze, mit ein paar Hundert Erspartem, es lohnte nicht.«
»Richtiges Benehmen könnte ich dir schon zeigen.«
»Siehst du, das ist es, was einen wurmt. Ich versteh alles, ich kann ’nen Geldschrank knacken mit ’nem Schneidbrenner, wie nur einer. Aber immer krieg ich nur die kleinen Sachen, die anderen gehen mit den großen über den Harz. So was wurmt einen, wenn man sein Fach versteht.«
»Aber zum Einbrechen braucht man doch keine Bildung, Walter!«
»Du hast ’ne Ahnung! In einen feinen Klub kommen als Doktor Batzke oder mit einem Luxuszug mitfahren, ohne dass gleich die Schmiere den Braten riecht, in einem hochherrschaftlichen Haus die Vordertreppe raufgehen, und der Portier hat nicht einmal die Courage, dich zu fragen, wieso und zu wem – das, sage ich dir, das musst du mir beibringen.«
»Ich glaub immer, du kannst das alles schon. Du hast sicher in deinem Leben mehr Sekt gesoffen als ich.«
»Sicher … aber eben gesoffen … aber eben mit Huren. Sekt trinken, weißt du, und dabei ’ne Unterhaltung führen mit ’ner richtigen Dame, und ihr nicht schon nach dem dritten Glas in den Ausschnitt fassen – so was will ich lernen!«
Sie gehen auf und ab. Alle unterhalten sich, rauchen, streiten, ein paar im Winkel spielen Schach. Verdis Melodien gehen unter in dem Gelärm.
Walter Batzke fängt an zu schwärmen: »Mensch, ich sage dir, wir wollen es fein haben! Wenn wir jetzt rauskommen, haben wir beide Geld, da wird gelebt, sage ich dir. Was du in der ersten Nacht tust, weißt du?«
»Nee! Was tue ich da?«
»Nichts weißt du! Eine feine Nutte freist du dir auf der Reeperbahn oder in der Freiheit und gehst mit ihr auf ihre Bude. Und wenn sie anfängt von Marie und Abladen und so, dann haust du deinen Entlassungsschein auf den Tisch und sagst: ›Mädchen, heute blechst mal du! Fahr Sekt auf!‹«
»Die wird mir schön auf den Kopf spucken.«
»Das weiß er nicht! Nicht mal das weiß er! Die erste Nacht nach dem Knast ist bei allen Huren in Hamburg frei. Das ist so. Das kannst du mir glauben. Da schließt sich keine aus.«
»Wirklich?«
»Ehrenwort! – Na, und am Sonntag komme ich dann ja nach.«
»Soll ich dich von der Bahn abholen?« fragt Kufalt.
»Nee, lieber nicht. Ich muss erst mal nach Haus und nach meiner Ollen sehen.«
»Verheiratet bist du plötzlich auch?«
»Nee! Seh ich so aus? ’ne olle Witwe habe ich, so an die Fünfzig, die sonst keinen mehr findet, die besorge ich, und dafür habe ich zwei feine Zimmer und Bad und fein Essen – Präpelchen, Junge! Vielleicht kannst du auch bei mir wohnen, muss mal sehen, Harvestehuder Weg, Witwe Antonie Hermann. Die ist von der großen Reederei, davon hast du doch schon gehört?«
»Glaubst du denn, dass die all die Jahre auf dich gewartet hat?«
»Du bist gut! Natürlich hat sie ’nen Jungen, und natürlich hat sie keine Ahnung, dass ich jetzt wieder rauskomme aus dem Knast. Aber du weißt ja, wie ich bin, fromm bin ich nicht. Ich stell mich einfach hin vor den Jungen und sag: ›Der Rabe ist da. Raus!‹ Und wenn er seine Sachen packt, da steh ich dabei, und was sie ihm zu viel geschenkt hat, das wird meine!«
Kufalt macht es Spaß, er grinst. »Und lässt sie sich das gefallen?«
»Die …? Ich weiß doch, wo die Reitpeitsche hängt, und wenn ich sie erst einmal verdroschen habe, weiß sie von keinem anderen mehr.«
Es geht Kufalt etwas durcheinander, der Rauch ist dick und der Abend trüb geworden, und die Musik der Oper klingt aus weiter Ferne. Witwe vom Harvestehuder Weg, Reedereibesitzerin, Reitpeitsche, Rabe – es ist ein bisschen viel. Aber wenn man fünf Jahre Knast geschoben hat, scheint nichts unmöglich – Dinge hat man hier erlebt!
Er lässt es auf sich beruhen und fragt: »Also wo treffen wir uns? Und wann?«
»Ich will dir sagen«, schlägt Batzke vor, »wir treffen uns auf dem Hauptbahnhof – nee, da läuft immer so viel Schmiere rum, die kennen mich alle. Wir treffen uns um acht auf dem Rathausmarkt unterm Pferdeschwanz.«
»Wo ist das?«
»Unterm Pferdeschwanz? Warst noch nie in Hamburg?«
»Nur ein paar Tage.«
»Da ist ein Denkmal von Kaiser Wilhelm auf dem Rathausmarkt, da reitet er. Unterm Pferdeschwanz weiß jeder in Hamburg.«
»Gut. Das finde ich. Also um acht.«
»Abgemacht. Und wirf dich fein in Schale. Wir machen einen langen Zug.«
»Schön. An mir soll’s nicht liegen.«
»An mir auch nicht.«
1 franz. parlez-vous <<<
Durch den schlafenden, fast dunklen Bau schleicht hinter dem Nachtbeamten Kufalt, auf Socken, die Pantoffeln in der Hand.
Der Wachtmeister schließt die Zelle auf, er steht einen Augenblick da, den Lichtschalter zögernd in der Hand. »Gehen Sie einmal ohne Licht ins Bett, Kufalt. Ich muss sonst in zehn Minuten die vier Treppen wieder rauf. Und ich hab den ganzen Tag zu Haus Holz gesägt und bin hundemüde.«
»Selbstverständlich«, sagt Kufalt. »Das macht mir nichts. Gute Nacht, Herr Thiessen.«
»Gute Nacht, Kufalt. Es ist ja wohl Ihre letzte Nacht?«
»Vorletzte.«
»Und wie lange haben Sie abgerissen bei uns?«
»Fünf Jahre.«
»Lange Zeit. Auf und ab eine lange Zeit«, sagt der alte Mann und schüttelt den Kopf. »Sie werden sich wundern draußen. Fünf Millionen Arbeitslose. Schwer ist das, Kufalt, schwer. Meine beiden Söhne sind auch arbeitslos.«
»Ich hab ja warten gelernt.«
»Haben Sie’s gelernt? Hier doch nicht! Hier hat’s noch keiner gelernt. – Na, wenn ich Sie nicht mehr sehen sollte, Kufalt, alles Gute. Sie werden’s nicht leicht haben, schwer werden Sie’s haben. Ob Sie’s aushalten werden? Wer einmal aus dem Blechnapf frisst …«
Der alte Mann steht wartend, denn Kufalt ist schon beinahe fertig mit Ausziehen im Licht der Flurlampe.
»Schlecht sind Sie nicht gewesen, nur zu leicht. Fleißig, ja. Und höflich, wenn man höflich war. Aber immer gleich im Bruddel, wenn was verquer ging, und hinter jeder Scheißhausparole hinterher. Fünf Millionen Arbeitslose, Kufalt …«
»Sie machen mich nicht gerade munter, Herr Thiessen.«
»Munter werden Sie schon genug sein, wenn Sie entlassen sind, da sorgen die Mädchen schon für und der Suff – das Muntersein macht’s nicht. Denken Sie immer daran, Kufalt, wir haben hier im Bau an die siebenhundert Zellen – denen ist’s egal, wer sich drin sorgt. Uns ist’s egal, bei wem wir schließen, alles kennen wir schon, alles, was es gibt.«
»Jeder ist anders, Herr Thiessen.«
»Draußen ja. Aber hier drinnen, da seid ihr alle gleich, das wissen Sie doch selbst, Kufalt. Wie rasch lernt ihr’s. – Na, gehen Sie jetzt man schlafen. Ihr Bett haben Sie schon runtergeklappt. Sehen Sie, das ist nett, so was mag ich, das sind die wirklich Gebildeten. Aber andere gibt’s. Der Schlimmste ist der Batzke, der macht sein Bett nachts um zwölf vom Haken und haut es mit aller Gewalt auf den Steinfußboden, dass der ganze Bau rebellisch wird. – Na, schlafen Sie denn also gut, die vorletzte Nacht. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Herr Thiessen. Und danke auch schön. Für alles!«