Hans Fallada – Gesammelte Werke

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57

Eine Än­de­rung in mei­nem Ver­hält­nis zum Arzt trat erst ein, als er mich ei­nes Ta­ges zu ganz un­ge­wohn­ter Stun­de, näm­lich am frü­hen Nach­mit­tag, in mei­ner Zel­le auf­such­te. Ich hat­te ge­ra­de ge­raucht, was auf den Ar­beits­zel­len ver­bo­ten ist, aber, ob­wohl die Luft noch von Ta­baks­rauch er­füllt war, mach­te er kei­ne Be­mer­kung dar­über, so streng er sonst auf die Be­fol­gung der Haus­ord­nung sah. Er trug an die­sem Tage nicht sei­nen hel­len Ärz­teman­tel und war auch nicht von sei­nem ewi­gen Schat­ten, dem Ober­pfle­ger, be­glei­tet.

Ei­nen Au­gen­blick sah Dr. Stie­bing auf mei­ne Ar­beit und frag­te dann et­was zer­streut: »Nun, wie kom­men Sie mit der Bürs­ten­ma­che­rei zu­recht, Som­mer?«

»Ganz gut, Herr Me­di­zi­nal­rat«, ant­wor­te­te ich. »Ich glau­be, der Ar­beits­in­spek­tor ist zu­frie­den mit mir.«

Er nick­te, wie­der recht zer­streut, mei­ne gu­ten Ar­beits­leis­tun­gen schie­nen ihn nicht wei­ter zu in­ter­es­sie­ren. Er griff in sei­ne Ta­sche, nahm eine sil­ber­ne Zi­ga­ret­ten­do­se her­aus und tat nun et­was, was mich völ­lig über­rasch­te, ja bei­na­he um­warf: Er bot mir die Dose an. »Bit­te schön, Herr Som­mer!«

Ich sah ihn un­gläu­big an, ein fei­nes, dün­nes Lä­cheln lag auf sei­nem Ge­sicht, als er sag­te: »Sie dür­fen sich ru­hig eine neh­men, Som­mer, wenn Ihr Arzt sie Ih­nen an­bie­tet.« Er gab mir so­gar zu­erst Feu­er und stand dann einen Au­gen­blick be­hag­lich rau­chend un­ter dem hoch an­ge­brach­ten Zel­len­fens­ter, schwei­gend. Dann sag­te er: »Ich habe ges­tern ein­mal aus­führ­lich mit Ih­rer Frau über Sie ge­spro­chen, Herr Som­mer. Ich hat­te sie ge­be­ten, ein­mal bei mir vor­bei­zu­kom­men, und ges­tern war sie bei mir.«

Ich ant­wor­te­te ihm nicht, ich sah ihn nur an, mein Herz klopf­te stark. Dass die­ser Mann ges­tern erst mit Mag­da zu­sam­men ge­we­sen war, das be­weg­te mich, das er­schüt­ter­te mich sehr. Ich konn­te nicht re­den, ich glau­be, ich zit­ter­te am gan­zen Lei­be.

»Ja«, sag­te der Arzt nach­denk­lich. »Ich habe mir von Ih­rer Frau noch ein­mal al­les im Zu­sam­men­hang er­zäh­len las­sen, vom ers­ten An­fang Ih­rer Ehe an bis zu je­nem un­se­li­gen Abend. Ein Psych­ia­ter hört ja vie­les aus den Wor­ten von An­ge­hö­ri­gen her­aus, was sie selbst nicht ah­nen.«

Eine Wel­le zor­ni­gen Un­muts woll­te sich wie­der in mir er­he­ben. ›Al­so auch Mag­da hast du über­lis­ten wol­len und wahr­schein­lich über­lis­tet‹, dach­te ich. ›Mag­da ist ja so harm­los, die hat kei­ne Ah­nung, was für ein Mann du bist!‹ Aber die Wel­le ver­ebb­te wie­der.

Er sag­te: »Ich habe im Gan­zen kei­nen un­güns­ti­gen Ein­druck nach die­sem Be­richt Ih­rer Frau. Ich hal­te es wirk­lich für mög­lich, dass wir es mit Ih­nen noch schaf­fen, Som­mer. Sie ha­ben eine sehr tap­fe­re und tüch­ti­ge Frau …«

Wie­der ein Ge­fühl der Ab­wehr in mir: Es wäre mir lie­ber ge­we­sen, wenn der Me­di­zi­nal­rat nicht ge­ra­de das Wort »tüch­tig« im Zu­sam­men­hang mit Mag­da ge­braucht hät­te.

»Ja, Som­mer, ich kann heu­te na­tür­lich noch nichts End­gül­ti­ges sa­gen, ich möch­te Sie hier noch ein paar Wo­chen wei­ter be­ob­ach­ten. Aber wenn Sie sich wei­ter ru­hig und flei­ßig ver­hal­ten und wenn nichts Be­son­de­res vor­kommt …«

»Es wird nichts Be­son­de­res vor­kom­men, Herr Me­di­zi­nal­rat!«, rief ich er­regt aus. »Ich will hier wei­ter ganz still und flei­ßig le­ben …«

Der Arzt lä­chel­te wie­der, selbst in die­ser Mi­nu­te, da er sehr gü­tig zu mir war, moch­te ich die­ses über­le­ge­ne Lä­cheln nicht. »Nun«, mein­te er, »hier hal­ten wir Ih­nen ja auch alle Ver­su­chun­gen fern, Som­mer! Hier sich zu be­wäh­ren, be­deu­tet nicht viel. Sie müs­sen si­cher sein, dass Sie auch drau­ßen al­len Ver­su­chun­gen wi­der­ste­hen kön­nen, be­son­ders dem Al­ko­hol …«

»Ich wer­de nie wie­der Al­ko­hol trin­ken«, ver­si­cher­te ich. »Das habe ich mir schon lan­ge vor­ge­nom­men. Nicht ein­mal ein Glas Bier. Ich wer­de ganz ab­sti­nent le­ben, das kann ich Ih­nen fest ver­spre­chen, Herr Me­di­zi­nal­rat.«

»Ach, Som­mer«, sag­te der trü­be, »ver­spre­chen Sie mir bes­ser nichts! Was, glau­ben Sie, be­kom­me ich für Ver­spre­chun­gen zu hö­ren, wenn die Leu­te aus die­sem Bau her­aus wol­len?! Und ein Vier­tel­jahr drau­ßen, vier Wo­chen erst drau­ßen, sind die Ver­spre­chun­gen ver­ges­sen, und der eine stiehlt wie­der, und der an­de­re trinkt. Nein, auf Ver­spre­chun­gen gebe ich nichts – da bin ich schon zu oft her­ein­ge­fal­len.«

»Aber ich habe mich wirk­lich ge­än­dert«, sag­te ich und konn­te zum ers­ten Mal frei mit dem Arzt spre­chen. »Ich habe doch frü­her nie ge­glaubt, dass mir das pas­sie­ren könn­te. Ich habe ge­glaubt, ich könn­te mir fast al­les er­lau­ben, und Mag­da hat mich auch ver­wöhnt. Aber nun habe ich ge­se­hen, was aus mei­ner Trin­ke­rei ge­wor­den ist, und das wird mir für ewi­ge Zei­ten eine Leh­re sein. Wenn ich in der Ver­su­chung an die Wo­chen und Mo­na­te in die­sem Hau­se zu­rück­den­ke …« Ich schau­der­te.

Der Me­di­zi­nal­rat sah mich auf­merk­sam an. »Das war ein­mal ehr­lich ge­spro­chen, Som­mer«, sag­te er dann. »Wenn die­ses Er­leb­nis einen sol­chen Schock in Ih­nen her­vor­ge­bracht hat, dass er Sie ganz vom Al­ko­hol ab­ge­bracht hat, dann könn­te man es wohl wirk­lich wa­gen. Aber Sie müs­sen nun auch se­hen, in­ner­lich Ihr Ver­hält­nis zu Ih­rer Frau in Ord­nung zu brin­gen. Sie sind ein sehr leicht ge­kränk­ter Mensch, Herr Som­mer, aber ich muss Ih­nen doch ein­mal ganz of­fen sa­gen, dass Ihre Frau in Ih­rer Ehe die Füh­ren­de und Über­le­ge­ne ist. Sie ist Ihr gu­ter Geist ge­we­sen; als Sie von Ih­rer Frau ab­fie­len, fie­len Sie selbst. Ge­wöh­nen Sie sich doch an den Ge­dan­ken, dass Ihre Frau nur das Bes­te von Ih­nen will, ord­nen Sie sich ihr ein biss­chen un­ter … Das hat gar nichts Verächt­li­ches an sich, des­we­gen sind Sie noch lan­ge kein Pan­tof­fel­held. Es ist nur gut, wenn sich der Schwä­che­re vom Stär­ke­ren be­schir­men und füh­ren lässt …«

So re­de­te der Me­di­zi­nal­rat noch lan­ge auf mich ein. Es war mir nicht ganz leicht, ihm ohne al­len Wi­der­spruch zu­zu­hö­ren. Denn ganz so, wie er es schil­der­te, war es ja doch nicht. Ge­wiss war Mag­da tüch­tig, aber ich hat­te doch, seit wir das Haus be­sa­ßen, das Ge­schäft ganz gut al­lei­ne, ohne sie füh­ren kön­nen. Ge­wiss war es in der letz­ten Zeit nicht mehr so gut wie frü­her ge­gan­gen, aber das hat­te an an­de­rem ge­le­gen, an ein paar un­glück­li­chen Zu­fäl­len, nicht an mei­ner Lei­tung. Aber im­mer­hin, wenn ich da­durch aus die­sem ver­fluch­ten Hau­se kam, woll­te ich mich auch dar­ein­fin­den. Moch­te Mag­da also die Füh­ren­de sein, ich woll­te ihr schon kei­ne Schwie­rig­kei­ten ma­chen. So schwieg ich, und es söhn­te mich mit mei­ner neu­en Stel­lung zu Mag­da ja auch der Ge­dan­ke aus, dass sie so gut zum Arzt von mir ge­re­det hat­te. Sie lieb­te mich eben doch!

»Also«, schloss schließ­lich der Arzt, »ich habe Ih­nen noch nichts Fes­tes ver­spro­chen, das kann ich ja auch gar nicht. Ich wer­de in – sa­gen wir – drei oder vier Wo­chen mein Gut­ach­ten er­stat­ten, dann wird das Ge­richt den Ter­min an­set­zen, Sie wer­den eine klei­ne Stra­fe er­hal­ten, viel­leicht vier Wo­chen, viel­leicht nur vier­zehn Tage …«

»So we­nig?«, rief ich er­staunt aus.

»Nun, dar­über fra­gen Sie lie­ber einen Ju­ris­ten, ich möch­te Ih­nen kei­ne falschen Hoff­nun­gen ma­chen, ich bin nur Arzt. Und wenn Sie dann in der Frei­heit sind …«

»Wer­de ich im­mer an die­ses Haus den­ken, Herr Me­di­zi­nal­rat, das ver­spre­che ich Ih­nen!«, schloss ich.

58

Die­ser Be­such ver­än­der­te auf einen Schlag mein Füh­len, mein Den­ken, mein gan­zes Le­ben. Plötz­lich sah ich die­se jüngst ver­gan­ge­ne Zeit mit ganz an­de­ren Au­gen an: Nicht in ei­ner fast be­hag­li­chen Wun­sch­lo­sig­keit und Selbst­ge­nüg­sam­keit hat­te ich ge­lebt, son­dern in ei­ner Läh­mung mei­nes Wil­lens, in ei­ner fast völ­li­gen Hoff­nungs­lo­sig­keit, in Apa­thie. Jetzt erst be­griff ich, wie ge­ring mei­ne Hoff­nung ge­we­sen war, die­sem grau­en­haf­ten Hau­se zu ent­rin­nen, wie ich fast schon mit dem Le­ben ab­ge­schlos­sen hat­te. Hol­zens Freu­de an den klei­nen Din­gen die­ser Erde schi­en mir nun bil­lig und dumm, und ich elen­de­te abends den Ge­dul­di­gen mit lan­gen Ti­ra­den über all das, was ich nach mei­ner Ent­las­sung tun wür­de. Denn ich hat­te die Ab­sicht, sehr tä­tig zu sein.

Wohl hat­te mich der Arzt we­gen sei­ner Of­fen­heit um Ent­schul­di­gung ge­be­ten, aber die Be­mer­kung von der über­le­ge­nen Tüch­tig­keit Mag­das konn­te ich ihm nicht ver­zei­hen. Je län­ger ich dar­über nach­dach­te, um so falscher schi­en sie mir. Wenn ich erst wie­der drau­ßen war, wür­de ich ihm und Mag­da und al­ler Welt be­wei­sen, wie tüch­tig ich erst sein konn­te. Und ich plag­te den gu­ten Holz mit lan­gen Schil­de­run­gen über die Mög­lich­kei­ten des Lan­des­pro­duk­ten­han­dels, Mög­lich­kei­ten, die ich na­tür­lich alle blitz­schnell er­fas­sen und aus­nut­zen wür­de.

Um­sonst warn­te mich der durch lan­ges Dul­den Er­fah­re­ne. »Som­mer, du bist noch nicht drau­ßen! Mach nicht zu viel Plä­ne! Wer weiß, was nicht noch al­les pas­sie­ren kann!?«

Ich rief: »Was soll denn noch pas­sie­ren? Von mir hängt jetzt al­les ab, und mei­ner selbst bin ich si­cher.«

Auch in mei­nem Ar­bei­ten an den Bürs­ten hat­te ich mich sehr ge­än­dert. Nicht, dass ich schlech­ter ge­ar­bei­tet hät­te, das konn­ten mei­ne Hän­de schon nicht mehr, sie konn­ten schon den lei­ten­den Ver­stand ent­beh­ren, und mei­ne Ab­lie­fe­rung wur­de auch kaum ge­rin­ger. Aber ich ar­bei­te­te ganz stoß­wei­se.

Ei­nen hal­b­en Tag stand ich am Zel­len­fens­ter, sah stun­den­lang die rasch zie­hen­den Wol­ken am Him­mel an, freu­te mich an Wie­se, Vieh und Wald und sah lä­chelnd den auf ih­ren Rä­dern vor­über­f­lit­zen­den Mä­dels nach. Bald wür­de ich wie­der zu al­le­dem ge­hö­ren, ein Teil der Welt sein, nicht mehr her­aus­ge­löst aus ihr und bei le­ben­di­gem Lei­be schon tot!

 

Dann wie­der dach­te ich an die Wor­te des Me­di­zi­nal­ra­tes und stürz­te mich mit Feuerei­fer in die Bürs­ten­ma­che­rei. Die Ar­beit flog mir nur so durch die Hän­de. Je­der Griff saß, in zwei Stun­den war die feins­te Na­gel­bürs­te fer­tig. Manch­mal dach­te ich da­bei mit Sehn­sucht an Mag­da und emp­fand den leb­haf­ten Wunsch, sie möch­te mir bei mei­ner Ar­beit ein­mal zu­se­hen. Auch ich konn­te tüch­tig sein, un­ge­wöhn­lich tüch­tig!

Selbst das Ver­hält­nis zu mei­nen Ar­beits­ka­me­ra­den war seit die­ser Un­ter­re­dung we­sent­lich ver­än­dert. War ich ih­nen bis­her still aus dem Wege ge­gan­gen, hat­te mich nie in ihre Strei­te­rei­en ge­mischt und je­dem sei­ne Art ge­las­sen, sie moch­te noch so ab­sto­ßend sein, so be­fä­hig­te mich mei­ne jet­zi­ge gute Lau­ne, leb­haft in die Un­ter­hal­tung ein­zu­grei­fen und auch ein­mal ei­nem un­an­ge­neh­men Men­schen zu­zu­ru­fen: »Thie­de, leck doch nicht den Tisch mit der Zun­ge ab! Ist Sau­ce ver­kle­ckert, so nimm dei­nen Löf­fel!«

Ich kann nicht be­haup­ten, dass mei­ne Lei­dens­ge­nos­sen die­se Ver­än­de­rung mei­nes We­sens ins Leb­haf­te güns­tig auf­nah­men. Mei­ne wit­zi­gen Be­mer­kun­gen wur­den meist mit tie­fem, ab­leh­nen­dem Still­schwei­gen auf­ge­nom­men, und mei­ne Er­mah­nun­gen zu gu­ter Sit­te lenk­ten wüs­te Be­schimp­fun­gen auf mein Haupt. Das focht mich aber in mei­ner gu­ten Stim­mung fast gar nicht an. Ich dach­te nur bei mir: ›Ihr ar­men Ir­ren! In ein paar Wo­chen wer­de ich drau­ßen sein, wäh­rend ihr euer gan­zes Le­ben in die­sen Mau­ern hin­brin­gen wer­det. Was geht mich da euer Schimp­fen an?! Ihr exis­tiert ein­fach nicht für mich!‹

Die Ver­än­de­rung mei­ner Den­kart zeig­te sich aber nicht nur in mei­nem Be­neh­men in­ner­halb der Heil­an­stalt, sie soll­te auch nach au­ßen wir­ken. Nach­dem ich ein paar Näch­te mit mir ge­run­gen, auch den Fall gründ­lich mit Holz be­spro­chen hat­te, der mir ent­schie­den ab­riet, ließ ich den al­ten Jus­tiz­rat Hol­s­ten kom­men, einen schon et­was alt­mo­disch ge­wor­de­nen Herrn, der aber bei den an­ge­se­he­nen Bür­gern der Stadt größ­tes An­se­hen ge­noss und der auch mei­ner Fir­ma bei ge­le­gent­lich auf­tau­chen­den Rechts­fra­gen mit Rat und Tat zur Sei­te ge­stan­den hat­te.

Ich setz­te mit ihm eine Ge­ne­ral­voll­macht für Mag­da auf und ver­fass­te ein Te­sta­ment, in dem ich Mag­da zu mei­ner Al­leiner­bin ein­setz­te. Ich be­auf­trag­te den al­ten Herrn, die Voll­macht schon am nächs­ten Tage in die Hän­de mei­ner Frau, das Te­sta­ment aber an Ge­richts­stel­le zu hin­ter­le­gen. Dies war mein Dank an Mag­da für die schö­ne Art, in der sie über mich mit dem Me­di­zi­nal­rat ge­re­det hat­te, ich freu­te mich, dass ich ihr so wir­kungs­voll dan­ken konn­te.

Holz frei­lich, der in die­ser Zeit gar nicht mit mir ge­hen woll­te, stöhn­te: »Wenn du das nur nicht ei­nes Ta­ges be­reust, Som­mer! Man soll sich nie ei­nem Men­schen ganz in die Hän­de ge­ben, das ver­bie­tet doch die ein­fachs­te Vor­sicht. Und wozu auch? Es hat kei­ner von dir ver­langt, warum tust du es also.«

»Ich bin im­mer ein groß­zü­gi­ger Mensch ge­we­sen, Holz«, ant­wor­te­te ich ihm. »Ich habe im­mer eine Lei­den­schaft für Schen­ken ge­habt.«

Ich muss üb­ri­gens noch be­mer­ken, dass der Jus­tiz­rat ganz und gar nicht da­mit zu­frie­den war, die­se bei­den Ur­kun­den für mich ab­zu­fas­sen und mit sei­nem No­ta­ri­ats­sie­gel zu ver­se­hen. Nicht, als ob er mit ih­rem In­halt nicht ein­ver­stan­den ge­we­sen wäre, im Ge­gen­teil. »Es ist im­mer gut, wenn man sein Haus be­stellt, Herr Som­mer«, sag­te er. »Und Ihre Frau ist na­tür­lich die Nächs­te. Sie se­hen ei­ner un­ge­wis­sen Zu­kunft ent­ge­gen. Ha­ben Sie schon einen Ver­tei­di­ger für Ihren Ter­min ge­wählt, oder wün­schen Sie, dass ich Ihre Ver­tei­di­gung über­neh­me?«

»Dan­ke, dan­ke!«, sag­te ich leicht­hin. »Ich be­ab­sich­ti­ge, mich selbst zu ver­tei­di­gen. Im Üb­ri­gen ist die gan­ze Ge­schich­te nur eine Klei­nig­keit, die mei­ne lie­ben Mit­bür­ger viel zu sehr auf­ge­bauscht ha­ben.«

Der Jus­tiz­rat war ent­setzt über mei­ne »Leicht­fer­tig­keit«, wie er es nann­te. »Es ist nie eine Klei­nig­keit«, rief der alte Mann fast em­pört, »wenn ein an­ge­se­he­ner Bür­ger ins Ge­fäng­nis ge­hen muss, nicht nur sei­net­we­gen, son­dern vor al­lem auch um des bö­sen Bei­spiels wil­len! Las­sen Sie mich Ihre Ver­tei­di­gung über­neh­men, Herr Som­mer, viel­leicht, bei­na­he si­cher kann ich Be­wäh­rungs­frist für Sie er­wir­ken. Dann ver­mei­den Sie we­nigs­tens die ent­eh­ren­de Ge­fäng­nis­haft.«

»Mei­ne Ehre liegt al­lein bei mir«, sag­te ich stolz. »Die kön­nen mir an­de­re nicht neh­men.«

Der alte Mann schüt­tel­te mit ei­nem trü­ben Lä­cheln ver­nei­nend den Kopf.

»Im Üb­ri­gen han­delt es sich um ein im Af­fekt be­gan­ge­nes Ver­ge­hen, und die Fol­gen ei­nes sol­chen Ver­ge­hens kön­nen nie ent­eh­rend sein.«

Wie­der schüt­tel­te der alte Mann trau­rig den Kopf. »Das ist eine Spra­che«, sag­te er, »die ich in sol­chen Mau­ern häu­fig ge­nug ge­hört habe, aus Ihrem Mun­de hät­te ich sie lie­ber nicht ge­hört. Wie steht es denn mit dem Gut­ach­ten des Kreis­phy­si­kus? Wis­sen Sie et­was da­von?«

Ich ver­si­cher­te, dass al­les äu­ßerst güns­tig ste­he und dass der Me­di­zi­nal­rat mei­ne Un­ter­brin­gung in ei­ner Heil- und Pfle­gean­stalt nicht für not­wen­dig hal­te.

»Ich will es hof­fen, hof­fen will ich es von Her­zen«, rief der Jus­tiz­rat Hol­s­ten. »Nun, Herr Som­mer, jetzt muss ich mich ver­ab­schie­den. Und wenn Sie mich ge­gen Ihr jet­zi­ges Er­war­ten doch brau­chen soll­ten, Sie kön­nen mich je­der­zeit ru­fen. Ich scheue trotz mei­ner Jah­re den wei­ten Weg aus der Stadt in die­se An­stalt nicht, wenn ich Ih­nen nur hel­fen kann.«

Ich dank­te ihm fast ge­rührt, war aber über­zeugt, dass ich sei­nen Rat nie brau­chen wür­de und dass ich mich in ei­nem wirk­li­chen Not­fal­le un­be­dingt an einen jün­ge­ren und ge­schick­teren An­walt als an ihn wen­den wür­de.

59

So ver­gin­gen mir die nächs­ten Wo­chen in ver­hält­nis­mä­ßi­gem Frie­den und Be­ha­gen, ei­nem an­de­ren Frie­den, als ich vor die­ser Un­ter­re­dung mit dem Arzt emp­fun­den hat­te, ei­nem ak­ti­ver­en, mit Plä­nen und Hoff­nun­gen aus­ge­füll­ten Frie­den. Ich schlief wie­der schlech­ter, aber das konn­te mei­ne gute Stim­mung nicht mehr be­ein­träch­ti­gen: Ich war nur noch zu Gast in die­sem To­ten­haus.

Ich er­war­te­te täg­lich die An­kla­ge­schrift und die An­set­zung des Ter­mins, und wenn sie doch wie­der nicht ge­kom­men wa­ren, so hoff­te ich auf den nächs­ten Tag. Das Hof­fen im Men­schen ist wohl un­ver­wüst­bar, ich glau­be, was als Letz­tes im Hirn ei­nes Ster­ben­den ver­geht, ist eine Hoff­nung. Der Arzt ließ mich nicht mehr zu sich kom­men, ich sah ihn nach die­ser Un­ter­re­dung nicht mehr, ein Zei­chen, dass er sein Gut­ach­ten ab­ge­schlos­sen und der Staats­an­walt­schaft ein­ge­reicht hat­te.

Um­sonst ver­such­ten mei­ne Ka­me­ra­den, mich ängst­lich zu ma­chen. »Trau du dem falschen Hund! Ins Ge­sicht sagt er es dir so, und auf dem Pa­pier macht er es ganz an­ders.«

Ich lä­chel­te über­le­gen. So et­was mach­te der Arzt viel­leicht mit ih­res­glei­chen, mir ge­gen­über hat­te er sich so po­si­tiv aus­ge­spro­chen, dass an ei­nem güns­ti­gen Er­geb­nis über­haupt nicht zu zwei­feln war. Über­haupt wur­de der Mann ganz falsch be­ur­teilt – auch ich war ihm in der ers­ten Zeit nicht ge­recht ge­wor­den. Das lag an sei­nem manch­mal über­heb­li­chen, höh­ni­schen We­sen, das einen ab­stieß. Aber er war ein Mann von Kennt­nis­sen und Ein­sicht, wo er konn­te, gab er je­dem eine Chan­ce. Wo es frei­lich ganz un­mög­lich war …

Eine ein­zi­ge Sa­che nur wirk­te sich stö­rend in die­ser Zeit aus: Die Fol­gen der Un­ter­er­näh­rung mach­ten sich auch bei mir be­merk­bar, ich wur­de eben­falls von ei­ner recht stö­ren­den Fu­run­ku­lo­se be­fal­len. So­lan­ge die meist un­ter der Epi­der­mis sit­zen­den »Schweins­beu­len« nur an den Ar­men und Bei­nen auf­tauch­ten, ging es noch ei­ni­ger­ma­ßen, als sie aber auch im Na­cken und auf dem Rücken auf­tauch­ten, litt ich doch recht un­ter ih­nen. Na­ment­lich, dass ich nachts nun auf dem Bauch lie­gen muss­te, eine Stel­lung, in der ich nie habe schla­fen kön­nen, war sehr un­an­ge­nehm.

Nun ge­hör­te auch ich zu der lan­gen Rei­he de­rer, die je­den Mor­gen vor dem Arzt­zim­mer an­tra­ten und von dem Ober­pfle­ger ge­salbt oder ge­schnit­ten und schließ­lich ver­pflas­tert wur­den. Ich bin über­zeugt, eine et­was ver­nünf­ti­ge­re Er­näh­rung mit fri­schem Ge­mü­se und Obst hät­te die Ur­sa­che die­ser als ganz selbst­ver­ständ­lich an­ge­se­he­nen Pest eher be­sei­tigt als die­ses ewi­ge He­rum­dok­tern an den Fol­gen. Aber dar­an dach­te nie­mand. Uns wur­de un­ser Pflas­ter ge­ge­ben und da­mit fer­tig! Im Gan­zen konn­te auch die­se Pla­ge mir frei­lich in mei­ner jet­zi­gen hoch­ge­mu­ten Stim­mung we­nig an­ha­ben.

›Wenn ich erst drau­ßen bin …‹, das war der Ge­dan­ke, den ich je­den Tag hun­dert­mal hat­te. Es war auch ganz selbst­ver­ständ­lich, dass ich mich jetzt wie­der mehr mit mei­nem Äu­ße­ren zu be­schäf­ti­gen an­fing, da ich nun in viel­leicht schon kur­z­er Zeit ent­las­sen wer­den wür­de. Ich fing wie­der an, mei­ne Hän­de, be­son­ders mei­ne Nä­gel, zu pfle­gen, die un­ter der Ar­beit ge­lit­ten hat­ten. Ich ließ mir die Haa­re schnei­den und wusch zwei-, drei­mal wö­chent­lich mei­ne Füße. Vor al­lem aber be­schäf­tig­te ich mich mit mei­nem Ge­sicht. Zu je­ner Zeit war der Ver­band ge­fal­len und mei­ne Nase längst ver­heilt. Ich hat­te mich im­mer ge­scheut, mein Ge­sicht zu be­se­hen, und das war mir leicht ge­macht, da es kei­nen of­fi­zi­el­len Spie­gel in der An­stalt gab und das Ra­sie­ren von Lexer mit dem »Clip­per« be­sorgt wur­de. Nun aber wur­de das an­ders. Ich wuss­te, der Kal­fak­tor Herbst be­saß einen klei­nen Spie­gel, den er beim Haar­schei­teln stän­dig zu­ra­te zog. Ich borg­te ihn mir jetzt manch­mal von ihm aus.

Na­tür­lich spot­te­te er: »Wozu brauchst du denn einen Spie­gel? Willst dir wohl dei­ne Gur­ke be­trach­ten? Das lass man, die ist auch ohne An­se­hen schön ge­nug!« Er hat­te ge­nau das Rich­ti­ge mit sei­ner Ver­mu­tung ge­trof­fen, aber das brauch­te er nicht zu wis­sen. Ich mur­mel­te et­was von mei­nen Schweins­beu­len.

Als ich mei­ne Nase zu­erst im Spie­gel sah, er­schrak ich sehr. Sie war durch den Biss völ­lig de­for­miert, kurz vor der Na­sen­spit­ze hat­te sich ein tiefer Sat­tel ge­bil­det, aus dem sich die Spit­ze schief und mit brand­ro­ten Nar­ben be­deckt er­hob. Sie sah wirk­lich ab­scheu­lich aus, ich war völ­lig ent­stellt. (Die­ser ver­damm­te Po­la­kow­ski! An mei­nem gan­zen Un­glück ist ei­gent­lich die­ser Po­la­kow­ski schuld!)

Auch die wei­te­re Prü­fung mei­nes Ge­sich­tes be­frie­dig­te mich nicht, die Fol­gen des Hun­gers präg­ten sich be­reits deut­lich in ihm aus. Es war fast asch­far­ben, die Au­gen tief in die Höh­len ge­sun­ken. Ein fünf Tage al­ter spitz­stopp­li­ger Bart be­deck­te den un­te­ren Teil des Ge­sich­tes. Der Spie­gel ver­riet nur, dass ich auch in die­sem Sin­ne in die­ses To­ten­haus ein­ge­reiht war: Ich sah wahr­haf­tig nicht bes­ser aus als sei­ne schlimms­ten Ge­s­pens­ter! Nicht bes­ser? Vi­el­leicht schlim­mer!

Und ich war ein­mal ein leid­lich gut aus­se­hen­der Mann ge­we­sen, ge­wohnt, einen gu­ten An­zug un­se­res bes­ten Schnei­ders mit Chic zu tra­gen. »Was ha­ben sie aus dir ge­macht?!«, sag­te ich trau­rig zu mei­nem Spie­gel­bild. Mit ei­nem tie­fen Seuf­zer gab ich den Spie­gel an Herbst zu­rück.

»Na, nicht schön ge­nug?«, frag­te er mit ge­spiel­tem Er­stau­nen.

»Die­se ver­damm­ten Schwei­ne­beu­len!«, schimpf­te ich. »Wenn wir we­nigs­tens an­stän­dig zu fres­sen krieg­ten! Aber die Mohr­rü­ben heu­te Mit­tag wa­ren wie­der das rei­ne Was­ser! Da­bei kann kein Mensch ge­sund blei­ben!«

Da­mit hat­te ich ihn bei dem un­er­schöpf­li­chen The­ma des Hau­ses: dem Fraß, und von mei­nem per­sön­li­chen Aus­se­hen wur­de nicht mehr ge­spro­chen.

In der Fol­ge borg­te ich mir noch öf­ter den Spie­gel des Kal­fak­tors aus, von nun an aber in sei­ner Ab­we­sen­heit und ohne ihn zu fra­gen. Ich fand schon beim drit­ten oder vier­ten Mal her­aus, dass ich mein Aus­se­hen zu un­güns­tig be­ur­teilt hat­te. Als ich mich erst ein paar­mal im Spie­gel be­trach­tet hat­te, fand ich, dass ich ei­gent­lich ganz er­träg­lich aus­sah. Je­den­falls ge­wöhn­te man sich rasch an die­se klei­ne Ent­stel­lung, ich hat­te mich dran ge­wöhnt, Mag­da wür­de sich dar­an ge­wöh­nen wie mei­ne Mit­bür­ger, wie je­der­mann. Es gab Teil­neh­mer des Welt­krie­ges, die viel schlim­mer ent­stellt wa­ren, und doch hat­ten sie hüb­sche jun­ge Frau­en hei­ra­ten kön­nen und leb­ten glück­lich mit ih­nen. Ich war völ­lig da­von über­zeugt, dass die­se zer­narb­te Nase mei­nem Glück mit Mag­da kei­nen Ein­trag tun wür­de.