Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Mein zwei­ter Schlaf­ge­nos­se war der Kal­fak­tor Herbst, mein Nach­fol­ger im Na­men, ich habe ihn frü­her schon kurz er­wähnt. Mit ihm schloss ich zu­erst im Bau eine Art Freund­schaft, die aber bald des­we­gen in die Brü­che ging, weil bei mir nicht das Ge­rings­te zu ho­len war. Herbst, ein jun­ger Bur­sche von fünf­und­zwan­zig Jah­ren, der aber schon über fünf Jah­re in un­se­rem Bau war und vor­her schon eine zwei­jäh­ri­ge Ge­fäng­niss­tra­fe in ei­nem Ju­gend­ge­fäng­nis ab­ge­ris­sen hat­te, war ei­gent­lich von Be­ruf Schläch­ter und nicht frei von je­ner un­be­denk­li­chen Bru­ta­li­tät, die man man­chen Män­nern die­ses Be­ru­fes nach­sa­gen zu kön­nen glaubt.

Er war ein großer, stäm­mi­ger Bur­sche, mit ei­nem lan­gen, fet­ten Ge­sicht, fast to­ten, star­ren­den Au­gen und rot­blon­dem Haar, an dem er je­den Mor­gen min­des­tens eine Vier­tel­stun­de her­um kämm­te und bürs­te­te, zum leb­haf­ten, aber aus wei­ser Vor­sicht stumm er­tra­ge­nen Är­ger von uns an­de­ren, de­nen er da­bei in der en­gen Zel­le ewig im Wege stand.

Herbs­tens Bart aber, ehe er am Sonn­abend un­ter dem »Clip­per« fiel, ei­ner Ra­sier­ma­schi­ne, die statt der ver­bo­te­nen Klin­gen ein­ge­führt war, war bren­nend rot. Das gab An­lass zu man­cher nie­der­träch­ti­gen An­mer­kung über den Cha­rak­ter un­se­res Es­sen­kal­fak­tors, An­mer­kun­gen, die lei­der nur zu viel Be­rech­ti­gung hat­ten.

Mit ei­ner scham­lo­sen Un­be­denk­lich­keit ließ sich Herbst von al­len Sei­ten Ta­bak und Le­bens­mit­tel zu­ste­cken, Sei­fe, Obst – ohne je an eine Ge­gen­leis­tung zu den­ken. Dem, der ihm am Tage vor­her eine gan­ze Hand­voll Ta­bak ge­schenkt hat­te, ver­wei­ger­te er grob am nächs­ten Tag ein paar Krü­mel, auf de­nen der Rauch­hung­ri­ge ein biss­chen kau­en woll­te.

Sei­ne Stel­lung als Kal­fak­tor gab ihm die­ses Über­ge­wicht. Ich lern­te bald, mit schar­fen Au­gen zu be­ob­ach­ten, bei wem der Kal­fak­tor die Es­sens­kel­le stär­ker füll­te. In ei­nem Haus, in dem der Hun­ger ein un­barm­her­zi­ges Re­gi­ment führt, hat der Es­sen­ver­tei­ler leicht re­gie­ren. An sich war es na­tür­lich ver­bo­ten, dass der Kal­fak­tor selbst das Es­sen aus­gab, das ge­hör­te zu den Pf­lich­ten der Be­am­ten. Aber die Be­am­ten hat­ten oft zu viel Ren­ne­rei, oder sie wa­ren auch gleich­gül­tig. In die­sem Hau­se hät­te ein En­gel vom Him­mel her­ab­stei­gen und das Es­sen aus­tei­len kön­nen, es wäre doch ge­murrt wor­den. So ging al­les sei­nen al­ten Lauf, und der Kal­fak­tor Herbst wur­de stets fet­ter da­bei.

Die bes­ten Ge­schäf­te mach­te er aber beim Brot­schnei­den und -schmie­ren. Ich habe es schon ge­sagt, auch da­bei soll­te ein Be­am­ter an­we­send sein, aber Herbst nutz­te jede kur­ze Ab­we­sen­heit des Ober­wacht­meis­ters skru­pel­los aus und stahl Brot, Mar­ga­ri­ne, Mar­me­la­de. Da die­se Le­bens­mit­tel ihm ge­nau auf den Kopf zu­ge­wo­gen wa­ren, muss­te er aus un­se­ren Ra­tio­nen ent­spre­chend kür­zen. Aber wenn er je­dem Man­ne un­ter sechs­und­fünf­zig auch nur zehn Gramm ab­zog, hat­te er schon über ein Pfund Brot ver­dient, und an ei­nem Pfund Brot kann man sich schon satt es­sen!

Das so ge­won­ne­ne Brot fraß der Fet­te selbst, tausch­te es auch, wenn er sehr in Not war, ge­gen Ta­bak, in der Haupt­sa­che wan­der­te es aber zu je­nem »Freun­de« Kol­zer, den ich schon ein­mal kurz er­wähnt habe, als einen der bei­den jun­gen Bur­schen, die un­ter uns äl­te­re Män­ner einen Duft ver­derb­ter Lie­be tru­gen. Kol­zer war kei­ne »Hure« wie etwa der jun­ge Schmeid­ler, der sich an je­den ver­kauf­te, er war sei­nem Freun­de Herbst treu. Herbst führ­te frei­lich auch ein ge­stren­ges Re­gi­ment über ihn, schlug ihn so­gar manch­mal, so­bald er nach Herbs­tens An­sicht eine Dumm­heit be­gan­gen hat­te, füt­ter­te ihn aber auch bis zum Mäs­ten und hielt ein wach­sa­mes Auge über ihn.

Kol­zer, ein großer, kräf­ti­ger Jun­ge mit dun­kel­blon­dem Haar, hat­te ein nicht un­schö­nes Ge­sicht, das aber stumpf und ohne Le­ben wirk­te. Er war stark schwach­sin­nig, konn­te we­der le­sen noch schrei­ben, hat­te aber durch das un­er­müd­li­che Be­mü­hen sei­nes Freun­des we­nigs­tens »Mensch är­ge­re dich nicht« spie­len ge­lernt. Aber so un­ent­wi­ckelt Kol­zers Geist auch war, so gut ver­stand es der Jun­ge, sich auf der Sta­ti­on durch­zu­set­zen, und vor al­lem, sich dau­ernd von der Ar­beit zu drücken. Im­mer hat­te er klei­ne, nicht schmerz­haf­te Ver­let­zun­gen oder ge­rin­ge Fie­ber­an­fäl­le, die ihm das Ar­bei­ten ganz un­mög­lich mach­ten.

Un­ter den Kran­ken herrsch­te des­we­gen eine stän­di­ge Miss­s­tim­mung, bei Schmeid­ler war es ja ganz ähn­lich. »Die jun­gen star­ken Ben­gel sit­zen im Bau, und die al­ten ab­ge­mer­gel­ten Män­ner müs­sen die Ar­beit tun!«

Das war wohl wahr, aber Kol­zer be­saß auch einen mäch­ti­gen Für­spre­cher in der Per­son sei­nes Freun­des Herbst, der stän­dig im Glas­kas­ten aus und ein ging und der be­vor­zug­te Nach­rich­ten­trä­ger des Ober­pfle­gers war.

Kol­zer also wur­de mit Mar­ga­ri­ne- und Mar­me­la­den­schnit­ten ge­füt­tert, und da man sich im Bau nie iso­lie­ren konn­te, blieb es nicht aus, dass er von an­de­ren Kran­ken oft beim Ver­zehr des Die­bes­gu­tes er­wi­scht wur­de.

»Heu­te hat der Kol­zer wie­der auf dem Klo­sett Brot ge­fres­sen, da war so dick But­ter drauf!« (Die Mar­ga­ri­ne hieß im Haus nur »But­ter«.) Dann tob­te Herbst über die Lam­pen­ma­cher.

Zur Rede ge­stellt vom Ober­pfle­ger, er­klär­te er, dass er dem Kol­zer nur die beim Brot­schnei­den ab­ge­fal­le­nen Kru­men ge­ge­ben habe, viel­leicht sei eine ab­ge­bro­che­ne Bro­te­cke da­bei ge­we­sen, und die Mar­ga­ri­ne habe sich Kol­zer vom Ein­wi­ckel­pa­pier ab­ge­kratzt … Im Üb­ri­gen, wenn es so wei­ter­ge­he mit den Stän­ke­rei­en, schmei­ße er die Ar­beit hin und gehe wie­der in die Fa­brik. Moch­ten die an­de­ren doch se­hen, ob sie sei­nen Pos­ten bes­ser ver­se­hen könn­ten. Er sei – hier nahm sei­ne Stim­me einen kla­gen­den, wei­ner­li­chen Ton an – er sei im­mer ehr­lich und an­stän­dig ge­we­sen, aber das dür­fe man eben in die­sem Haus vol­ler Ban­di­ten nicht sein! Nein, jetzt habe er es end­gül­tig über, jetzt gehe er wie­der in die Fa­brik … Dann re­de­ten ihm die Wacht­meis­ter gut zu, und er blieb gnä­dig. Er hat­te ja auch sei­ne Vor­tei­le: Er hielt auf sich, war sau­ber und trug un­be­denk­lich den Be­am­ten al­les zu.

Zu sei­nen Ge­fähr­ten aber war Herbst nach ei­ner sol­chen An­zei­ge nicht wei­ner­lich. In sei­ner Wut über die De­nun­zia­ti­on ver­lor er jede Selbst­be­herr­schung; schnee­weiß im Ge­sicht schrie er den an­de­ren an und ver­gaß eine sol­che Be­lei­di­gung sei­ner »Ehr­lich­keit« nie. Vor dem Schla­gen nahm er sich höl­lisch in acht. Frü­her war er als ge­fürch­te­ter Schlä­ger öf­ter in Ar­rest ge­wan­dert, aber der Me­di­zi­nal­rat hat­te ihm klar­ge­macht, dass er nie auf eine Ent­las­sung wür­de rech­nen kön­nen, wenn er sich nicht zu be­herr­schen ler­ne. Und ent­las­sen woll­te Herbst un­ter al­len Um­stän­den wer­den. Die Ent­las­sung war die eine große Hoff­nung die­ses fünf­und­zwan­zig­jäh­ri­gen Men­schen, der die ent­schei­den­den sie­ben Jah­re sei­nes Le­bens hin­ter Git­tern ver­bracht hat­te. Für die­se Ent­las­sung hat­te er das größ­te Op­fer ge­bracht: Er hat­te sich frei­wil­lig ent­man­nen las­sen.

Er hat­te sei­ne Ge­fäng­niss­tra­fe we­gen Sitt­lich­keits­ver­ge­hen mit jun­gen Bur­schen be­kom­men, und man hat­te Herbst be­greif­lich ge­macht, dass er nie auf die Frei­heit wür­de rech­nen kön­nen, wenn er nicht in die­se Ent­man­nung wil­li­ge. An­dert­halb Jah­re hat­te der jun­ge Mensch mit sich ge­kämpft, dann hat­te er ein­ge­wil­ligt. Zu der Zeit, da ich ein­ge­lie­fert wur­de, lag die Ent­man­nung erst ein hal­b­es oder gar nur ein Vier­tel­jahr hin­ter ihm. Schon wur­de er fett, sein Ge­sicht sah schwam­mig aus und war un­ge­sund bleich. Die Au­gen blick­ten trost­los.

Aber er hoff­te von Tag zu Tag auf die Ent­las­sung, der Me­di­zi­nal­rat hat­te sein Ge­such be­für­wor­tet, alle hat­ten es ihm ge­sagt. Da hat­te er sich nun zu die­ser schreck­li­chen Sa­che, der Ent­man­nung, ent­schlos­sen, und noch im­mer war er nicht frei. Er war­te­te von Tag zu Tag, von Wo­che zu Wo­che, aber der er­sehn­te Be­scheid vom Ge­ne­ral­staats­an­walt kam nicht. Manch­mal tob­te Herbst: Man habe ihn rich­tig rein­ge­legt, der Me­di­zi­nal­rat, der Ober­pfle­ger, alle hät­ten sie ihn übers Ohr ge­hau­en! Da sei er nun sei­ne – Ho­den los, und für was?! Für nichts, bloß da­mit die ho­hen Her­ren ihn aus­lach­ten!

Mitt­ler­wei­le war es son­der­bar, dass die­se Ent­man­nung nichts an sei­nen Ge­füh­len für Kol­zer ge­än­dert hat­te. Er war wie vor­her sein Freund, sein ein­zi­ger Um­gang, sein Päp­pelba­by. Für ihn leb­te er, nur an ihn dach­te er. Hat­te der Jun­ge am Abend ein biss­chen Fie­ber, re­de­te Herbst bei un­se­ren Ein­schlaf­ge­sprä­chen kein Wort mit; er hat­te die De­cke über den Kopf ge­zo­gen, aber er schlief nicht. Nein, viel­leicht merk­te Kol­zer et­was da­von, dass die Ge­füh­le Herbs­tens für ihn sich jetzt ver­än­dert hat­ten, wir sa­hen nichts da­von.

Am meis­ten von al­len im Bau hass­te Herbst den Schus­ter Buck, je­nen eit­len, dum­men und in­tri­gan­ten Men­schen, der, wie ich im Fal­le Schmeid­ler er­lebt hat­te, die glei­chen Nei­gun­gen wie Herbst hat­te. Als an ei­nem Abend der Schus­ter den Jun­gen Kol­zer we­gen heim­li­chen Bro­tes­sens im Glas­kas­ten de­nun­ziert hat­te, fiel Herbst, wohl ganz kopf­los durch das lan­ge, ver­geb­li­che War­ten auf sei­ne Ent­las­sung ge­wor­den, über Buck her und schlug ihn win­del­weich.

Bei der nächs­ten Arzt­vi­si­te wur­de er vor den Me­di­zi­nal­rat ge­ru­fen und ihm er­öff­net, sei­ne be­reits vom Ge­ne­ral­staats­an­walt ver­füg­te Ent­las­sung kön­ne nun doch nicht er­fol­gen, da er durch die­se Schlä­ge­rei völ­li­gen Man­gel an Hem­mun­gen, an Selbst­be­herr­schung be­wie­sen habe. Ich las­se es – ei­nig dies­mal mit dem gan­zen Bau – da­hin­ge­stellt, ob Herbst wirk­lich ent­las­sen wer­den soll­te, oder ob dies nur ein Vor­ge­ben des Arz­tes war, um sich von ei­nem Ver­spre­chen zu lö­sen, des­sen Er­fül­lung sich durch die Hal­tung des Ge­ne­ral­staats­an­wal­tes nach­träg­lich als sehr schwie­rig her­aus­ge­stellt hat­te. Je­den­falls wan­der­te Herbst statt in die er­sehn­te Frei­heit erst ein­mal für vier­zehn Tage in den Ar­rest und trat dann wie­der sei­nen al­ten Pos­ten als Kal­fak­tor an. Er war ein sehr schlech­ter Cha­rak­ter, und doch muss­te ich die Hal­tung be­wun­dern, mit der er die­se fürch­ter­li­che Ent­täu­schung auf­nahm. Er sprach nie wie­der ein Wort von sei­ner Ent­las­sung, er tat sei­ne Ar­beit flei­ßig, sau­ber und un­red­lich wie bis­her, er leb­te nur noch für den Bau.

 

53

Von mei­nem drit­ten Schlaf­ge­nos­sen, Holz mit Na­men, weiß ich we­nig ge­nug zu be­rich­ten. Er war ein kräf­ti­ger jun­ger Mann von etwa drei­ßig Jah­ren – jün­ger als sei­ne Jah­re aus­se­hend, und man hät­te den klei­nen blon­den Schnurr­bart un­ter sei­ner Nase ko­kett nen­nen kön­nen, wenn sein maß­los trau­ri­ges Ge­sicht nicht je­den Ge­dan­ken an Ko­ket­te­rie ver­bo­ten hät­te. Er war erst ein gu­tes hal­b­es Jahr in der An­stalt, kam aber di­rekt aus dem Zucht­haus, wo er sechs Jah­re hat­te ver­brin­gen müs­sen.

Da Qual ent­we­der schwieg oder Un­sinn re­de­te, und da Herbst nur über sich, sei­nen Freund und die ge­häs­si­gen Mit­ge­fan­ge­nen re­den konn­te, wur­de Holz mein Plau­der­ge­nos­se für die zwei Stun­den von halb acht bis halb zehn Uhr, die wir uns meist wach­hiel­ten, um mor­gens nicht gar zu früh auf­zu­wa­chen. Meist er­zähl­te ich, oft von mei­nem frü­he­ren Le­ben, denn es war mir ein Be­dürf­nis, we­nigs­tens einen Men­schen da­von zu über­zeu­gen, dass ich einst in mei­nem Krei­se ein wich­ti­ger und an­ge­se­he­ner Mann ge­we­sen war. Oder aber ich er­zähl­te ihm von den Nö­ten und Ängs­ten, in de­nen ich jetzt steck­te, und es wäre wohl gut ge­we­sen, ich hät­te mehr auf Hol­zens ein­fa­che Ratschlä­ge ge­hört.

»Kriech zu Kreu­ze vor dei­ner Frau, Som­mer!« mahn­te mich Holz oft. »Ver­lass dich nicht auf dei­nen Ver­stand und die ju­ris­ti­schen Knif­fe, dar­in sind dir die an­de­ren doch über. Ich weiß, wie sie ei­nem ein­fa­chen Men­schen mit­spie­len kön­nen; du bist auch ein ein­fa­cher Mensch, Som­mer. Der Me­di­zi­nal­rat wird dich im­mer wie­der ein­pa­cken – und nun erst der Staats­an­walt! Geh auf alle Be­din­gun­gen ein, die dir dei­ne Frau macht, ver­zich­te selbst auf dein Ei­gen­tum, al­les egal, nur sieh, dass du aus die­sem Bun­ker raus­kommst! Du ahnst noch nicht, was das heißt, lan­ge zu sit­zen. Schreib ihr, Som­mer, schrei­be ihr gleich mor­gen Mit­tag!« So sprach Holz mit sei­ner gleich­mä­ßig ru­hi­gen Stim­me, die ohne jede Be­to­nung war. Er als Ein­zi­ger be­harr­te dar­auf, mich mit »du« an­zu­re­den und mit mei­nem Vor­na­men »Er­win«; mein »Sie«, bei dem ich mich frei­lich ihm ge­gen­über oft ge­nug ver­sprach, blieb ohne je­den Ein­druck auf ihn.

Manch­mal er­zähl­te auch er. Aber nie von sei­ner Ver­gan­gen­heit in der Frei­heit, über sie er­fuhr ich nur, dass er in Ham­burg ge­bo­ren und auf­ge­wach­sen war. Sonst nichts. Ich weiß nicht, was sei­ne El­tern wa­ren, was er ge­lernt hat, wel­che Straf­ta­ten (und es müs­sen schon schwe­re Straf­ta­ten ge­we­sen sein!) ihn so lan­ge ins Zucht­haus brach­ten.

Ich glau­be, mir er­zähl­te mal ein Be­am­ter, dass Holz ein­mal ein be­rühm­ter Ein­bre­cher war. Ich kann es kaum glau­ben. Er war so still, so ein­fach, ohne jede Ini­tia­ti­ve und Pro­test, ich traue ihm ein­fach nicht die Ener­gie für die­sen ge­fähr­li­chen, Geis­tes­ge­gen­wart und ra­sche Ent­schluss­kraft be­din­gen­den Ver­bre­cher­be­ruf zu. Aber es ist ja im­mer­hin mög­lich, dass die lan­ge Zucht­haus­zeit ihn völ­lig ver­än­dert hat.

»Ich habe sechs Jah­re Zucht­haus ohne eine Stra­fe, ohne eine Stun­de Ar­rest ab­ge­ris­sen!«, sag­te er mir ein­mal. So ein­fach er es sag­te, es klang doch Stolz dar­aus. Am liebs­ten er­zähl­te er von die­ser Zucht­haus­zeit. Er be­rich­te­te mir von sei­nen Ar­bei­ten, er­zähl­te mir in al­ler Aus­führ­lich­keit, wie er mit dem We­ben von Ma­trat­zen­stoff an­ge­fan­gen habe, dann zum Hem­den­stoff über­ge­gan­gen sei. Da­rauf sei er mit St­rümp­festri­cken an der »Flach­ma­schi­ne« be­schäf­tigt wor­den – wo­bei ich mir un­ter ei­ner Flach­ma­schi­ne auch dann nur we­nig den­ken konn­te, als ich er­fuhr, es gäbe auch eine »Rund­ma­schi­ne«, auf der St­rümp­fe ge­strickt wur­den.

Nun kam eine der bes­ten Zei­ten Hol­zens im Zucht­haus: Er kam als Auf­wä­scher in die Kü­che. Dort hat­te er zu es­sen, so­viel er woll­te, war mit Ka­me­ra­den zu­sam­men und be­kam so­gar alle Tage Wei­ber we­nigs­tens zu se­hen. Die­se Wei­ber ka­men aus dem nahe ge­le­ge­nen Wei­ber­zucht­haus, um das Es­sen zu ho­len. Trotz al­ler Auf­sicht wur­den Bli­cke und Brie­fe ge­wech­selt, ja es ge­lang so­gar, den Wei­bern Brot und Wurst und Mar­ga­ri­ne zu­zu­ste­cken. Holz ver­si­cher­te mir, dass er nur tat, was all’ sei­ne Kü­chen­ka­me­ra­den ta­ten, aber als die­se Schie­bun­gen her­aus­ka­men, lu­den die an­de­ren alle Schuld auf ihn ab, und er wur­de aus der Kü­che ab­ge­löst.

Nur sei­ne gute Füh­rung ret­te­te ihn vor ei­ner Ar­rest­stra­fe. Es folg­te ein schreck­li­ches Jahr: Holz muss­te in ei­ner Ein­zel­zel­le alte Taue zu Werg zer­rup­fen – wie sehr ich bei der Er­wäh­nung die­ser Ar­beit an Mag­das ret­ten­den Ab­schluss mit der Ge­fäng­nis­ver­wal­tung und an mei­ne Ham­bur­ger Rei­se dach­te! Schließ­lich kam Holz als nicht flucht­ver­däch­tig auf Au­ßen­ar­beit, die Zucht­haus­zel­le sah ihn nur noch zum Schla­fen, den gan­zen Tag über wirk­te er drau­ßen im Frei­en auf den Fel­dern oder win­ters in ei­ner Sä­ge­müh­le. Von all die­sen ganz ein­fa­chen Din­gen er­zähl­te Holz gern. Er wuss­te noch je­des Pen­sum, das ihm auf­er­legt wor­den war; Gar­ne, die ihm bei der Ver­ar­bei­tung Schwie­rig­kei­ten ge­macht hat­ten, konn­te er mir mit dem glei­chen fri­schen Är­ger schil­dern, den er vor Jah­ren wohl in sei­ner Ein­zel­zel­le emp­fun­den.

Hol­zens Spe­zia­li­tät aber wa­ren sei­ne Be­rich­te vom Es­sen. Da alle stets hung­rig wa­ren, re­de­ten alle im Bau stän­dig vom Es­sen, dach­ten ei­gent­lich nur dar­an. (Auch auf die­se Sei­ten hat das ab­ge­färbt!) Die­ses Ge­re­de vom Es­sen war wie eine Ma­nie, es mach­te un­se­re Hun­ger­qual nur noch grö­ßer, aber wir konn­ten es nie las­sen. Holz war dar­in nun ein­fach Meis­ter. Nicht, dass er sich etwa raf­fi­nier­te Mahl­zei­ten aus­ge­dacht hät­te, bei de­nen ei­nem das Was­ser im Mun­de zu­sam­men­lief, nein, sei­ne Schil­de­run­gen wa­ren von bib­li­scher Sch­licht­heit. Die Mahl­zei­ten, die er schil­der­te, wa­ren ein­fa­cher selbst als das, was ein ein­fa­cher Ar­bei­ter isst, es wa­ren die Mahl­zei­ten, die er im Zucht­haus be­kom­men hat­te.

Sein Kopf, den nie star­ke Ge­dan­ken­ar­beit be­an­sprucht hat­te, war aus­ge­ruht ge­nug, um mir jede Ver­än­de­rung des im All­ge­mei­nen gleich­blei­ben­den Kü­chen­zet­tels im Zucht­haus mit­zu­tei­len; er wuss­te noch das Auf und Ab der Bro­tra­tio­nen; die Zahl der Pell­kar­tof­feln, die ein Ar­rest­ge­fan­ge­ner mit­tags statt Brot be­kam (acht bis vier­zehn), und die Son­der­zu­la­gen in Brot, Wurst und Käse für Über- und Land­ar­beit. Er wuss­te alle Weih­nachts­ge­schen­ke noch. Und am be­red­tes­ten wur­de er, wenn er mir schil­der­te, wie ein Bau­er, zu­frie­den mit gu­ter Mäh­ar­beit, der Zucht­haus­ko­lon­ne dick mit »gu­ter But­ter« oder Schmalz be­stri­che­ne Stul­len ge­schenkt hat­te, dazu pro Mann fünf Zi­ga­ret­ten. Je­des der­ar­ti­ge Er­leb­nis hat­te sich tief in sein Ge­dächt­nis ein­ge­gra­ben, und noch heu­te zit­ter­te beim Be­richt sei­ne Stim­me, als er mir er­zähl­te, wie sein Ma­gen ein­mal das un­ge­wohnt fet­te Es­sen nicht ver­tra­gen, son­dern wie­der aus­ge­bro­chen habe.

So ein­fach wa­ren Hol­zens Es­sen­be­rich­te, und doch lausch­te ich ih­nen im­mer wie­der ger­ne, sie wa­ren so rüh­rend! Und es hun­ger­te sich gut bei ih­nen, weil sie so ein­fach wa­ren. Wir aber konn­ten da­bei im­mer wie­der fest­stel­len, dass ein Zucht­häus­ler un­ge­fähr dop­pelt so viel Es­sen wie der In­sas­se ei­ner Heil- und Pfle­gean­stalt be­kommt.

»Da siehst du es«, sag­te dann Holz wohl, »wie sie uns be­klau­en! Aber was willst du ma­chen? Ein Esel ist da zum Las­ten­tra­gen und Prü­geln, und wir sind noch schlim­mer dran als ein Esel, der doch noch ein paar Mark wert ist. Bei uns sind sie nur froh, wenn wir tot sind.« Sol­che Wor­te sag­te Holz ohne An­kla­ge, ja, auch ohne Bit­ter­keit. Das wa­ren für ihn selbst­ver­ständ­li­che Fest­stel­lun­gen über den un­ab­än­der­li­chen Lauf der Welt.

Im Bau ge­noss der stil­le Holz einen gu­ten Ruf, so­wohl bei den Be­am­ten wie bei den Ge­fan­ge­nen. Er war auch hier so­fort »ohne Be­wäh­rungs­frist« auf Au­ßen­ar­beit ge­kom­men, er ar­bei­te­te für einen Bau­un­ter­neh­mer in ei­ner Kies­gru­be. Da­bei kam er wohl viel mit »Zi­vi­lis­ten« zu­sam­men und be­kam man­cher­lei ge­schenkt. Im­mer hat­te er für einen Ka­me­ra­den zwei Streich­höl­zer oder ein Zwie­bel­chen üb­rig, und er war der viel­be­nei­de­te Be­sit­zer ei­nes Gla­ses mit Salz, auch Mus­kat und Pfef­fer be­saß er. Da­mit ver­schön­te er sei­ne Was­ser­sup­pen.

Aus ei­ner ge­fun­de­nen al­ten Sar­di­nen­büch­se hat­te er sich eine Rei­be ge­macht, in­dem er in ih­ren Bo­den mit ei­nem Na­gel Lö­cher ge­schla­gen hat­te, und auf die­ser Rei­be rieb er Pe­ter­si­li­en­wur­zeln, Sel­le­rie­knol­len, Mohr­rü­ben, ja, wenn der Hun­ger sehr arg war, so­gar rohe Kar­tof­feln. Mit all die­sen Klei­nig­kei­ten, die ei­nem Men­schen »drau­ßen« ganz selbst­ver­ständ­lich er­schei­nen, ver­schön­te er sich sein stil­les, schlich­tes Le­ben, brach­te ein we­nig Freu­de hin­ein, wuss­te im­mer et­was, auf das er sich freu­en konn­te. Er spiel­te nie bei ei­nem Spiel mit, ent­we­der, weil er es nicht konn­te, oder nicht woll­te, las nie eine Zei­tung, hör­te beim Ra­dio nur die leich­tes­te Tanz­mu­sik an. »Das macht mir Lau­ne!«, sag­te er dann, in sei­nen Au­gen war ein we­nig Licht, und er lä­chel­te ein sel­te­nes, rüh­ren­des Lä­cheln.

Al­les in al­lem ein be­schei­de­ner, ru­hi­ger Mensch – ich bin froh, dass ich mich nie ernst­lich nach sei­ner Straf­tat er­kun­digt habe, ich möch­te mir die­ses Bild nicht schwär­zen.