Zurück in seiner Zelle, fällt Willi Kufalt zusammen. So geht’s ihm immer. Wenn er mit anderen zusammen ist, redet er, erzählt er, gibt an, ist der große Ganove und allbefahrene Knastschieber, aber allein mit sich ist er sehr allein, wird klein und verzagt.
Hätte nicht so sein sollen zu Wachtmeister Steinitz, denkt er. Gemein war das. Bloß damit die grünen Jungens, die Stubben, sehen, dass ich ihn in der Tasche habe. Es lohnt nicht, alles mache ich verkehrt – wie wird’s draußen gehen?
Wenn der Schwager doch erst schriebe …! Aber so … da ist die Welt draußen, all diese Städte und die Zimmer, von denen man eines mieten muss, und die Arbeitsstellen und das Geld, das viel zu schnell alle wird – und was dann?
Er starrt vor sich hin. Keine achtundvierzig Stunden trennen ihn vom Entlassungstermin, den er so heiß herbeigesehnt hat seit fünf Jahren. Nun ist ihm angst. Hier ist er gern gewesen, er hat sich rasch gefunden in den Ton und die Art, er hat schnell gelernt, wo man demütig sein muss und wo man frech werden kann. Seine Zelle ist immer blank gewienert gewesen, sein Kübeldeckel hat stets geglänzt wie ein Spiegel, und den Zementboden seiner Zelle hat er zweimal die Woche mit Grafit und Terpentin geputzt, dass er geschimmert hat wie ein Affenarsch.
Sein Pensum hat er immer gestrickt, oft zwei, manchmal sogar drei, er hat sich Zusatzlebensmittel kaufen können und Tabak. Er ist in die zweite Stufe gekommen und in die dritte, ein vertrauenswürdiger Mustergefangener, in dessen Zelle die Kommissionen geführt wurden und der stets angemessen und bescheiden geantwortet hat.
»Ja, ich fühle mich sehr wohl hier, Herr Geheimrat.«
»Nein, ich merke, es tut mir gut, Herr Oberstaatsanwalt.«
»Nein, ich habe über nichts zu klagen, Herr Präsident.«
Aber manchmal – jetzt grinst er, er denkt daran, wie er den kleinen Studentinnen, die Wohlfahrtsfürsorgerinnen werden wollten und ihn so gierig nach seiner Straftat fragten, wie er denen demütig statt Unterschlagung und Urkundenfälschung geantwortet hat: »Blutschande. Hab mit meiner Schwester geschlafen. Leider.«
Er denkt an das entzückt über diesen Witz grinsende Gesicht des Polizeiinspektors und an die eine Studentin, die ihm mit flammendem Blick immer dichter auf den Leib rückte. Nettes Mädchen, hat ihm guten Stoff für manches Einschlafen geliefert.
Und die feine Zeit, als er beim katholischen Pfaffen immer den Altar rüsten musste, trotzdem der sich heftig gegen einen »Evangelischen« gewehrt hatte. Aber es gab »keine vertrauenswürdigen Katholiken« im Bau, das war ein Hieb der evangelischen Beamten gegen den katholischen Pfarrer.
Wie er da hinter der Orgel gestanden und Luft in die Bälge gepustet hatte, und der Kantor gab ihm jedes Mal eine Zigarre, und einmal war der katholische Kirchenchor oben, und die Mädels schenkten ihm Schokolade und feine Toilettenseife. Hinterher nahm sie ihm freilich der Hauptwachtmeister Rusch wieder ab. »Puff! Puff!« hatte er in Kufalts Zelle geschnuppert, »riecht hier wie Puff.« Und hatte so lange gesucht, bis er sie gefunden hatte und die olle Sodaseife wieder Trumpf war.
Nein, eine gute Zeit hatte er gehabt, alles in allem, eigentlich kam die Entlassung etwas Hals über Kopf. So recht vorbereitet war nichts, er würde ganz gerne noch so sechs oder acht Wochen bleiben, sich auf die Entlassung rüsten. Oder war es, dass er auch schon meschugge war, zu spinnen anfing …? Er hatte es ja hundertmal erlebt, die Vernünftigsten, die Ruhigsten wurden kurz vor der Entlassung durchgedreht, fingen an zu spinnen. War er auch soweit?
Vielleicht ja, das mit dem Netzemeister und dem dicken Juden, da so einfach in die Zelle, das hätte er früher nicht riskiert, und das mit Wachtmeister Steinitz auch nicht.
Wenn nur erst der Schwager schriebe! Hatte der Hauptwachtmeister heute schon die Post verteilt? Schwein das, auf den konnte man sich auch nie verlassen, hatte er keine Lust, gab er drei Tage keine Post aus!
Kufalt macht ein paar Schritte und stutzt. Er hat doch die Waschschüssel stets so auf dem Schränkchen stehen, dass ihr Rand millimetergenau mit der Schrankkante abschneidet? Und jetzt steht sie mindestens einen Zentimeter zurück?
Er öffnet die Schranktür.
Kieke da, der hat meine Zelle durchgefilzt, das olle Stielauge, der Netzemeister! Hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben auf seinen Hunderter! Na, warte, mein Junge, wenn du dich da man nicht schneidest!
Kufalt wirft einen argwöhnischen Blick gegen den Spion und greift dann rasch an sein Halstuch. Es knittert beruhigend darin. Aber nun fällt ihm ein, dass in spätestens einer halben Stunde Vorführung beim Arzt ist, und da muss er sich ausziehen und darf also den Hunderter nicht bei sich haben. Das weiß der Netzemeister auch, dann wird er die Zelle noch mal filzen …
Kufalt zieht grübelnd die Stirne in Falten. Er weiß natürlich, dass es in der Zelle kein Versteck gibt, das die Beamten nicht kennen. Die haben da vorne eine Liste, ein Wachtmeister hat es ihm mal erzählt; zweihundertelf Möglichkeiten gibt es, in dem Dreckding von Zelle was zu verstecken.
Aber für ihn handelt es sich jetzt nur darum, ein Versteck zu finden, das anderthalb Stunden vorhält. Länger dauert die Vorführung beim Arzt nicht, und länger hat der also auch keine Zeit zu suchen.
Im Rücken vom Gesangbuch? Nein, das ist schlecht. In der Kapokmatratze? Das wäre nicht dumm, aber dafür ist die Zeit jetzt zu kurz, er kann nicht auftrennen und zunähen in der halben Stunde bis zur Vorführung. Außerdem müsste er sich erst das passende Garn von den Sattlern besorgen.
Nun zeigt es sich, dass es dumm war, den Kübel zu leeren, anderthalb Stunden in dem Dreck auf dem Boden zu liegen, das hätte dem Hunderter nichts geschadet, das wäre wieder rauszukriegen gewesen, aber nun war der Kübel leer.
Unter den Tisch kleben?
Am besten unter den Tisch mit Brotkrumen festkleben!
Er dreht schon an den Kügelchen, aber dann lässt er es wieder: Es ist zu bekannt, und ein Blick genügt. Lieber nicht.
Kufalt wird nervös. Es klingelt schon zum Schluss der letzten Freistunde, in einer Viertelstunde geht die Vorführung los. Ob er den Schein doch mit zum Arzt nimmt? Er könnte ihn ganz fest zusammenrollen und sich hinten reinstecken. Aber vielleicht gibt der Netzemeister dem Hauptbullen vom Lazarett einen Wink, und dann wird er so gefilzt – die sind imstande und untersuchen ihn auf Mastdarmkrebs!
Er ist ratlos. Es ist genau, wie wenn er rauskommen wird. Da sind auch so viele Möglichkeiten, und bei allen ist ein »Aber« dabei. Man muss sich entscheiden können, aber das eben kann er nicht. Wie soll er auch? Die haben ihm doch hier fünf Jahre lang jede Entscheidung abgenommen. Die haben gesagt: »Friss!«, und da hat er gefressen. Die haben gesagt: »Geh durch die Tür!«, und da ist er durchgegangen, und: »Schreib heute!«, und da hat er heute seinen Brief geschrieben.
Die Luftklappe ist auch nicht schlecht. Nur zu bekannt, viel zu bekannt. In dem einen Bettbrett ist ein Riss – aber wenn einer zufällig hinsieht, sieht er sofort den Schimmer vom Papier. Er könnte den Schemel auf den Tisch stellen und das Dings auf den Schirm der Deckenlampe legen, aber das machen alle, und außerdem kann gerade einer durch den Spion linsen, wenn er auf dem Tisch steht.
Kufalt dreht sich rasch um und sieht nach dem Spion. Richtig, er hat’s gefühlt, da ist ein Glotzauge, das ist dem seines, das Fischauge!
Und in gespielter Wut springt er gegen die Tür, ballert daran und brüllt: »Willst du weg vom Spion, Kalfaktor, verdammter!«
Es geht knallbums, die Tür fliegt auf, und in ihr steht der Hauptwachtmeister Rusch.
Nun heißt es theatern, denn Rusch liebt nur die eigenen Späße. Bei Hauptwachtmeister Rusch muss man demütig sein, und so ist Kufalt ganz hübsch betreten, als er stottert: »O Verzeihung, Herr Hauptwachtmeister! Herr Hauptwachtmeister verzeihen, ich dachte, es wäre das Biest von Kalfaktor, der kneistet immer, wo ich meinen Tabak lasse.«
»Wat denn? Wat denn? Krach gibt’s nicht. Der Lack geht von der Türe.«
Kufalt schmeichelt: »Herr Hauptwachtmeister wissen doch, bei mir ist immer alles in Butter, kein Kratzer im Lack.«
Der Hauptwachtmeister, ein etwas stoppliger Napoleon, der wahre Herrscher über das Gefängnis, wortkarg, stets voller Überraschungen, erbitterter Feind jeder Neuerung, des Stufenstrafvollzugs, des Direktors, der Beamten, jedes Gefangenen – der Hauptwachtmeister Rusch antwortet nicht, sondern geht zum Schränkchen, an dem die Personalien- und Vergünstigungstafel hängt.
»Was ist mit Vögeln?« fragt er.
»Mit Vögeln?« fragt Kufalt, halb verwirrt, halb grinsend.
»Vögeln! Vögeln!« knarrt der Despot ärgerlich und tippt mit dem Finger auf die Vergünstigungstafel. »Hier steht: zwei Kanarienvögel. Wo sind die? Verschoben, was?«
»Aber, Herr Hauptwachtmeister«, sagt Kufalt vorwurfsvoll und denkt dabei voll Angst an den Hunderter, der immer noch in seinem Halstuch steckt. »Die gelben Spatzen sind doch draufgegangen, als im Winter die Zentralheizung kaputt war. Ich hab’s Ihren doch noch gesagt!«
»Gelogen. Gelogen. Erstunken. Gelogen. Der Schuster, der Maaß, hat zweie zu viel. Das sind deine. Verschoben!«
»Aber, Herr Hauptwachtmeister, ich habe es Ihnen doch gesagt, dass sie krepiert sind! Ich bin im Glaskasten bei Ihnen gewesen und habe es Ihnen gemeldet.«
Der Hauptwachtmeister steht unterm Fenster. Er dreht dem Gefangenen den Rücken, der sieht nur die dicken weißen Hände, die mit den Schlüsseln spielen.
Wenn er doch ginge! fleht Kufalt. Jeden Augenblick kommt die Vorführung zum Arzt und ich mit dem Schein im Halstuch! Ich bin ja geplatzt! Ich komme gleich wieder in Untersuchungshaft!!
»Die dritte Stufe!« knurrt das Haupt. »Immer die dritte Stufe. Alle Unordnung im Bau. Ihr Geld, Ihre Arbeitsbelohnung …«
»Ja …?« fragt Kufalt, als nichts mehr kommt.
»Aufs Wohlfahrtsamt. Da kannst du dir jede Woche fünf Mark holen.«
»Herr Hauptwachtmeister«, fleht Kufalt, »das werden Sie doch nicht tun, wo ich meine Zelle immer so fein gewienert habe!«
»Wat denn! Tu ich. Mach ich. Mir ganz egal. Wienern …? Ordnung mit Vögeln – hahaha!«
»Haha«, lächelt auch Kufalt gehorsam.
»Was ist«, fragt der Hauptwachtmeister und kann plötzlich Deutsch, »mit dem Netzemeister und dem neuen Netzekalfaktor?«
»Neuer Netzekalfaktor?« fragt Kufalt. »Ist denn ein neuer da? Den hab ich noch gar nicht gesehen.«
»Fiole! Scheiß die anderen an! Zehn Minuten warst du bei denen in der Zelle!«
»Aber nein, Herr Hauptwachtmeister, ich war heute überhaupt nur zur Freistunde aus meiner Zelle!«
Der Hauptwachtmeister streicht mit dem Finger nachdenklich über das Schrankdach. Er besieht den Finger, nicht unbefriedigt, dann beriecht er ihn. Nein: Es hat auch nicht eine Spur von Staub auf dem Schrank gelegen. Er besinnt sich und geht gegen die Tür. »Also Arbeitsbelohnung durch Wohlfahrt.«
Kufalt überlegt fieberhaft: Sag ich jetzt nichts, so geht er und ich kann den Hunderter verstecken, aber hänge ewig bei der Wohlfahrt. Hau ich die aber in die Pfanne, bin ich zwar den Hunderter los, kriege aber übermorgen meine Arbeitsbelohnung hier bar ausbezahlt. Aber auch nur vielleicht.
»Herr Hauptwachtmeister …«
»He …?«
»Ich war in der Zelle – bei denen.«
Der wartet. Schließlich: »Was ist …?«
»Der kriegt für den dicken Juden Briefe. Da müssen Sie mal filzen gehen.«
»Nur Briefe?«
»Er wird’s ja nicht tun für die schöne Nase von dem.«
»Weißt du was?«
»Filzen müssen Sie, Herr Hauptwachtmeister. Heute noch, gleich – da finden Sie was.«
Die Tür geht auf. »Kufalt zum Arzt!«
Kufalt sieht auf den Hauptwachtmeister.
»Los!« sagt der gnädig. »Vögel krepieren hier alle im Bau.«
Dem Aas, dem Netzemeister, habe ich das fein besorgt, denkt Kufalt, als er die Treppe hinunterschlurrt. Nun hat er keine Zeit, in meiner Zelle zu suchen. Ach Gott, das wäre ja jetzt auch egal! Nun habe ich den Schein doch noch bei mir, verdammt!
Der Wachtmeister sieht Kufalt über das Geländer weg nach. »Ein bisschen dalli, Kufalt! Tut, als wüsste er nicht Bescheid. Bist doch wahrhaftig genug zum Arzt gelaufen!«
Ist ja gar nicht wahr, denkt Kufalt. Seit der mich damals angezeigt hat wegen Simulieren, als ich den Daumen verknackst hatte und nicht stricken konnte, bin ich keine dreimal mehr bei ihm gewesen. Und ich hatte nicht Fiole geschoben, ich hatte den Daumen wirklich verknackst!
Nein, es sind schlechte Aussichten, den Schein noch irgendwie loszuwerden. Auf allen Gängen ist Hochbetrieb. Vorführung zum Direktor, zum Polizeiinspektor, zum Arbeitsinspektor, zum Arzt, zum Pastor, zum Lehrer – auf allen Stationen knallen die Riegel, knacken die Schlösser, laufen Beamte mit Listen, schieben sich Gefangene in ihren blauen Schlotterhosen lang.
Mir geht eben alles schief. Wenn ich einmal wirklich kess bin und schneide mir eine Scheibe ab – ein richtiger Ganove werde ich doch nie …
Unten begrüßt ihn Oberwachtmeister Petrow, ein oller Posener, schon in der Vorkriegszeit Kittchenhengst gewesen, Liebe aller Gefangenen.
»Na, Kufalt, olles Haus, is sich Zeit rum? Siehst du, is gewesen ein Blitz! Warum hat Hauptwachtmeister dir Zelle gegeben? Hättest du machen können auf der Treppe ab das kleine Endchen Knast! – Wie lange? Fünf Jahre? Mensch, Kufalt, Zeit läuft sich wie Auto; was sich kleines Mädchen freuen wird, dass du alles hast aufgespart für sie.«
Der dicke Petrow schnauft strahlend, und die Gefangenen grinsen beifällig.
»Nein, stell dich dorthin, Kufalt, Haus. Nich zu Batzke, denn ihr schwatzt und der Olle kuckt aus Glaskasten, kuckt, kuckt! – Siehst du, hier, und drei Schritte Abstand. – Komm her, du Neuer mit Brille, willst du zu Fuß gehen auf Hamburg …? Bleib hier, mein Söhnchen, mach ein bisschen halt hier bei uns, Liebling … Geh nicht mehr weiter.«
An die dreißig Gefangene stehen schon da, wartend auf die Arztvisite, und noch kommen immer mehr von allen Stationen dazu. Kufalt hat den kleinen Tischler, den Emil Bruhn, entdeckt und winkt ihm aus der Ferne zu.
»Das wird ja heute wieder endlos«, stöhnt er zu seinem Vordermann, »todsicher ist der Fraß eiskalt, wenn wir auf die Zelle kommen. Und heute gibt’s Erbsen.«
Der vor ihm dreht sich um. Er ist ein langes Reff1 in einer unglaublichen Kledage,2 Röhren aus lauter hell- und dunkelblauen Flicken, eine Weste, die so kurz ist, dass zwischen Hosen- und Westenrand eine Handbreit Hemd hervorsieht, und eine Jacke mit Ärmeln nur bis an die Ellbogen. Darüber ein kleiner, blasser, böser Kopf.
»Dich haben sie ja beim Hausvater fein in der Mache gehabt«, sagt Kufalt. »Hast ihn wohl geärgert. – Wie lange reißt du ab?«
»Sprechen Sie mit mir?« fragt das Reff. »Darf man denn hier sprechen?«
»Nee. Aber du darfst ruhig du zu mir sagen, unsre Kübel werden doch alle zusammen ausgeschüttet. – Wie viel musst du abreißen?«
»Ich bin zu zwei Jahren Gefängnishaft verurteilt. Aber ich bin unschuldig, zwei Zeugen haben einen Meineid geschworen. Ich habe schon Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet.«
»Das mit dem Meineid sagen wir alle, wenn wir reinkommen«, tröstet Kufalt. »Das gibt sich. – Was hat auf deinem Schild über der Zelle gestanden, vor der Verhandlung?«
»Schild …? Wie meinen Sie das? Ach so! Untersuchungsgefangener, also ein ›U‹.«
»Quatsch, das ›U‹ heißt doch nicht Untersuchungsgefangener, das heißt Unschuldiger. Und was hängt jetzt an deiner Zelle?«
»Strafgefangener. ›S‹.«
»Wieder Quatsch. Schuldiger! Das ist alles ganz einfach. Wenn du verknackt bist, bist du auch schuldig, da hilft kein Reden. Urteil ist Urteil. Rede hier bloß keinen Stuss von wegen Meineidsanzeigen, auf die süße Tour fallen wir hier nicht rein. Da sind ’ne ganze Menge, die nehmen das gewaltig sauer, wenn du so daherredest.«
»Na, erlauben Sie mal, ich bin unschuldig, meine Frau und mein Prokurist werden ein paar Jahre Zuchthaus wegen Meineid kriegen. Hören Sie mal zu, ich werde Ihnen das erzählen …«
Aber er kommt nicht mehr zum Erzählen. Vom Glaskasten her klingt heftiges Schlüsselgeklopfe. »Herr Petrow, passen Sie gefälligst auf! Der Lange da, der Menzel, schwatzt immerzu mit dem Kufalt.«
Petrow stürzt sich wutentbrannt auf den »Unschuldigen«. »Soll ich dir Giftzahn ausreißen, Laster, langes, geklebtes? Bist du in Judenschule, denkst du? Glaubst du? Marsch, marsch, marsch, Linken, Rechten, Linken, Rechten, in Arrestzelle, kannst du reden mit Eisen, bis Arzt kommt, Schwätziges, du!«
Knack, knack, die Zellentür fliegt zu, der ganz verstörte Lange ist verschwunden, und im Vorbeigehen flüstert Petrow strahlend dem Kufalt zu: »Hat er Schiss gekriegt, der Neue? Bin ich schrecklich wütend? Söhnchen, mach mit dem nicht Kumpelage, immer ist das bei Direktor und Inspektor und schwätzt alles, was es hört.«
Und Petrow ist schon zehn Schritte weiter. Da stehen isoliert zwei Braune, schmucke Zuchthaushusaren, sicher auf Transport hier. Und die beiden Isolierten hatten drei Schritte vorwärts gemacht, vom Linoleum herunter auf den gewachsten Zementboden, wohl um etwas Anschluss zu finden bei den anderen Gefangenen, vielleicht wegen Tabak …
»Bleibt sich hier die Herren, auf dem braunen Linolei, immer auf dem Linolei! Hier, die Herren!«
Die Zuchthäusler sehen nicht auf, sie sehen starr vor sich in die Luft, hören nichts, rühren sich nicht. Kufalt stellt wieder fest, dass Zuchthäusler eine ganz andere Art haben, mit Beamten umzugehen. Gefängnisgefangene schmusen sich an, suchen auf Du und Du zu kommen, der Zuchthäusler hat nie einen Beamten gesehen, die sind alle Luft für ihn.
Petrow empört sich ernstlich: »Auf den Linolei! Auf den Linolei!«
Die beiden hören nichts, sehen nichts. Nur wie zufällig machen sie gerade jetzt einen Schritt, zwei Schritte, drei Schritte – und stehen wieder auf dem Linoleum. Den Beamten haben sie gar nicht gesehen.
Die Tür zum Lazarett tut sich auf. In seinem weißen Mantel erscheint der Lazaretthauptwachtmeister. »Vorführung zum Arzt!«
»Paarweise antreten!« schreit Petrow. »Einrücken ins Lazarett!«
Und im selben Augenblick bricht die sorgfältig bewahrte Ruhe und Ordnung zusammen. An die fünfzig Gefangene rücken mit Gelärm und Geschwätz durch die enge Schlucht eines Ganges über eine Treppe ins Lazarett. Petrow versucht, wenigstens die beiden Zuchthäusler im Auge zu behalten, aber sofort sind die untergetaucht zwischen den anderen, tauschen Worte, ihre Hände fassen zu.
»Na, wartet! Werde ich filzen euch auf Tabak, Schweine, miserablige! – Na, lass sie! – Stellt euch hierhin, ihr beide!«
»Alles in zwei Gliedern aufstellen, die Gesichter zur Wand, die Rücken gegeneinander. Schuhe und Pantoffeln ausziehen und vor sich stellen!« kommandiert der Lazaretthauptwachtmeister.
Es geschieht, ein Name wird aufgerufen, und der Gefangene verschwindet im Arztzimmer, der Hauptwachtmeister hinterher.
»Das wird heute wieder endlos dauern«, haucht Kufalt zum kleinen Bruhn, der neben ihm steht.
»Weiß man nicht, Willi«, flüstert Bruhn. »Manchmal macht er sechzig in einer halben Stunde fertig. Siehst du, geht der Krach schon los.«
Aus dem Arztzimmer tönt Geschimpfe, Geschrei, der Gefangene erscheint, wutrot. »Aber ich bin wirklich krank, ich beschwere mich beim Strafvollzugsamt, das lasse ich mir nicht gefallen!«
»Gehen Sie schon, gehen Sie«, drängelt der Hauptwachtmeister.
»Simulantengesindel«, hört man den Arzt schreien. »Ich besorg’s euch! Der nächste!«
»Riecht heute sauer«, sagt Batzke auf der anderen Seite von Kufalt. »Wenn er schon beim Ersten so anfängt …«
»Wenigstens kommen wir dann schneller dran. Ich will noch zum Fußball. Du doch auch?«
»Weiß noch nicht. Mein Affenfett ist alle, ich muss erst noch mal auf die Anschaffe.«
»Müssen wir uns eigentlich ganz ausziehen« fragt Kufalt.
Und Batzke: »In Fuhlsbüttel mussten wir’s. Wie’s hier bei den Preußen ist, weiß ich nicht.«
»Unsinn«, flüstert Bruhn von der anderen Seite. »Gar nichts wird gemacht. Der sieht uns gar nicht an.«
»Glaub ich nicht«, sagt wieder Kufalt. »In der Strafvollzugsordnung steht doch, dass die Gefangenen vor ihrer Entlassung gründlich auf Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu untersuchen sind.«
»Da steht viel.«
»Also du meinst, wir brauchen uns nicht auszuziehen?«
Batzke flüstert: »Na, was für heiße Sore hast du denn in deinen Lumpen, Kufalt? Machen wir Kippe oder …?«
»Stille seid ihr, Klatschtanten«, ruft Petrow. »Mit Schlüssel in Genick schlag ich!«
»Ach, Herr Oberwachtmeister, darf ich nicht mal austreten? Herr Oberwachtmeister, es zieht mir ja so durch den Bauch! Ich hab ja so ’ne Angst vor dem Arzt!« grinst Kufalt.
»Na, geh scheißen, altes Haus. Drüben in Spülzelle. Dass du aber keine drinnen stößt, sonst alles Qualm und Doktor schimpft.«
»Bestimmt nicht, Herr Oberwachtmeister.«
Und Kufalt verschwindet in der Spülzelle, deren Tür er anlehnt. Der Sicherheit halber zieht er die Hosen runter, aber dann stellt er sich mit dem Rücken gegen den Spion, nimmt hastig den Schein aus dem Halstuch, schiebt ihn tief in die Socken (so, Batzke, Kippe is nich), macht sich zurecht, lässt einen Augenblick die Wasserleitung laufen und stellt sich wieder in Reih und Glied.
Petrow steckt den Kopf prüfend in die Spülzelle und zieht ihn befriedigt zurück. »Nicht geraucht, keine gestoßen, braver Kerl, Kufalt.«
Und Kufalt fühlt sich ob dieses Lobes richtig gerührt.
Doch Batzke flüstert: »Na, Mensch, Kufalt, wie is …? Kommst du rüber mit der Sore oder soll ich …?«
Und Kufalt dagegen: »Und was ist mit dem dicken Jud und der nackten Schickse? Mensch, hau bloß ab, bei mir immer Fehlmeldung!«
»Na also«, grinst Batzke. »Hast du den Stubben auch hochgenommen? Sauber! Sauber!«
Aus der Ecke grollt eine drohende Stimme: »Wie lange sollen wir hier noch in Socken auf dem kalten Fußboden stehen? Eine Schweinerei ist das! Beschweren werde ich mich!«
Petrow grinst. »Die Herren aus dem Zuchthaus? Hat sich Medizinalrat so angeordnet. Kann ich nichts machen, Herren. Beschweren sich bei Medizinalrat.«
»Möchte ich auch wissen«, sagt Kufalt leise zu Bruhn, »warum diese Schweinerei ist. Zehnmal habe ich mir schon den Husten bei dieser Steherei auf dem kalten Fußboden geholt.«
»Dass wir den Herren Lazarettkalfaktoren ihr Linoleum nicht zerkratzen«, meint Batzke.
»I wo«, erklärt Bruhn, der alles weiß. »Das ist schon sechs, acht Jahre her, da hat mal ein Gefangener dem Arzt die Latschen um den Kopf gehauen. Seitdem darf kein Gefangener mehr in Latschen zu ihm.«
»Verdammte Schweinerei«, knurrt Kufalt. »Wir dürfen uns hier erkälten, weil …«
»Wir sind eben Vieh«, sagt Batzke. »Aber ich will’s denen draußen auch fein zeigen, was ich für ein Vieh bin!«
Die Gefangenen sind dahingeschmolzen wie Schnee an der Sonne, es hat mehr Krach gegeben, mehr Geschrei, empörte Proteste oder weinerliches Gewinsel, aber zum Schluss hat immer die dicke Schulter des Lazaretthauptwachtmeisters die Leute aus der Tür gekantet, Petrow hat sie weiterbefördert, hat mitfühlend ihre Klage angehört und ist froh gewesen, wenn er sie aus dem Lazarett raus hatte. Nun kommen nur noch die beiden Zuchthäusler und die Entlassungen dran.
»Pass auf, jetzt gibt’s Krach«, rät Kufalt.
»Glaub ich nicht«, zweifelt Bruhn. »Sollte mich wundern.«
Und nach fünf Minuten erscheinen die beiden wieder aus dem Arztzimmer, mit denselben ausdruckslosen Gesichtern, und diesmal taucht der Herr Medizinalrat selbst hinter ihnen auf. »Der Hauptwachtmeister bringt Ihnen gleich die Medizin rauf. Ja, auch Watte. Jawohl.«
»Die können’s besser, die Jungen«, beneidet sie Kufalt.
»Ach was«, sagt Bruhn, »feige ist er bloß, der Doktor. Das können doch Lebenslängliche sein – und was riskieren die schon, wenn sie ihm in die Fresse schlagen? Lebenslänglich bleibt immer lebenslänglich. Das weiß der Doktor ganz gut.«
»Kehrt! Den Arzt anschauen! Das sind die Leute, die diese Woche zur Entlassung kommen, Herr Medizinalrat.«
»Schön.« Der Medizinalrat sieht nicht hoch. »Die Leute können abgeführt werden. Alle gesund, alle arbeitsfähig, Herr Hauptwachtmeister.«
»Dafür haben wir hier nun eine Stunde gewartet«, sagt Bruhn.
»Aber ich schreibe eine dicke Beschwerde, wenn ich raus bin«, erklärt Kufalt.
»Vieh muss wie Vieh behandelt werden«, grinst Batzke. »Recht hat er, der Pflasterkasten!«
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