Hans Fallada – Gesammelte Werke

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60

Ich soll­te sehr bald Ge­le­gen­heit be­kom­men, ei­ni­ge Er­fah­run­gen dar­über zu sam­meln. An ei­nem Nach­mit­tag kam der Ober­wacht­meis­ter Fritsch in mei­ne Zel­le und be­fahl mir kurz: »Mit­kom­men!« Fritsch, ein flei­schi­ger Mann mit blü­hen­dem Ge­sicht, war ei­ner je­ner Auf­sichts­be­am­ten, de­nen man auch ein­mal eine Fra­ge stel­len konn­te. Er sah in uns nicht nur Ver­bre­cher.

»Was ist denn los?«, frag­te ich ihn. »Zum Me­di­zi­nal­rat?«

»I wo«, ant­wor­te­te er. »Be­such. Ihre Frau. Der Me­di­zi­nal­rat hat er­laubt, dass Sie Zi­vil an­zie­hen. Ein biss­chen schnell, Som­mer, Ihre Frau war­tet, und ich habe we­nig Zeit.«

Er führ­te mich auf die Klei­der­kam­mer, wo auf ei­nem Re­gal mein Kof­fer ziem­lich ein­sam da­stand – die meis­ten Kran­ken wa­ren ja auf Le­bens­zeit un­ter­ge­bracht und brauch­ten kei­ne Zi­vil­sa­chen mehr. Auf ei­nem Tisch sit­zend, sah der Ober­wacht­meis­ter mir zu, wie ich mich erst aus­klei­de­te, dann wie­der an­klei­de­te. Im­mer wie­der trieb er zur Eile. Aber es ging nicht so schnell. Mei­ne Hän­de zit­ter­ten so sehr, mein Herz läu­te­te Sturm. Mag­da zu Be­such in die­sem To­ten­haus, das Le­ben kam, mich zu be­su­chen, bald wür­de ich wie­der bei ihr sein …

Und eine tie­fe Rüh­rung, eine un­end­li­che Lie­be für mei­ne Frau er­füll­te mei­ne Brust. Sie war zu mir ge­kom­men, end­lich, die lan­ge Zeit der Prü­fun­gen war vor­bei. Die Lie­be kehr­te wie­der ein bei mir. Und ich war fest ent­schlos­sen, ihr gleich beim ers­ten Zu­sam­men­sein zu zei­gen, wie tief ich sie lieb­te, dass die Zeit der Ent­frem­dung vor­über war und dass ich mich rück­halt­los und vol­ler Ver­trau­en ganz in ihre Hand gab.

Plötz­lich fiel mir et­was Schreck­li­ches ein! Es war ja Frei­tag, und am Sonn­abend wur­den wir erst ra­siert: Mein Stop­pel­bart war im al­ler­schlimms­ten Zu­stand! »Herr Ober­wacht­meis­ter!«, rief ich fle­hend, »darf ich mich noch schnell ra­sie­ren? Hier im Kof­fer ist mein Ra­sier­ap­pa­rat. Ich ma­che wirk­lich ganz schnell. Er­lau­ben Sie es doch.«

»Ganz aus­ge­schlos­sen, Som­mer«, sag­te Ober­wacht­meis­ter Fritsch kühl. »Was den­ken Sie wohl, wie viel Zeit ich habe? Und au­ßer­dem: Sie kön­nen doch Ihre Frau nicht so lan­ge war­ten las­sen!«

»Aber es ist doch so wich­tig, dass ich bei die­sem ers­ten Zu­sam­men­sein we­nigs­tens ei­ni­ger­ma­ßen an­stän­dig aus­schaue! Was soll denn mei­ne Frau von mir den­ken?«

»Was das an­geht, Som­mer«, mein­te der Fritsch kühl, »glau­be ich, dass auch Ra­sie­ren Sie nicht we­sent­lich ver­schönt. Hat Ihre Frau sich mit Ih­rer Nase ab­ge­fun­den, wird sie die paar Haa­re auch schlu­cken!«

»Aber sie hat die Nase doch noch nie so ge­se­hen!«, rief ich im­mer ver­zwei­fel­ter. »Das ist doch erst im Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis pas­siert!«

Aber al­les half mir nichts, Fritsch blieb un­er­bitt­lich, und ich muss­te mit ihm, die trau­rigs­te Fi­gur von der Welt; auch das gnä­digst vom Arzt be­wil­lig­te Zi­vil konn­te dar­an nichts än­dern, au­ßer­dem war es vom lan­gen Lie­gen im Kof­fer völ­lig zer­drückt.

Ich tre­te mit dem Be­am­ten in das Ver­wal­tungs­ge­bäu­de ein. Der Gang vor mir ist lang, trü­be und dun­kel, mir zit­tern die Knie, ich möch­te mich an die Wand leh­nen und um eine Mi­nu­te der Samm­lung und Ruhe bit­ten. Aber die Stim­me des Ober­wacht­meis­ters klingt be­fehls­ha­be­risch hin­ter mir: »Los! Los, Som­mer! Die drit­te Tür rechts!« Wenn er jetzt nur nicht so mi­li­tä­risch laut brül­len wür­de, jetzt kann ihn doch Mag­da schon hö­ren!

Die Hand auf die Klin­ke und auf­ge­macht die Tür! Kein Za­gen hilft, un­barm­her­zig wirst du vor­wärts ge­zwun­gen in die­sem Le­ben, du Ar­mer, es gibt nicht Ruhe, nicht Ver­wei­len!

Ich sehe Mag­da, sie hat am Fens­ter ge­ses­sen, nun ist sie auf­ge­stan­den und schaut mir ent­ge­gen. Ei­nen Au­gen­blick be­mer­ke ich den Aus­druck von fra­gen­dem Er­stau­nen in ih­rem Ge­sicht.

Aber schon eile ich auf sie zu, die Arme aus­ge­brei­tet, ich rufe: »Mag­da, Mag­da, dass du ge­kom­men bist! Ich dan­ke dir so …« Ich schlie­ße sie in mei­ne Arme, ich will sie auf den Mund küs­sen wie in je­nen al­ten Ta­gen, die nun wie­der neu wer­den sol­len …

Und ich be­mer­ke einen Aus­druck schau­dern­der Ab­wehr in ih­rem Ge­sicht. »Bit­te, nicht!«, flüs­tert sie, noch in mei­nen Ar­men, plötz­lich fast atem­los. »Bit­te nicht hier!«

Ich habe sie los­ge­las­sen, alle Freu­de ist aus mir ge­wi­chen, ein kal­tes dro­hen­des Schwei­gen ist in mir.

Sie sieht mich an, noch im­mer liegt ein Aus­druck ver­wirr­ten Stau­nens auf ih­rem Ge­sicht. »Ich hät­te dich bei­na­he nicht er­kannt«, flüs­tert sie, noch im­mer atem­los. »Was ist mit dir ge­sche­hen? Was hat dich da …«, sie wagt nicht ein­mal das Wort aus­zu­spre­chen, »was hat dich da so ver­än­dert?«

Ober­wacht­meis­ter Fritsch hat sich in un­se­rem Rücken auf einen Stuhl ge­setzt und räus­pert sich jetzt recht laut.

Ich weiß, dass es un­zu­läs­sig ist, wenn wir bei­de hier so am Fens­ter ste­hen und mit­ein­an­der tu­scheln. Mit ge­spiel­ter Leich­tig­keit sage ich: »Wol­len wir bei­de uns nicht hier an den Tisch set­zen, Mag­da?« Wir tun es.

Dann: »Du fin­dest, dass ich mich ver­än­dert habe? Dir ge­fällt mein Aus­se­hen nicht? Nun, um dir die Wahr­heit zu ge­ste­hen, es ge­fiel mir sel­ber nicht, als ich mich vor Kur­zem zum ers­ten Male wie­der in ei­nem Spie­gel sah.« (Das hät­te ich nicht sa­gen dür­fen, Ober­wacht­meis­ter Fritsch kann mich nach­her fra­gen, wo­her ich den Spie­gel hat­te, und gleich habe ich den Kal­fak­tor Herbst in die Pfan­ne ge­hau­en. Spie­gel sind doch auf der Sta­ti­on ver­bo­ten! Man kann eben nicht vor­sich­tig ge­nug sein auf die­ser Sta­ti­on!)

Ich la­che rasch: »Aber man ge­wöhnt sich dran, Mag­da, ich sehe nicht so schlimm aus, wie du jetzt denkst; ich bin eher bes­ser als schlim­mer ge­wor­den …« Bei den letz­ten Wor­ten, in die ich eine tiefe­re Be­deu­tung leg­te, habe ich die Stim­me be­zeich­nend ge­senkt.

Aber Mag­da ach­tet nicht dar­auf. »Was ist denn mit dei­ner – Nase ge­sche­hen?« End­lich kann sie das Wort aus­spre­chen, wenn auch erst nach kur­z­er Hem­mung. »Sie sieht wirk­lich böse aus, Er­win!«

»Ein Mit­ge­fan­ge­ner woll­te sie mir ab­bei­ßen, das war noch im Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis«, be­rich­te ich. »Es war je­ner Po­la­kow­ski, der dein Sil­ber­zeug stahl, Mag­da, du weißt.« Sie sieht mich nur an, mit ei­nem leich­ten Zu­cken um den Mund. Vi­el­leicht hät­te ich das wie­der nicht sa­gen sol­len, viel­leicht denkt Mag­da jetzt, dass ich es war, der zu­erst ihr Sil­ber­zeug stahl. Aber nein, so tö­richt und un­ge­recht kann Mag­da nicht den­ken, das Sil­ber war von mei­nem Gel­de ge­kauft, es war also mein Sil­ber, von Dieb­stahl kann nicht die Rede sein. »Ich habe ja ver­sucht, es dir wie­der­zu­be­schaf­fen, aber lei­der ver­geb­lich. Du hast nichts mehr da­von ge­hört, Mag­da?«

Sie be­wegt ver­nei­nend den Kopf, als sei das al­les ganz un­we­sent­lich. »Du bist auch sonst ver­än­dert, Er­win«, be­harrt sie, »dei­ne Stim­me klingt ganz an­ders, viel lau­ter …«

»Wir sind sechs­und­fünf­zig Män­ner auf mei­ner Sta­ti­on, Mag­da«, er­klä­re ich ihr, »über drei­ßig es­sen mit mir in ei­nem Raum, da muss man sei­ne Stim­me schon et­was an­stren­gen, wenn man ver­stan­den wer­den will.«

»Ich ver­ste­he.« Sie lä­chelt schwach, ab­weh­rend. »Du führst ein sehr ver­än­der­tes Le­ben, du, der im­mer so für Zu­rück­hal­tung und Iso­lie­rung war.« Aber wie­der, mit ei­ner stö­ren­den Hart­nä­ckig­keit, kommt sie auf mein Aus­se­hen zu­rück, sie kann sich gar nicht dar­an ge­wöh­nen. »Du siehst aber auch sonst schlecht aus, Er­win. Fehlt dir was?«

»Nichts«, ant­wor­te ich über­le­gen. »Fast nichts. Ein paar Fu­run­kel, sieh hier, im Na­cken habe ich auch wel­che, und auf dem Rücken … Aber dar­an ge­wöhnt man sich, alle in die­sem Bau ha­ben sie …«

(Der Ober­wacht­meis­ter Fritsch räus­pert sich mah­nend. Das ist wohl schon un­ziem­li­che Kri­tik an der An­stalt. Aber ich den­ke nicht dar­an, dar­auf zu ach­ten.)

Ich fah­re fort: »Und wenn ich ma­ger ge­wor­den bin und et­was grau aus­se­he, nun, Mag­da, wir be­kom­men hier nicht alle Tage ge­ra­de Gän­se­bra­ten mit Rot­kohl, in der Haupt­sa­che wer­den wir mit gu­tem, heißem Was­ser er­nährt …«

Nun ist mei­ne Wut doch mit mir durch­ge­gan­gen. Die­se Wut über die Zu­rück­wei­sung mei­ner Lie­be, über das Ent­set­zen Mag­das vor mir: Mit ei­ner vor Hohn zit­tern­den Stim­me habe ich ge­spro­chen, ich will ihr Herz ver­let­zen, da ich es nicht rüh­ren kann.

Ober­wacht­meis­ter Fritsch sagt dro­hend: »Noch eine sol­che Be­mer­kung, Som­mer, und ich bre­che die Sprech­stun­de ab und mel­de Sie!«

Mag­da wen­det sich an ihn: »Ach, bit­te, neh­men Sie es ihm doch nicht übel! Sie ah­nen nicht, wie er sich ver­än­dert hat, er muss Schreck­li­ches durch­ge­macht ha­ben!« Ihre Stim­me zit­tert, ich lau­sche die­ser schwach­wer­den­den weib­li­chen Stim­me mit gie­ri­gem Ent­zücken. »Er war doch vor Kur­zem noch ein blü­hen­der, gut aus­se­hen­der Mann – und jetzt, ich hät­te ihn auf der Stra­ße nicht ge­kannt!« Ein paar Trä­nen tau­chen aus der Tie­fe ih­rer Au­gen auf und rin­nen lang­sam über ihre Wan­gen.

Auch die­se Trä­nen be­ob­ach­te ich mit gie­ri­gem Ent­zücken. Nein, sie rüh­ren mich nicht. Nichts kann mein Herz mehr weich­ma­chen, zu schwer hat sie mich be­lei­digt! Aber ich ge­nie­ße es, dass nun auch sie lei­det; sie soll es auch füh­len, end­lich fühlt sie es, was sie mit mir an­ge­rich­tet hat, wie schwer sie sich durch ihre Spio­na­ge, ihre un­be­dach­te Re­de­rei ge­gen mich ver­gan­gen hat, wel­ches Ver­häng­nis sie auf mein Haupt her­ab­ge­zo­gen hat.

 

Mag­da fährt fast fie­ber­haft er­regt, halb zum Ober­wacht­meis­ter, halb zu mir ge­wen­det, fort: »Aber ich kann dir doch schi­cken, Er­win, was du brauchst! Hät­te ich das ge­ahnt! Darf ich ihm ein Pa­ket mit Ess­wa­ren schi­cken, Herr …?«

»Das dür­fen Sie, Frau Som­mer«, sagt Fritsch gnä­dig. »Auch Rauch­wa­ren sind er­laubt. Hier ist über­haupt vie­les er­laubt. Aber«, fährt er fort und sieht Mag­da au­gen­zwin­kernd aus sei­nem fet­ten Ge­sicht an, »Sie müs­sen be­den­ken, vie­le von die­sen Kran­ken wis­sen wirk­lich nicht, wann sie satt sind. Sie fres­sen und fres­sen – ein gan­zes Pa­ket voll, zwei Bro­te an ei­nem Tag! Und nach­her sind sie krank, und wir ha­ben un­se­re Mühe mit ih­nen. Man darf nicht al­les glau­ben, was die­se Kran­ken er­zäh­len.«

Und ich muss still da­bei­sit­zen und mir die­se Ge­mein­hei­ten mit an­hö­ren, der fet­te Fritsch ist mein Vor­ge­setz­ter, ich darf ihm nicht wi­der­spre­chen. Ich den­ke an die Hun­ger­ge­stal­ten drü­ben, die Kar­tof­fel­scha­len fres­sen und je­den ver­spritz­ten Trop­fen Sau­ce vom Tisch ab­le­cken, und die Wut steigt wie­der in mir hoch. Aber ich be­zwin­ge mich, ich sage rasch und lä­chelnd: »Ich dan­ke dir viel­mals für dei­ne gu­ten Ab­sich­ten, Mag­da, aber ich brau­che wirk­lich nichts. Herr Ober­wacht­meis­ter Fritsch hat ganz recht: Die Kran­ken ken­nen kein Maß. Gott sei Dank ge­hö­re ich nicht zu ih­nen, gott­lob wer­de ich wohl schon in kur­z­em von hier fort­kom­men …«

Ver­wirrt sieht mich Mag­da an. »Aber du sprachst doch eben selbst von Was­ser, Er­win …«, sagt sie.

»Ich sprach von Gän­se­bra­ten«, la­che ich, »und das Was­ser habe ich nur um des Kon­tras­tes wil­len da­ge­gen­ge­setzt. Nein, nein, Mag­da, mach dir nur kei­ne Ge­dan­ken, wir wer­den voll­kom­men aus­rei­chend er­nährt, wie dir eben Herr Fritsch auch ge­sagt hat. Schließ­lich tue ich ja auch kei­ne schwe­re Ar­beit, ich ma­che Bürs­ten, Mag­da, ich bin ein rich­ti­ger Bürs­ten­ma­cher ge­wor­den. Hät­test du das je von mir ge­dacht, Mag­da? Du sitzt auf mei­nem Stuhl im Kon­tor, und dein Mann macht un­ter­des Bürs­ten. Gibt es nicht ein Lied vom mun­te­ren Bürs­ten­ma­cher, ach nein, das ist ein mun­te­rer Sei­fen­sie­der. Aber auch ich bin mun­ter und ver­gnügt in mei­ner Zel­le beim Bürs­ten­ma­chen, ich pfei­fe und sin­ge den gan­zen Tag, ach nein, das tue ich na­tür­lich nicht, denn das ist in die­sem Haus der vie­len Er­laub­nis­se ver­bo­ten. Aber in­ner­lich pfei­fe und sin­ge ich …«

Ich habe im­mer ra­scher und höh­nen­der ge­spro­chen, mein Zorn riss mich fort, aber da­bei be­herrsch­te ich mich doch, äu­ßer­lich sah al­les ganz glatt und zu­frie­den­stel­lend aus. Ich be­merk­te die stei­gen­de Ver­wir­rung in Mag­das Ge­sicht, sie hat ein paar­mal wäh­rend mei­ner Wor­te das Ta­schen­tuch be­nutzt und an ih­ren Au­gen ge­wischt. Fritsch hat sich auf sei­nem Stuhl zu­rück­ge­lehnt und be­trach­tet ge­lang­weilt die Flie­gen an der Zim­mer­de­cke. Er ist viel zu grob be­sai­tet, um den iro­ni­schen Un­ter­ton mei­ner Wor­te her­aus­zu­spü­ren.

Üb­ri­gens hat Mag­da ein Ko­stüm an, das ich noch nicht an ihr ken­ne: ein dun­kel­grau­es, sehr schickes Ko­stüm mit ei­nem hel­len Na­del­strei­fen. Ich den­ke mit Bit­ter­keit dar­an, dass mei­ne zu mir ge­hö­ren­de Frau in ei­ner Zeit, da ich Maß­lo­ses litt, Zeit und Lust hat­te, an ein neu­es Ko­stüm zu den­ken, zur Schnei­de­rin zu ge­hen, An­pro­ben zu hal­ten … So un­ge­recht sind die Lose ver­teilt, so ge­dan­ken­los sind selbst die bes­ten Ehe­frau­en! – Üb­ri­gens sieht Mag­da gut aus, sie hat sich in der Zeit un­se­rer Tren­nung we­sent­lich er­holt, sie ist aus­ge­spro­chen hübsch. Wäh­rend ich in die­ser Zeit …

61

Nach mei­nen ra­schen, höh­ni­schen Wor­ten ist eine tie­fe Stil­le ein­ge­tre­ten, ich habe es nicht ei­lig, sie zu un­ter­bre­chen. Mag­da be­wegt sich et­was un­ru­hig auf ih­rem Stuhl hin und her, ich bin ge­spannt, was sie nun vor­brin­gen wird. Aber als sie dann zu spre­chen an­fängt, ist es nur ein Dank für die über­sand­te Ge­ne­ral­voll­macht.

»Ich brauch­te sie ei­gent­lich gar nicht. We­der auf der Post noch auf der Bank ha­ben sie we­gen mei­ner Un­ter­schrift Schwie­rig­kei­ten ge­macht. Aber ich ver­ste­he es schon, wie du es mein­test, Er­win, und ich dan­ke dir für dei­ne gute Mei­nung.« Sie reicht mir ihre Hand über den Tisch, und ich fas­se sie vor­sich­tig und kühl, hüte mich, sie wär­mer zu drücken. Die Hand kehrt et­was ent­täuscht zu ih­rer Be­sit­ze­rin zu­rück.

»Und wie ge­hen die Ge­schäf­te?«, fra­ge ich, um nur et­was zu fra­gen.

Mag­da aber be­lebt sich. »Ich freue mich, dir sa­gen zu kön­nen, Er­win, dass die Ge­schäf­te gut ge­hen, ja­wohl, aus­ge­spro­chen gut. Die Ern­te ist recht be­frie­di­gend aus­ge­fal­len, und wir ha­ben einen sehr schö­nen Um­satz er­zie­len kön­nen. Be­son­ders in Hül­sen­früch­ten habe ich ein un­glaub­li­ches Glück ge­habt. Ich kauf­te, ehe die Prei­se dann so plötz­lich an­zo­gen …«

Eine Wei­le re­den wir nun ru­hig von den Ge­schäf­ten. Wirk­lich eine tüch­ti­ge Frau, ganz un­be­streit­bar. Wie ihr Auge leuch­tet, ihre Stim­me le­ben­dig wird, wenn sie da­von spricht! So leuch­te­te ihr Auge vor­her nicht, als es um ih­ren Mann ging. Aber so war es schon im­mer bei ihr – das Ge­schäft, der Gar­ten, das Haus: Al­les war ihr wich­ti­ger als der Mann. Ich könn­te ei­fer­süch­tig wer­den auf die­se to­ten Din­ge, wenn das nicht doch ein biss­chen lä­cher­lich wäre. Aber viel­leicht nicht so lä­cher­lich wie die­se auch vom Arzt ge­rühm­te Tüch­tig­keit. Wür­de sie ei­ni­ger­ma­ßen ver­nünf­tig über­le­gen, sie mach­te sich die gan­ze Pla­ge nicht, ver­pach­te­te das Ge­schäft ge­gen eine klei­ne Ren­te und leb­te be­hag­lich in un­se­rem Ei­gen­tum. Aber auf so et­was kommt na­tür­lich so eine Frau nicht.

So ge­hen mei­ne Ge­dan­ken im­mer wei­ter, wäh­rend ich zer­streut Mag­das eif­ri­gem Re­den lau­sche, das die Erin­ne­rung an alte Kun­den wach­ruft, an Fahr­ten durch ab­seits lie­gen­de Dör­fer, glück­li­che Ab­schlüs­se … Aber plötz­lich wer­de ich hell­hö­rig, denn Mag­da hat plötz­lich von »un­se­rer Kon­kur­renz« ge­spro­chen, je­nem jun­gen An­fän­ger, der sich mir zum Trotz in mei­ner Va­ter­stadt eta­blier­te und mir schon ein paar­mal recht zu schaf­fen mach­te. Irre ich mich, oder klingt jetzt noch ein ganz be­son­de­rer Un­ter­ton in Mag­das Stim­me, et­was Wär­me­res als vor­her? Ich höre sehr auf­merk­sam an, was Mag­da da er­zählt.

»Ja, den­ke dir, Er­win, ich habe Herrn Hein­ze jetzt per­sön­lich ken­nen­ge­lernt. Ich hat­te mich ei­nes Ta­ges doch zu sehr über die­ses stän­di­ge ge­gen­sei­ti­ge Un­ter­bie­ten ge­är­gert, bloß um ein­an­der die Kun­den ab­zu­fan­gen, an de­nen wir schließ­lich gar ver­lo­ren. Da bin ich ein­fach zu ihm auf sein Büro ge­gan­gen und habe ihm ge­sagt: ›Ich bin Frau Som­mer, Herr Hein­ze, und nun wol­len wir doch ein­mal se­hen, ob wir bei­de nicht zu ei­nem ver­nünf­ti­gen Ab­kom­men ge­lan­gen kön­nen! Für bei­de Fir­men gibt es ein Aus­kom­men hier in der Stadt, aber wenn wir uns wei­ter so un­ter­bie­ten, wer­den wir alle bei­de Plei­te ma­chen!‹ Das habe ich ihm ge­sagt!« Mag­da sieht mich tri­um­phie­rend an.

»Und was ant­wor­te­te er?«, fra­ge ich ge­spannt.

»Nun«, sag­te sie, und wie­der fiel mir der war­me Un­ter­ton in ih­rer Stim­me auf, »Herr Hein­ze ist nicht nur ein ge­bil­de­ter, son­dern auch ein klu­ger Mann. In fünf Mi­nu­ten wa­ren wir zu ei­nem Ab­kom­men ge­langt. Je­den Mor­gen, Mit­tag und Abend ver­stän­di­gen wir uns über die Prei­se, die wir zah­len, kei­ner bie­tet auch nur einen Gro­schen mehr oder we­ni­ger, und nach Kun­den an­geln ge­hen ist über­haupt ab­ge­schafft!«

»O du Ah­nungs­lo­se«, rief ich. »Der wird dich schön rein­le­gen, der Hein­ze ist doch ein ganz ge­ris­se­ner, mit al­len Sal­ben ge­salb­ter Ha­lun­ke! Ins Ge­sicht ver­spricht er dir na­tür­lich al­les, aber hin­ten­rum fischt er dir einen Kun­den nach dem an­de­ren weg. Schließ­lich hat er das Ge­schäft fest in Hän­den, und du stehst ohne al­les da!«

»Ar­mer Er­win«, sag­te Mag­da, »im­mer noch so voll Miss­trau­en! Nein, ich habe Herrn Hein­ze recht gut ken­nen­ge­lernt – ich bin auch so manch­mal mit ihm zu­sam­men …«

Ich wun­der­te mich, was hin­ter die­sem »auch so« wohl steck­te, aber Mag­da war nicht er­rö­tet.

Sie fuhr fort: »So­weit ken­ne ich die Men­schen doch, dass ich sa­gen kann: Herr Hein­ze ist ein in­ner­lich voll­kom­men sau­be­rer, an­stän­di­ger Mann, auf den ich mich jetzt blind­lings ver­las­se. Und wenn du mich für ver­trau­ens­se­lig hältst, Er­win, so ge­nügt dir viel­leicht der Be­weis aus un­se­ren Bü­chern: Wir ha­ben un­se­ren Um­satz in die­sem Herbst um das An­dert­halb­fa­che ge­stei­gert. Das wäre doch wohl kaum der Fall, wenn Herr Hein­ze uns die Kun­den weg­ge­schnappt hät­te!« Sie sah mich mit tri­um­phie­ren­den, freu­deglän­zen­den Au­gen an.

Ich sag­te ei­sig: »Die Zah­len al­lein be­wei­sen auch noch nichts. Du sagst, die Ern­te war gut, und das Wet­ter war ei­nem frü­hen Drusch be­stimmt güns­tig, da kann der Um­satz für eine kur­ze Zeit sehr wohl stei­gen und ei­nem da­bei doch Kun­den ver­lo­ren­ge­hen … Üb­ri­gens, ich er­in­ne­re mich gar nicht, war die­ser Hein­ze nicht ver­hei­ra­tet?«

»Doch!« nick­te Mag­da. »Aber er ist seit ei­nem Jahr ge­schie­den.«

»Soso«, ant­wor­te­te ich mög­lichst gleich­gül­tig. »Also ge­schie­den. – Na­tür­lich schul­dig ge­schie­den?«

»Wie du auch fra­gen kannst!«, rief Mag­da bei­na­he zor­nig. »Ich habe dir doch ge­sagt: Er ist ein ganz sau­be­rer Mann. Na­tür­lich lag die Schuld auf der an­de­ren Sei­te!«

»Na­tür­lich …«, wie­der­hol­te ich ein we­nig spöt­tisch. »Ent­schul­di­ge nur, du bist ja di­rekt be­geis­tert von die­sem Mann, Mag­da!«

Ei­nen Au­gen­blick zö­ger­te sie, dann ant­wor­te­te sie mit fes­ter Stim­me: »Das bin ich auch, Er­win!«

Wir sa­hen uns eine lan­ge Zeit stumm an. Viel Un­ge­sag­tes lag in der Luft. Selbst Ober­wacht­meis­ter Fritsch hat­te was ge­merkt, er hat­te sich auf sei­nem Stuhl vor­ge­lehnt, die Ell­bo­gen auf die Knie ge­stützt, und be­trach­te­te uns bei­de ge­spannt. Üb­ri­gens war die üb­li­che Sprech­stun­den­zeit längst über­schrit­ten.