Hans Fallada – Gesammelte Werke

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62

»Hast du die Schei­dung schon ein­ge­lei­tet?«, frag­te ich schließ­lich mit lei­ser Stim­me.

»Ja«, ant­wor­te­te sie eben­so lei­se. »Ges­tern …«

Wie­der trat tie­fe Stil­le zwi­schen uns ein. Plötz­lich sa­hen wir uns bei­de nach dem Ober­wacht­meis­ter Fritsch um, der mit ei­nem Ruck von sei­nem Stuhl auf­ge­stan­den war und mit sei­nen Schlüs­seln klap­per­te.

»Na ja«, sag­te er fast ver­le­gen, »ei­gent­lich ist die Sprech­zeit rum, aber mei­net­we­gen – noch zehn Mi­nu­ten.« Und er ging zum Fens­ter, wo er uns os­ten­ta­tiv den Rücken kehr­te.

»Er­win«, flüs­ter­te Mag­da has­tig, »ich habe lan­ge mit mir ge­kämpft, es kam mir so schlecht vor, dich in die­ser Lage im Stich zu las­sen. Aber dann, als ich vom Me­di­zi­nal­rat hör­te, dass dei­ne Sa­che gut steht, dass du viel­leicht schon in Kür­ze ent­las­sen wirst …«

Sie sah mich fle­hend an, aber ich schwieg. Ich half ihr mit kei­nem Wort, in mir herrsch­te ein ver­zwei­fel­ter, wil­der Zorn über die­se Ver­rä­te­rin.

»Wir wol­len es al­les so ein­rich­ten, wie du es wünschst, Er­win«, fuhr Mag­da noch has­ti­ger fort. »Willst du das Ge­schäft wie­der über­neh­men, gut. Wir sind auch be­reit, ganz von hier fort­zu­zie­hen, Hein­rich, ich mei­ne Herr Hein­ze, will dir dann auch sein Ge­schäft ab­tre­ten. Sieh mich doch nicht so an, Er­win, es hilft doch nichts! Wir wa­ren uns doch in­ner­lich längst ganz fremd ge­wor­den, den­ke doch zu­rück an die­se schreck­li­chen Zei­ten, wo wir uns im­mer nur strit­ten! Es ist doch bes­ser, wir tren­nen uns …?«

Ich schwieg noch im­mer; also da­her die­ses neue Ko­stüm, die­se fri­sche Far­be, der war­me zit­tern­de Un­ter­ton der Stim­me! Ein neu­er Mann – und schon gurrt das ver­lieb­te Täub­chen! Den Mann ins Kitt­chen ge­bracht – und nun kommt der an­de­re mit der »in­ne­ren Sau­ber­keit«, der Hochan­stän­di­ge, dem sie blind­lings ver­traut! Ich sah auf­merk­sam auf ih­ren wei­ßen, schon ein we­nig fett wer­den­den Hals; der Kehl­kopf be­weg­te sich, die Gute ver­schluck­te, von den ei­ge­nen Wor­ten ge­rührt, wie man so sagt, ihre Trä­nen. Ich hät­te die­sen Hals so ger­ne mit mei­nen Hän­den um­spannt, und ich hät­te ihn, das schwö­re ich, trotz al­ler Frit­sches nicht wie­der los­ge­las­sen! Aber ich hü­te­te mich wohl, nur we­ni­ge Tage trenn­ten mich noch von der Frei­heit. Sie woll­te ich nicht al­lein tref­fen, da blieb die­ser an­de­re, der Hochan­stän­di­ge, der die Scham­lo­sig­keit be­saß, ei­nem kran­ken Mann die Frau zu steh­len!

Sie sah mich noch im­mer an, und als sie nun wie­der zu spre­chen an­fing, war der Ton ih­rer Stim­me käl­ter ge­wor­den, sie bat mich nicht mehr. Um ih­ren Mund lag ein Zug von Ent­schlos­sen­heit, selbst Här­te. »Du siehst mich im­mer nur an und sagst kein Wort«, be­gann sie wie­der. »Ich sehe es wohl, in dei­nen Au­gen droht et­was Schreck­li­ches. Aber das kann mich nicht be­ir­ren, nichts kann mich mehr be­ir­ren. Ein­mal in mei­nem Le­ben will ich Glück­lich­sein ken­nen­ler­nen. Ich habe dir so vie­le Jah­re ge­op­fert, dei­ner Schwä­che, dei­nem Ei­gen­sinn, dei­nem un­sin­ni­gen Dün­kel und Men­schen­hass und dem vor al­lem, was du dei­ne Lie­be nennst! Das ist eine selt­sa­me Art von Lie­be, die ich nur zu spü­ren be­kam, wenn du For­de­run­gen hat­test – aber nie durf­te ich wel­che ha­ben! Nein, da­von habe ich ge­nug …«

Sie hät­te wohl noch wei­ter so ge­re­det, aber auch ich hat­te ge­nug, von die­sen Ti­ra­den näm­lich. Nach­dem das Kö­dern durch Süße miss­lun­gen war, soll­te ich nun durch den Hass zer­malmt wer­den. Ich beug­te mich weit über den Tisch und spie ihr mit­ten ins Ge­sicht. »Ehe­bre­che­rin …!«, rief ich.

Bei die­sem lau­ten Aus­ruf dreh­te sich der Ober­wacht­meis­ter Fritsch am Fens­ter rasch um und starr­te einen Au­gen­blick maß­los ver­blüfft auf dies Bild, das sich ihm bot: ich, über den Tisch ge­lehnt, der Mag­da mit ver­ächt­li­chem und dro­hen­dem Blick an­sah, und mei­ne ehe­ma­li­ge Frau, die kei­ne Be­we­gung mach­te, den über die to­ten­blei­che Wan­ge lau­fen­den Spei­chel ab­zu­wi­schen, son­dern die mei­nen Blick un­ver­wandt er­wi­der­te, aus der tiefs­ten Tie­fe ih­rer brau­nen Au­gen her­aus. Und wäh­rend wir uns so an­sa­hen, war mir, als drän­ge ich mit mei­nem Blick tief in die­se Frau ein, ver­sän­ke den Bruch­teil ei­ner Se­kun­de in ihr, er­spür­te einen Men­schen, den ich nie ge­kannt …

Dann war das vor­bei, denn der Ober­wacht­meis­ter Fritsch hat­te mich bei den Schul­tern ge­packt und schüt­tel­te mich wü­tend. »Sie un­ver­schäm­ter Fle­gel!«, schrie er. »Wie kön­nen Sie sich so et­was er­lau­ben? Dem Me­di­zi­nal­rat wer­de ich Sie an­zei­gen! Das ist eine an­stän­di­ge Frau, ver­ste­hen Sie?« Und er schüt­tel­te mich wie­der mit all sei­nen Kräf­ten, dass mein Kopf halt­los hin und her flog.

»Las­sen Sie den Mann los, Herr Wacht­meis­ter!«, sag­te Mag­da mit tiefer, völ­lig er­schöpf­ter Stim­me. »Er hat voll­kom­men recht: Ich bin eine Ehe­bre­che­rin.« Ei­nen Au­gen­blick hielt sie ein, als über­le­ge sie et­was. Dann wand­te sie sich mir zu, ihr Auge leuch­te­te wie­der, wie­der hat­te ihre Stim­me Klang. »Und ich bin froh dar­über, dass ich es tat!«, sag­te sie mir ins Ge­sicht.

Dann ging sie lang­sam aus dem Sprech­zim­mer, end­lich ihr Ge­sicht ab­wi­schend, aber nur ganz me­cha­nisch.

63

Wie ich die Nacht nach die­sem furcht­ba­ren Wie­der­se­hen ver­brach­te, kann ich nicht sa­gen. Dass ich in ihr nicht eine Mi­nu­te lang schlief, des­sen bin ich si­cher. Ich wäre in die­ser Nacht wohl zer­bro­chen und hät­te al­lem Jam­mer ein Ende ge­macht, wenn mich nicht der Ge­dan­ke an Ra­che auf­recht­er­hal­ten hät­te. Und ich wür­de die­se Ra­che neh­men bis ins ein­zelns­te, aber nicht nur nach mei­ner Ent­las­sung; so­fort, mor­gen schon wür­de ich an die Aus­füh­rung mei­ner Plä­ne ge­hen.

Ich wür­de mir einen jun­gen, schnei­di­gen An­walt be­stel­len und Ge­gen­kla­ge er­he­ben in der Schei­dungs­sa­che Som­mer ge­gen Som­mer, und ich wür­de be­an­tra­gen, Mag­da als schul­di­gen Teil zu ver­ur­tei­len. Hat­te ich doch einen Zeu­gen, den Ober­wacht­meis­ter Fritsch, vor dem sie selbst den Ehe­bruch zu­ge­ge­ben hat­te. Ach, ich wür­de Mag­da noch alle Ur­sa­che ge­ben, die­ses un­be­son­ne­ne Ein­ge­ständ­nis zu be­reu­en, und ich hat­te al­len Grund zur Hoff­nung, dass auch die­ser hoch­an­stän­di­ge, er­folg­rei­che Ge­schäfts­mann Herr Hein­rich Hein­ze ihr schwe­re Vor­wür­fe des­we­gen nicht er­spa­ren wür­de!

Dar­über hin­aus wür­de ich aber noch den An­trag stel­len, dass der schei­den­de Rich­ter den bei­den ehe­bre­che­ri­schen Tei­len die Ehe mit­ein­an­der für ewig ver­bie­ten soll­te. Oh, sie soll­te die­se er­sehn­te Art Glück­lich­sein schon ken­nen­ler­nen, die gute Mag­da, un­ter mei­ner Fuch­tel! Ich wür­de mein Ge­schäft ver­kau­fen und den bei­den im­mer auf den Fer­sen blei­ben, ein ste­ter Ra­cheen­gel, ein ewi­ges Mahn­mal be­gan­ge­ner Schuld! Mir wür­de das schon nicht über wer­den; war ich ein schlech­ter Part­ner in der Lie­be, wie Mag­da plötz­lich ent­deckt hat­te, so war ich ein umso bes­se­rer im Has­sen!

Und ich mal­te mir aus, wie ich auf mei­nen Rei­sen im Ho­tel­zim­mer ne­ben dem ih­ren schla­fen und durch ge­heim­nis­vol­le Klopf­zei­chen ih­ren Schlaf stö­ren wür­de. Ich sah mich, un­er­kenn­bar ver­klei­det, in das glei­che Zug­ab­teil wie sie stei­gen und hin­ter ei­ner dunklen Bril­le her­vor ihr Tun be­ob­ach­ten; ich fuhr mit ei­nem Auto hin­ter ih­nen drein und brems­te erst im al­ler­letz­ten Au­gen­blick, mich an ih­rer To­des­angst wei­dend, und ich sah sie – herr­lichs­tes Bild mei­ner Ra­che – ster­ben, hin­ge­mor­det von mir, aber un­ent­deck­bar, und ihn an ih­rer Sei­te kni­en, völ­li­ger Verzweif­lung hin­ge­ge­ben, und ich stand ne­ben ihm und flüs­ter­te ihm mei­ne Tat ins Ohr, ge­wiss, sie war un­ent­deck­bar.

Ich ras­te, die Bil­der jag­ten sich in mei­nem Hirn, ich hat­te Fie­ber. Mei­ne Ge­fähr­ten schlie­fen schon längst, und noch im­mer stand ich am Zel­len­fens­ter, spann das Ge­we­be mei­ner Ra­che im­mer dich­ter und ver­wor­re­ner, zum kal­ten Ge­fun­kel der Ster­ne auf­bli­ckend.

Der Mor­gen kam und fand mich leer und in fast völ­li­ger Apa­thie. Ich wer­de mein Früh­stück ja wohl mit den an­de­ren ge­ges­sen ha­ben, er­in­nern kann ich mich nicht dar­an. Noch vor dem An­tre­ten zur Ar­beit be­nutz­te ich einen un­be­wach­ten Au­gen­blick und schlüpf­te in mei­ne Ar­beits­zel­le hin­über – der An­blick mei­ner Lei­dens­ge­nos­sen ekel­te mich. Ich nahm ein paar Bors­ten zwi­schen die Fin­ger und ver­such­te, sie in das Bürs­ten­loch ein­zu­füh­ren; ich hat­te zu vie­le ge­grif­fen, wie in mei­ner ers­ten An­fän­ger­zeit! Ich ließ sie acht­los auf den Bo­den fal­len und ging an den Schrank. Ich hat­te jetzt in ihm Brief­pa­pier und Um­schlä­ge, ich muss­te den Brief an den An­walt schrei­ben. Aber, so dring­lich mir das auch in der Nacht noch er­schie­nen war, jetzt konn­te ich mich nicht dazu auf­raf­fen.

Ich starr­te eine Wei­le auf das Pa­pier, dann ging ich ans Fens­ter. Drau­ßen herbs­tel­te es schon. Graue Ne­bel­schwa­den zo­gen über das Land. Ich sah die ers­ten frü­hen Kar­tof­fel­budd­ler zwi­schen den Rei­hen. »Es wird Herbst«, sag­te ich zu mir. »Das ist schlimm.« Ich wuss­te selbst nicht, was ich mein­te. Ich wuss­te nur, dass es schlimm um mich stand, sehr schlimm.

Zwei Zei­len ei­nes Ge­dichts, das ich ein­mal ge­le­sen, zo­gen mir durch den Kopf: »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Hart­nä­ckig ka­men sie wie­der, sie wie­der­hol­ten sich in mir mit ei­ner ver­zwei­fel­ten Hart­nä­ckig­keit. »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Zwei Wor­te ge­sell­ten sich noch dazu: »Flie­ge fort, flie­ge fort!« Ja, wer fort­flie­gen könn­te von die­ser be­schmutz­ten Erde, von die­sem be­su­del­ten Ich! Aber im­mer wie­der: »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Und im­mer nach­klin­gend die Mah­nung: »Flie­ge fort! Flie­ge fort!«

 

Ich sah nach dem star­ken Schnei­de­mes­ser hin­über, mit dem ich die Bors­ten glatt schnitt. Es wür­de ein Leich­tes sein, sich mit ihm den Arm auf­zu­schnei­den, dass ich ver­blu­te­te. Aber ich wuss­te, ich wür­de nie den Mut dazu ha­ben. Denn ich war fei­ge, in die­ser Mi­nu­te ge­stand ich es mir rück­halt­los ein, dass ich ein Feig­ling war; bei der Auf­zäh­lung mei­ner schlech­ten Ei­gen­schaf­ten hat­te Mag­da die­se noch ver­ges­sen. »Flie­ge fort!« Und doch zu fei­ge …

So fand mich der Ober­pfle­ger, der mich un­ter den zu Ver­bin­den­den ver­misst hat­te. Er fuhr mich hart an: Mei­ne Fu­run­kel wür­den nie bes­ser wer­den, wenn ich nicht selbst für re­gel­mä­ßi­ges Ver­bin­den sorg­te!

Ich folg­te ihm voll­stän­dig gleich­gül­tig ins Arzt­zim­mer. Der Strom der Lei­den­den hat­te sich schon ver­lau­fen, ich war der Letz­te. Der Ober­pfle­ger riss mir die Ver­bän­de ab, salb­te und jo­dier­te oder stach auch ein­mal in einen ihm reif schei­nen­den Fu­run­kel. Und so emp­find­lich ich sonst ge­gen Schmerz bin, an die­sem Mor­gen mach­te mir das al­les gar nichts. Ich war völ­lig stumpf.

Dann klin­gel­te das Te­le­fon im Glas­kas­ten. Der Ober­pfle­ger ging dort­hin, die Tür weit of­fen­las­send. Ei­nen Au­gen­blick stand ich noch re­gungs­los, dann such­te mein Blick den Me­di­ka­men­ten­schrank, sei­ne Tür stand weit of­fen. Rasch trat ich einen Schritt auf ihn zu. Dort lag Ver­ges­sen für vie­le Stun­den, Aus­lö­schen der un­er­träg­li­chen Qual, un­ter der ich jetzt leb­te. Gute, Frie­den schen­ken­de Schlaf­mit­tel für vie­le Tage. Mei­ne Hand griff nach ei­nem Glas­röhr­chen, als mein Blick auf eine Rei­he Fla­schen fiel, die im un­ters­ten Fach stan­den. Gleich vornan stand eine hel­le Fla­sche mit dem Eti­kett: »Al­ko­hol 95%«.

Ich hat­te kei­nen Ent­schluss ge­fasst, ich han­del­te rein me­cha­nisch. Ich küm­mer­te mich auch nicht um die of­fen­ste­hen­de Tür oder den Ober­pfle­ger, der je­den Au­gen­blick zu­rück­kom­men muss­te. Ich nahm die Fla­sche und ging zu dem in die Wand ein­ge­las­se­nen Wasch­tisch. Ich nahm ein Was­ser­glas und füll­te es zu zwei Drit­teln mit Al­ko­hol, dann füll­te ich Was­ser nach, sehr vor­sich­tig. Mei­ne Hand hat da­bei nicht ge­zit­tert. Ich setz­te das star­ke Ge­misch an den Mund und trank es mit drei, vier Schlu­cken leer.

Ei­nen Au­gen­blick stand ich wie be­täubt, eine un­ge­heu­re Hel­le brei­te­te sich rasch in mir aus. Ich lä­chel­te, ach, das Glück, noch ein­mal das schran­ken­lo­se, herr­li­che Glück. Mei­ne Eli­nor, du rei­ne d’al­cool! Wie ich dich lie­be! Wie – ich – dich – lie­be! Dann bin ich be­wusst­los vorn­über zu Bo­den ge­stürzt, ge­ra­de auf mein ge­schän­de­tes Ge­sicht.

64

Es hat kei­nen Ter­min mei­net­we­gen ge­ge­ben. Das Ver­fah­ren ge­gen mich wur­de nach § 51 ein­ge­stellt und mei­ne dau­ern­de Un­ter­brin­gung in ei­ner Heil- und Pfle­gean­stalt ver­fügt. Ei­nen Schei­dungs­ter­min gab es wohl, aber ich brauch­te zu ihm nicht zu er­schei­nen, da­mals war ich schon ent­mün­digt. Ein Ober­se­kre­tär, vor­ne in der Ver­wal­tung der An­stalt, ist mein Vor­mund ge­wor­den. Üb­ri­gens sind wir bei­de schul­dig ge­schie­den, aber Mag­da hat ih­ren Hein­rich Hein­ze hei­ra­ten dür­fen, über mei­nen An­trag ist gar nicht ver­han­delt wor­den. Ich bin ja nur ein Geis­tes­kran­ker. Ich habe die Hei­rats­an­zei­ge in der Zei­tung ge­se­hen. Jetzt ha­ben sie zwei Kin­der, einen Jun­gen und ein Mäd­chen; sie ha­ben die Ge­schäf­te zu­sam­men­ge­legt …

Was geht mich das al­les an? Was geht mich die Welt drau­ßen noch an? Es ist mir al­les gleich­gül­tig ge­wor­den, ich bin ein al­tern­der, ab­scheu­lich aus­se­hen­der Bürs­ten­ma­cher, mitt­ler­er Ar­beits­leis­tung, geis­tes­krank. Die Zei­ten der ers­ten to­ben­den Verzweif­lung sind längst vor­bei, schon längst habe ich es auf­ge­ge­ben, mei­nen Arm un­ter das Schnei­de­mes­ser zu le­gen und zu ver­su­chen, ob ich nicht viel­leicht doch eine Mi­nu­te mei­nes Le­bens mu­tig bin. Ich weiß, jede ein­zel­ne Se­kun­de mei­nes Le­bens war ich ein Feig­ling, bin ich ein Feig­ling, wer­de ich ein Feig­ling sein. Um­sonst, auf et­was an­de­res zu war­ten.

Ich ge­nie­ße ein be­stimm­tes be­schränk­tes Ver­trau­en im Hau­se, ich fal­le nie läs­tig, ich ma­che kei­nem Ar­beit, ich son­de­re mich von den an­de­ren ab. Ich darf mich ziem­lich frei be­we­gen im Bau. Nur darf ich nie das Arzt­zim­mer be­tre­ten, ohne dass der Ober­pfle­ger da­bei ist, das ist mir bei acht Wo­chen stren­gem Ar­rest ver­bo­ten. Ich möch­te es oft, ich könn­te es manch­mal, aber ich wage es nie. Ich bin eben fei­ge.

Ich habe eine be­hag­li­che Stel­lung, ich habe im­mer ge­nug zu rau­chen und lei­de nie Hun­ger. Zwei­mal in der Wo­che kauft mein Vor­mund von den Gel­dern, die mei­ne frü­he­re Frau re­gel­mä­ßig für mich ein­zahlt, ein für mich, was mein Herz be­gehrt und was zu­läs­sig ist. Ich kann nie ver­brau­chen, was ein­ge­zahlt wird, ich wer­de als wohl­ha­ben­der Mann ster­ben. Ich ahne es nicht, wer mich be­er­ben wird, es in­ter­es­siert mich auch nicht. Mein frü­her er­rich­te­tes Te­sta­ment ist durch die Schei­dung hin­fäl­lig ge­wor­den, und ein neu­es darf ich nicht er­rich­ten, ich bin näm­lich geis­tes­krank.

Aber ich bin doch nicht so geis­tes­krank und apa­thisch ge­wor­den, dass ich nicht noch einen Plan hät­te und eine klei­ne Hoff­nung. Ge­wiss, den Ge­dan­ken an das Schnei­de­mes­ser habe ich auf­ge­ben müs­sen, aber ich kann er­lei­den, ich ver­mag zu er­tra­gen, was über mich her­ein­bricht. Ich bin, wie ich wohl ohne Über­heb­lich­keit sa­gen darf, ein großer Dul­der.

Ich habe noch nicht er­wähnt, dass wir im un­ters­ten Stock des An­baus im­mer fünf oder auch sie­ben Tu­ber­ku­lö­se lie­gen ha­ben, ehe­ma­li­ge Lei­dens­ge­fähr­ten, die man von uns iso­liert hat. Sie be­kom­men ein et­was bes­se­res und reich­li­che­res Es­sen und brau­chen nicht mehr zu ar­bei­ten, bis sie ster­ben. Die­se Kran­ken ha­ben klei­ne Fläsch­chen, in die sie ih­ren Aus­wurf spu­cken, und ihre Iso­lie­rung ist nicht so streng, dass ich, der ich mich ziem­lich frei im Bau be­we­gen darf, nicht manch­mal ein sol­ches Fläsch­chen er­wi­schen könn­te. Ich trin­ke es dann ein­fach aus. Ich habe schon drei sol­cher Fläsch­chen aus­ge­trun­ken, und ich wer­de noch mehr aus­trin­ken.

Nein, ich will nicht in die­sem To­ten­haus ur­alt wer­den und dann lang­sam ver­re­cken, ich will einen Tod ster­ben, wie ihn alle drau­ßen ha­ben kön­nen – nach ei­ge­ner Wahl. Ich bin si­cher, ich bin heu­te schon tu­ber­ku­lös. Ich habe stän­dig Ste­chen in der Brust und hus­te viel, aber ich mel­de mich nicht zum Arzt, ich ver­ste­cke mei­ne Krank­heit; ich will erst so krank sein, dass ich un­ter kei­nen Um­stän­den ge­ret­tet wer­den kann.

Und dann, wenn ich erst im An­bau lie­gen wer­de und die letz­te Stun­de ganz nahe ist, wer­de ich den Me­di­zi­nal­rat zu mir kom­men las­sen, und ich wer­de zu ihm spre­chen: »Herr Me­di­zi­nal­rat, ich habe Ih­nen viel Kum­mer und Är­ger ge­macht, und Sie ha­ben es mir nie ver­zei­hen kön­nen, dass Sie mei­net­we­gen Ihr be­reits er­stat­te­tes Gut­ach­ten wie­der um­sto­ßen muss­ten, wo­durch Ihr Ruf als Psych­ia­ter bei den Ge­rich­ten ge­lit­ten hat. Aber nun, da mein Tod ganz nahe ist, ver­zei­hen Sie mir, und tun Sie mir noch einen letz­ten Ge­fal­len.«

Und er wird sei­nen Frie­den mit mir schlie­ßen, weil ich ein Ster­ben­der bin, und man ei­nem Ster­ben­den nichts ab­schlägt, und wird fra­gen, was für ein Ge­fal­len das ist.

Und ich wer­de wie­der zu ihm spre­chen: »Herr Me­di­zi­nal­rat, ge­hen Sie ins Arzt­zim­mer und mi­schen Sie mir mit ei­ge­ner Hand aus Al­ko­hol und Was­ser einen Schnaps, nur ein Was­ser­glas voll. Nicht so einen, dass ich so­fort hin­stür­ze und nichts von ihm habe, wie da­mals, son­dern einen, der mich wirk­lich noch ein­mal glück­lich macht.«

Und er wird mir mei­nen Wunsch er­fül­len und mit dem Glas an mein La­ger tre­ten, und ich wer­de trin­ken, nach so vie­len Jah­ren der Ent­beh­rung end­lich wie­der trin­ken, Schluck für Schluck, in lan­gen Ab­stän­den, voll das un­end­li­che Glück aus­kos­tend.

Und ich wer­de noch ein­mal jung wer­den, und ich wer­de die Welt blü­hen se­hen mit al­len Früh­lin­gen und al­len Ro­sen und den jun­gen Mäd­chen von eh und je. Eine aber wird vor mich tre­ten und wird ihr blei­ches Ge­sicht über mich, der vor ihr auf die Knie fällt, nei­gen, und ihre dunklen Haa­re wer­den mich ganz ein­hül­len. Ihr Duft wird um mich sein, und ihre Lip­pen auf den mei­nen lie­gen, und ich wer­de nicht mehr alt und ver­un­stal­tet, son­dern jung und schön sein, und mei­ne rei­ne d’al­cool wird mich hin­auf zu sich zie­hen, und wir wer­den ent­schwe­ben in Rausch und Ver­ges­sen, aus de­nen es nie ein Er­wa­chen gibt!

Und wenn mir so ge­schieht in mei­ner To­des­stun­de, wer­de ich mein Le­ben seg­nen, und ich wer­de nicht um­sonst ge­lit­ten ha­ben.

ENDE

Wer einmal aus dem Blechnapf frisst

Vorwort des Verfassers

Ei­ne der ers­ten Ta­ten der Na­zis war es, dass sie die­ses Buch vom Blech­napf auf die schwar­ze Lis­te setz­ten. Eine der ers­ten Ta­ten des neu­en de­mo­kra­ti­schen Deutsch­lands ist es, die­ses Buch wie­der zu dru­cken. Dies scheint mir bei­na­he sym­bo­lisch: Jede Zei­le in die­sem Ro­man wi­der­strei­tet der Auf­fas­sung, die von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten über den Ver­bre­cher ge­hegt und durch­ge­führt wur­de an ih­nen. Jetzt ist wie­der Platz für Hu­ma­ni­tät, für eine Hu­ma­ni­tät, die wohl frei ist von je­der Ge­fühls­du­se­lei, die aber des Sat­zes ein­ge­denk bleibt: Ihr lasst den Ar­men schul­dig wer­den …

Ich habe bei die­sem Neu­druck kei­ne Zei­le ge­än­dert der ers­ten Auf­la­ge ge­gen­über. Vi­el­leicht den­ke ich heu­te in man­chen Din­gen an­ders als da­mals vor elf Jah­ren, als ich die­ses Buch schrieb. Um so mehr ein Grund, nichts zu än­dern. Wir kön­nen un­se­re Bü­cher nicht in je­der Le­ben­s­pha­se um­schrei­ben. Und im großen Gan­zen hat für mein Ge­fühl noch Gül­tig­keit, was ich da­mals schrieb.

So gehe denn hin­aus, Buch, in die Welt. Ich hof­fe, dass auch du für dein Teil ein we­ni­ges bei­trägst zur Hu­ma­ni­sie­rung der Men­schen – nach zwölf Jah­ren der Ver­ro­hung.

Ber­lin, am 1. De­zem­ber 1945

H. F.