Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Ich hät­te nie so viel von die­sem selt­sa­men Ver­hält­nis er­fah­ren, wäre ich nicht bei un­se­ren kärg­li­chen Mahl­zei­ten der Tischnach­bar von Emil Bra­cho­wi­ak ge­we­sen. Ich habe die Beo­b­ach­tung ge­macht, dass die Men­schen ger­ne zu ih­rem Ver­trau­ten einen stil­len, schweig­sa­men Men­schen er­wäh­len, und ich re­de­te wäh­rend der ers­ten Wo­chen mei­nes Auf­ent­hal­tes in der Heil­an­stalt fast nichts. So mach­te mich Bra­cho­wi­ak zu sei­nem Ver­trau­ten, in mein Ohr er­goss er täg­lich sei­nen Lie­bes­kum­mer, ja er woll­te mich so­gar zu sei­nem Lie­bes­bo­ten ma­chen. Wie man­che Stun­de sind wir bei­de nach dem Abendes­sen auf dem lan­gen Kor­ri­dor ne­ben­ein­an­der auf und ab ge­gan­gen, und er hat un­er­müd­lich auf mich ein­ge­re­det.



Ich habe ihn wei­nen und vor Glück la­chen se­hen. Drau­ßen wur­de es schon däm­me­rig, an den Wän­den lehn­ten ver­lo­ren die Kran­ken; wenn sie an ih­ren Pfei­fen so­gen, leuch­te­te die Glut rot auf; in ei­ner Zel­le ge­heim­nis­ten Ha­gen, Lies­mann und Schmeid­ler mit­ein­an­der, und der Aus­ge­sto­ße­ne re­de­te im­mer fie­ber­haf­ter auf mich ein, ob er dem Me­di­zi­nal­rat »die gan­ze Schwei­ne­rei« auf­de­cken, also Lam­pen ma­chen oder bes­ser noch einen Brief an Ot­sche schrei­ben soll­te.



»›Ot­sche‹, wer­de ich ihm schrei­ben, ›ich habe so viel für dich ge­tan. Zwei­ein­halb Pa­ke­te Ta­bak habe ich dir ge­schenkt und einen klei­nen gol­de­nen Ring, den ich in der Fa­brik ge­fun­den habe. Du hast den Ring gleich an Ha­gen wei­ter­ge­ge­ben, ich weiß das wohl, und der hat ihn an einen Po­len im Haus ver­scheu­ert, für an­dert­halb Pfund Speck, die aus der Kü­che ge­stoh­len wor­den sind. Aber ich will nicht dar­über kla­gen, wenn du wie­der nett zu mir bist. Seit ges­tern früh hast du mir nicht ein­mal

Gu­ten Tag

 ge­sagt, du siehst mich nicht mehr an. Du bist wie­der gut zu mir, oder ich gehe zum Arzt und ma­che Lam­pen. Ich be­rich­te dem Arzt al­les, was du mir von den Schwei­ne­rei­en er­zählt hast, die Lies­mann und Ha­gen mit dir ge­trie­ben ha­ben!‹ So wer­de ich ihm schrei­ben.«



»Ich an dei­ner Stel­le wür­de kei­ne Lam­pen ma­chen, un­ter kei­nen Um­stän­den«, ant­wor­te­te ich. »Du fällst nur selbst mit rein.«



»Ja schön, aber willst du dem Ot­sche den Brief brin­gen, heu­te Abend noch?«



Aber nein, das woll­te ich nicht, ak­tiv woll­te ich an die­ser Sa­che nicht be­tei­ligt sein. Es scha­de­te auch nichts, denn Bra­cho­wi­ak fand leicht einen an­de­ren Bo­ten, und dann be­rich­te­te er mir am nächs­ten Mor­gen mit vor Ent­rüs­tung zit­tern­der Stim­me, dass Ot­sche Schmeid­ler ihm eine Ant­wort ge­sandt habe …



»Nun, was denn für eine Ant­wort?«, frag­te ich. »Will er wie­der gut sein?«



»Ich soll ihn am Ar­sche le­cken«, schrie wü­tend der Bra­cho­wi­ak. »Die­ser Rotz­jun­ge, die­ser Hu­ren­kerl lässt mir das sa­gen! Aber war­te, Bür­sch­chen, jetzt bin ich end­gül­tig mit dir fer­tig. Nichts be­kommst du mehr von mir, kei­ne ein­zi­ge Pfei­fe Ta­bak mehr!«



Ach, er konn­te gut so re­den, der Bra­cho­wi­ak, ich wuss­te es wohl, er hat­te kein Fä­ser­chen Ta­bak mehr, Ot­sche hat­te ihn völ­lig ab­ge­kocht, und Ot­sche wuss­te das auch.



Was aber sag­te Ha­gen zu al­le­dem, un­ser Kö­nig, die­ser lie­bens­wür­di­ge und char­man­te jun­ge Mann, der im­mer we­nigs­tens den Schein von Sau­ber­keit auf­recht­er­hielt? Emil Bra­cho­wi­ak war ja so scham­los in sei­nem Lie­bes­kum­mer, er wuss­te von dem Ver­hält­nis Ha­gens zu Schmeid­ler, er sah den Jun­gen stets in der nächs­ten Um­ge­bung des Kö­nigs, Ot­sche hat­te ihm selbst von den Schwei­ne­rei­en er­zählt, die sie mit­ein­an­der trie­ben – aber trotz­dem lief Bra­cho­wi­ak zu Ha­gen und klag­te ihm, ge­nau wie mir, sein Leid. Und Ha­gen hör­te sich das an, er war lie­bens­wür­dig und nett, er sprach trost­rei­che Wor­te und sag­te sei­ne Ver­mitt­lung bei Schmeid­ler zu. Und hin­ter dem Rücken Bra­cho­wiaks lach­ten sie über den aus­ge­plün­der­ten, nutz­lo­sen Nar­ren – oh, wel­che wahr­haft höl­li­sche At­mo­sphä­re von Falsch­heit und Nie­der­tracht!



Bra­cho­wi­ak war ein ge­schick­ter und flei­ßi­ger Ar­bei­ter, er be­klei­de­te eine Art Ver­trau­ens­pos­ten in der Fa­brik, er kam auch viel mit Zi­vil­ar­bei­tern zu­sam­men und ver­stand sich auf Schmei­cheln und Bet­teln; in kur­z­er Zeit hat­te er wie­der Ta­bak.



»Dies­mal blei­be ich fest, dies­mal kriegt er nichts ab, nicht eine Pfei­fe voll!« Und Bra­cho­wi­ak ging den lan­gen Kor­ri­dor auf und ab, rauch­te aus sei­ner langstie­li­gen Pfei­fe und blies dem Schmeid­ler den Rauch ins Ge­sicht, ohne ihn auch nur zu se­hen.



Bra­cho­wi­ak hat­te sich krank­ge­mel­det, er ging nicht zur Ar­beit, son­dern mit mir zur Frei­stun­de, und – sie­he da! – die­ses Mal war im Gras­gar­ten auch Schmeid­ler auf­ge­taucht, Schmeid­ler ganz al­lein, ohne Ha­gen und Lies­mann – ein sel­te­ner An­blick.



»Ich sehe den Kerl gar nicht an!« ver­si­cher­te Bra­cho­wi­ak, als wir an Schmeid­ler vor­bei­gin­gen, der auf den Trep­pen­stu­fen in der Son­ne saß. Der leich­te Som­mer­wind be­weg­te sein blon­des Haar, er sah jung, er sah frisch, er sah un­ver­dor­ben aus.



Als wir zum zwei­ten Mal vor­bei­ka­men, sag­te Bra­cho­wi­ak: »Eben hat er mich schon an­ge­lä­chelt, der Ot­sche!«



»Blei­ben Sie fest«, warn­te ich ihn. »Es ist dem Ben­gel doch nur um Ihren Ta­bak zu tun. – Üb­ri­gens könn­ten Sie mir auch ein­mal Ta­bak schen­ken für eine Zi­ga­ret­te!«



»Ich habe mei­nen Ta­bak gar nicht un­ten«, sag­te Bra­cho­wi­ak rasch. »Nein, der Kerl kriegt nicht ein biss­chen. Der will mich ja doch nur wie­der ab­ko­chen.«



Aber beim drit­ten Mal sag­te Schmeid­ler ganz freund­lich zu uns: »Wol­len wir nicht einen Skat spie­len?« Und er zog schon die schmut­zi­gen Kar­ten, auf de­nen die Bil­der kaum zu er­ken­nen wa­ren, aus der Ta­sche.



Bra­cho­wi­ak war wil­lig ge­nug, so sag­te auch ich nicht Nein, aber ich stieß ihn an, und er nick­te be­ru­hi­gend, fest ent­schlos­sen mit dem Kopf. So spiel­ten wir denn un­se­ren Skat, Schmeid­ler mit auf­fal­len­dem Glück, Bra­cho­wi­ak eben­so auf­fal­lend schlecht. Schmeid­ler wur­de der Ge­win­ner, ich der zwei­te Mann.



Schon rief der Jun­ge: »Das kos­tet aber ein biss­chen Ta­bak, Emil«, lach­te ihn an, und schon zog Bra­cho­wi­ak sei­nen Ta­bak her­vor (den er doch gar nicht bei sich hat­te!), füll­te die Dose des Jun­gen reich­lich, und ich, als auch ich mei­ne Hand hin­hielt, be­kam kaum ge­nug für eine Zi­ga­ret­te. Dann gin­gen die bei­den im Gras­gar­ten um­her, Arm in Arm, eng an­ein­an­der­ge­lehnt. Ich war ver­ges­sen.



An die­sem Abend wein­te Emil Bra­cho­wi­ak wie­der: Schmeid­ler hat­te ihn völ­lig ab­ge­kocht und woll­te wie­der nichts mehr von ihm wis­sen. Und am nächs­ten Tage mach­te Emil Bra­cho­wi­ak wirk­lich Lam­pen, nicht beim Me­di­zi­nal­rat, aber doch beim Ober­pfle­ger.



Aber es er­folg­te nichts, nicht das Ge­rings­te. Wa­rum nicht, das weiß ich nicht. Die Ver­wal­tung hat­te alle Macht­mit­tel in den Hän­den, sie konn­te die Schul­di­gen be­stra­fen, sie aus­ein­an­der­le­gen, die Ju­gend­li­chen, die­se Quel­le stän­di­ger Beun­ru­hi­gung, in an­de­re An­stal­ten ver­brin­gen. Sie tat nichts, wie sie nichts ge­gen un­se­ren Hun­ger tat.



Ich neh­me an, weil es ihr ganz gleich­gül­tig war, wie wir leb­ten und in wel­chem Schmutz wir ver­ka­men. Un­ter sechs­und­fünf­zig wa­ren eben kei­ne sechs, die je die Frei­heit wie­der­se­hen wür­den. Alle, fast alle wa­ren dazu ver­ur­teilt, im­mer in die­sem Haus zu le­ben. Es war ganz gleich­gül­tig, wie sie das ta­ten, es kam nicht mehr dar­auf an. Sie hat­ten zu ar­bei­ten, so­lan­ge noch ein biss­chen Leis­tung aus ih­ren aus­ge­mer­gel­ten Kör­pern aus­zu­pres­sen war, und al­les an­de­re in­ter­es­sier­te nicht! Moch­ten sie glück­lich sein oder ver­re­cken, drau­ßen war das Le­ben, und dies war das Haus der To­ten!




48



Ich habe es schon ge­sagt, ich habe die­sen Hans Ha­gen nur kur­ze Zeit er­lebt. Ich be­daue­re das, ich wäre ger­ne län­ger mit ihm zu­sam­men ge­we­sen. Er war grund­schlecht, aber er war so schön, sein Ge­sicht strahl­te wie das Lu­zi­fers, des ge­fal­le­nen En­gels. Für uns war er wirk­lich Lu­zi­fer, der Licht­brin­ger, ge­we­sen, er hat­te in un­ser ödes, grau­es Le­ben Licht hin­ein­ge­tra­gen, Be­we­gung, so­gar La­chen. Ich habe ihn sehr be­wun­dert – nie­mand ist seit­dem mehr ge­kom­men, der ihn er­setzt, der auch nur ein we­nig von sei­nem Ch­ar­me und sei­ner Le­ben­dig­keit be­ses­sen hät­te. Vi­el­leicht bin ich in die­sem trau­ri­gen Haus schon sehr tief ge­sun­ken, aber ich wage es, zu sa­gen: Mag ein Mensch schon schlecht sein, wenn er nur Le­ben in sich hat und Glanz, al­les bes­ser als die­ses graue, ver­schlis­se­ne, zer­lump­te Da­sein, das wir jetzt Tag für Tag – ohne ir­gend­ei­ne Aus­sicht auf Hel­le – her­un­ter­le­ben.



Es war schon ge­mur­melt wor­den: »Der Ha­gen kommt fort«, aber nie­mand hat­te so recht dar­an ge­glaubt. Wo­hin soll­te er denn kom­men? In die Frei­heit? Das hät­ten we­der Arzt noch Ver­wal­tung zu­ge­las­sen. Die­ser Kö­nig des To­ten­hau­ses, der hier nur Übles an­ge­stif­tet hat­te, die­ser bru­ta­le Schlä­ger, der sei­nem bes­ten Freun­de die Kinn­la­de ein- und das Auge aus­schlug, wie soll­te er sich drau­ßen in der Frei­heit be­wäh­ren? Sein Va­ter hat­te die Hand von ihm ab­ge­zo­gen – wo­von wür­de er le­ben? Nie wür­de die­ser Mensch, der ja nichts ge­lernt hat­te, als ein­fa­cher Ar­bei­ter le­ben wol­len. Da­für war sei­ne Ge­nuss­sucht viel zu stark. Nein, Hans Ha­gen, ein­und­drei­ßig Jah­re alt, von glän­zen­den Ga­ben, viel­ge­bil­det und ein be­stri­cken­der Un­ter­hal­ter, war dazu ver­ur­teilt, den gan­zen Rest sei­nes Le­bens in sol­chen Häu­sern zu ver­brin­gen, nie wie­der wür­de er als frei­er Mensch über die Stra­ßen ei­ner Stadt ge­hen, kein Mäd­chen wür­de ihm lä­cheln, kei­ne rech­te Ar­beit von ihm ge­tan wer­den.

 



»Da geht der Hans!«, sag­te der Kal­fak­tor zu mir, und da sah ich ihn un­ten auf dem Hof, ein Zi­vil­be­am­ter führ­te ihn am Kett­chen, er trug die An­stalt­stracht: eine schilf­lei­ne­ne Jop­pe und eine brau­ne man­che­s­ter­ne Hose. Der Kal­fak­tor er­zähl­te mir noch, dass der Ober­pfle­ger so ge­mein ge­we­sen war, ihm nicht ein­mal das Tra­gen von Zi­vil zu er­lau­ben. Auch war dem Hans Ha­gen ver­bo­ten wor­den, das Brot und den Ta­bak, den er noch be­saß, dem Ot­sche Schmeid­ler zu schen­ken, eben­so wie er sei­nem viel­ge­schla­ge­nen Freun­de Lies­mann nicht sei­nen Ra­sier­ap­pa­rat und sei­ne selbst­ge­mach­ten San­da­len schen­ken durf­te.



»Da geht der Hans!« Wo­hin? In eine an­de­re An­stalt na­tür­lich, hier hat er sechs Jah­re lang Schwie­rig­kei­ten ge­macht, mö­gen sich nun an­de­re mit ihm pla­gen! Sein Ruf reist ihm in sei­nen Ak­ten vor­aus, das wird ihn nicht hin­dern, wie­der das gan­ze Haus zu char­mie­ren, sein Kö­nig zu wer­den, Tri­bu­te zu emp­fan­gen und klei­ne Ver­schwö­run­gen an­zu­zet­teln, die ihm selbst nie ge­fähr­lich wer­den.



Und ich sehe ihn äl­ter wer­den, den Hans Ha­gen, sein schön ge­well­tes schwar­zes Haar wird dünn und grau; an­de­re, Jün­ge­re sind ihm jetzt an Kraft über­le­gen. Er muss List ge­brau­chen, wo er frü­her nur sei­ne ge­ris­se­nen Jiu-Jit­su-Grif­fe ein­setz­te, und ei­nes Ta­ges ver­fängt auch die List nicht mehr. Der Schim­mer der Ju­gend ist ver­flo­gen, er ist alt, ein ab­ge­ta­ner Kö­nig. Aber im­mer noch ste­hen vor sei­nem Blick die star­ken Ei­sen­git­ter der Ge­fäng­nis­se, ein Men­schen­le­ben hat er nur durch sie hin­aus­schau­en kön­nen in die Frei­heit. Um­sonst ha­ben für ihn die Mäd­chen ge­lacht, um­sonst ha­ben für ihn die schim­mern­den Jach­ten ihre wei­ßen Flü­gel ent­fal­tet – im To­ten­haus hat er ge­lebt, im To­ten­haus wird er ster­ben. Ar­mer Hans Ha­gen – so jung, so schön, so schil­lernd!



Ar­mer Hans Ha­gen? Ach, wir Ar­men alle! Bei uns al­len fing es mit et­was Klei­nem an, bei mir war es eine Fla­sche Rot­wein, die, ein ver­ges­se­nes Ge­schenk, ge­ra­de zur schlim­men Stun­de im Bü­fett stand – bei ihm wird es ähn­lich ge­we­sen sein. Es fängt im­mer mit et­was Klei­nem an, und dann ver­strickt es uns, es wächst rie­sen­groß auf über uns – und durch Git­ter se­hen wir nur noch die Frei­heit. Die Turm­uhr schlägt die Stun­den, Hun­der­te, Tau­sen­de, Zehn­tau­sen­de – um­sonst! Der Wind weht aus Nord, aus Ost, aus Süd und West, er weht weich und bit­ter­kalt – nicht für uns mehr, nie für uns! Ach, dass wir wis­send ge­we­sen wä­ren! Ar­mer Hans Ha­gen!



Ich muss noch ei­ni­ge we­ni­ge Wor­te sa­gen über die Hin­ter­blie­be­nen von Hans Ha­gen, ich kann sie nicht an­ders nen­nen. Denn für uns alle war er mit sei­nem Fort­gang ge­stor­ben, wir wür­den ihn nie wie­der­se­hen, nie eine Zei­le von ihm zu le­sen be­kom­men.



Wo­chen­lang sa­hen wir Lies­mann und Schmeid­ler jede Stun­de, die sie sich von ih­rer Ar­beit frei­ma­chen konn­ten, stumm bei­ein­an­der am Gan­gen­de ste­hen. Der fri­sche Jun­ge sah sehr bleich aus, sei­ne Au­gen wa­ren oft rot­ge­weint. Lies­mann war noch fins­te­rer und ag­gres­si­ver als je; beim ge­rings­ten Wort, das ihm nicht ge­fiel, schlug er ohne jede War­nung los, und so bru­tal wie nur mög­lich. Es war rüh­rend, wie die bei­den für­ein­an­der sorg­ten, sie hal­fen sich in al­lem, im Rau­chen, im Es­sen. Und bei­de im­mer fast stumm ne­ben­ein­an­der, ver­eint durch den einen ge­mein­sa­men Ge­dan­ken an den, der ge­gan­gen war. An den frei­en Sonn­tagnach­mit­tagen, wenn ich mit dem fins­te­ren Zei­se und dem Que­ru­lan­ten Red­de­min mei­nen Skat spiel­te, sa­ßen sich die bei­den ge­gen­über, Schmeid­ler und Lies­mann, und spiel­ten »Mensch är­ge­re dich nicht«. Sie spiel­ten es stun­den­lang, ohne ein Wort zu wech­seln, nur manch­mal lach­te der Jun­ge auf, wenn es ihm ge­lun­gen war, sei­nen Geg­ner ganz auf den An­fang zu­rück­zu­wer­fen. Sie muss­ten knapp mit Ta­bak sein, die Pfei­fe wech­sel­te stän­dig zwi­schen dem einen und dem an­de­ren Mun­de.



Aber schon da­mals, als noch das bes­te Ein­ver­neh­men zwi­schen den bei­den herrsch­te, als sie die ge­mein­sa­me Trau­er um Hans Ha­gen ei­nig­te, über­kam mich ein Ge­fühl von Angst, wenn ich in das maß­los bit­te­re, kan­ti­ge, schar­fe Ge­sicht des Lies­mann schau­te, das noch mehr durch den schwar­zen Lap­pen vor dem Auge ent­stellt war. Es konn­te auf die Dau­er nicht gut ge­hen. Auf die Dau­er konn­te ein Jun­ge von dem fei­len Cha­rak­ter Schmeid­lers ei­nem so ab­sto­ßen­den, har­ten Ge­fähr­ten wie Lies­mann nicht treu blei­ben, er wür­de auch die Ent­beh­run­gen nicht tra­gen mö­gen, zu de­nen ihn sol­che Treue ver­ur­teil­te.



Und dann kam al­les, wie es kom­men muss­te. Es war aber nicht der sehn­süch­ti­ge Bra­cho­wi­ak, den sich Ot­sche er­wähl­te, son­dern zu mei­ner gren­zen­lo­sen Über­ra­schung der in­tri­gan­te Schus­ter Buck, bei dem ich auf die­se Wei­se eine ganz neue und wie­der­um nicht sehr ein­neh­men­de Sei­te sei­nes We­sens ken­nen­lern­te. Die Fol­gen wa­ren ein völ­lig zer­schla­ge­ner Schus­ter, ein Ot­sche mit ei­nem ge­bro­che­nen Bein und ein Lies­mann, der nun sei­ner­seits für acht Wo­chen den Ar­rest be­zog. Als er wie­der zu uns zu­rück­kam – ihn hat­te kei­ner mit Son­der­ga­ben ver­sorgt –, war Schmeid­ler aus un­se­rer Mit­te ver­schwun­den – in ir­gend­ein Ju­gen­der­zie­hungs­heim, in das er längst ge­hört hät­te.




49



Ich keh­re nun zu mei­nen ei­ge­nen Er­leb­nis­sen zu­rück. Es ist noch im­mer der An­kunfts­tag in der Heil- und Pfle­gean­stalt; eben habe ich die Frei­stun­de hin­ter mich ge­bracht, habe ers­ten Ein­blick ge­tan und ers­te Be­kannt­schaf­ten ge­schlos­sen und ste­he nun wie­der auf dem lan­gen, düs­te­ren Kor­ri­dor, der auch am schöns­ten, hells­ten Som­mer­tag düs­ter bleibt. Stun­de um Stun­de wan­de­re ich dort auf und ab, un­be­schäf­tigt, zer­quält und doch stumpf. Froh bin ich, wenn der Ober­pfle­ger oder ein Wacht­meis­ter ein­mal vor­über­kommt, mit ei­nem Kran­ken, die Wä­sche zur Kam­mer tra­gen, oder mit ei­nem Stoß al­ter Ak­ten. Es ge­schieht doch was! Es geht mich nichts an, was ge­schieht, und ei­gent­lich ge­schieht auch gar nichts, aber ich wer­de von mir und mei­nem so un­ge­wis­sen Schick­sal ab­ge­lenkt: Ich mag, ich kann mit mir nichts mehr zu tun ha­ben!



Manch­mal stel­le ich mich auch an das eine mir zu­gäng­li­che Fens­ter – das an­de­re ist durch den Glas­kas­ten ver­baut – und star­re hin­aus, über die sta­chel­be­wehr­te Mau­er hin­weg, in die Frei­heit, die dort son­neng­lit­zernd »drau­ßen« liegt. Vor mir ra­gen, wie­der­um »drau­ßen«, hohe Bäu­me. Lin­den sind es wohl; sie be­schat­ten eine Chaus­see, auf der Au­tos ei­lig vor­bei­ra­sen, ich sehe Mäd­chen auf ih­ren Rä­dern in hel­len Klei­dern vor­bei­tre­ten – aber ich wen­de den Kopf fort und tre­te wie­der tiefer in den düs­te­ren Gang hin­ein. Das Le­ben da drau­ßen quält mich, es ge­hört nicht mehr zu mir, ich bin da­von ab­ge­trennt, nichts wis­sen will ich mehr von ihm! Fahrt alle vor­über und fort, wer­de das Land leer von euch! Die Bäu­me sol­len ver­dor­ren, der Sand über Wie­sen und Äcker we­hen, Wüs­te müss­te um ein sol­ches To­ten­haus sein, dür­re, tote Wüs­te.



Manch­mal tre­te ich auch in einen der bei­den Ta­ges­räu­me ein, in den großen oder in den klei­nen, und sit­ze da fünf oder zehn Mi­nu­ten bei mei­nen Lei­dens­ge­fähr­ten. Lei­dens­ge­fähr­ten? Sie kön­nen nicht so lei­den wie ich, ihr Schick­sal hat sich schon ent­schie­den, es ist die Un­ge­wiss­heit, die mich so quält! Man­che schla­fen, den Kopf auf den Tisch ge­legt (denn das Schla­fen auf den Bet­ten ist ver­bo­ten!), an­de­re dö­sen stumpf vor sich hin, ein klei­nes, völ­lig schief ge­bau­tes, noch jun­ges Men­schen­bün­del, das auf bei­den Au­gen schielt (aber auf je­dem an­ders!), mit ei­nem bir­nen­för­mi­gen Kopf, hat ein un­glaub­haft schmut­zi­ges Spiel Kar­ten vor sich und legt lang­sam eine Kar­te nach der an­de­ren vor sich hin, be­trach­tet sie sehr lan­ge und grinst blö­de da­bei. Ei­ner hat eine Zei­tung vor sich, über die er hin­weg­starrt. Und ei­ner hat sich so­gar die Hose aus­ge­zo­gen und un­ter­sucht mit schmerz­ver­zo­ge­ner Mie­ne die eit­ri­gen und blu­ti­gen Fu­run­kel an sei­nem Bein – an un­se­rem Ess­tisch!



Ich flie­he vor Ekel und ste­he wie­der auf dem Kor­ri­dor. Ich lese die Na­mens­ta­feln an den Zel­len; ich lese da: Go­ther, Gra­matz­ki, Deutsch­mann, Brandt, West­fahl, Bur­mes­ter, Röh­rig, Klin­ger. Und im Wei­ter­ge­hen wie­der­ho­le ich es mir, wie­der­ho­le es wie die Vo­ka­beln, die ich als Jun­ge lern­te: Go­ther, Gra­matz­ki, Deutsch­mann, Brandt … Wie­der­ho­le es im­mer wie­der, bis es sitzt. Und gehe zur nächs­ten Ta­fel über … So ler­ne ich, brin­ge die Zeit hin, die­se end­lo­se Zeit, zwei­ein­halb end­lo­se Stun­den! Was sind drau­ßen zwei­ein­halb Stun­den? Aber was sind sie hier! Aber schließ­lich rücken die Haus­ar­bei­ter aus ih­ren Ar­beits­zel­len ein, die Mat­ten­flech­ter und Bürs­ten­ma­cher; Tü­ren wer­den ge­schla­gen, Rufe wer­den laut, im Wasch­raum läuft Was­ser, Pfei­fen wer­den an­ge­brannt. Gott sei Dank, Le­ben, ein biss­chen Le­ben!



Und schon er­tönt der Ruf: »Die Fa­brik rückt ein!« und gleich dar­auf der an­de­re: »Es­sen­ho­ler an­tre­ten!«



We­nig spä­ter sit­zen wir in dem nun wie­der voll be­setz­ten Ta­ges­raum; die in der Fa­brik wa­ren, sol­len Neu­ig­kei­ten be­rich­ten und er­zäh­len um­ständ­lich, dass sie dies­mal Kis­ten zu tra­gen hat­ten, die an­dert­halb Zent­ner wo­gen, ges­tern wa­ren es Kis­ten, die nur einen Zent­ner zwan­zig Ge­wicht hat­ten. So­fort wird mit wü­ten­der Er­bit­te­rung ein Streit dar­über ge­führt, wie sich die­se Ge­wichts­dif­fe­renz er­klä­ren las­se.



Um un­ser Es­sen brau­chen wir uns da­bei nicht zu küm­mern, es isst sich von selbst, es ist Was­ser mit ei­ni­gen Kohl­ra­bi­stücken. Ich bin noch so fein, dass ich die­se Stücke, die voll­kom­men hol­zig sind, ne­ben mei­ne Schüs­sel lege. Eine große, ver­ar­bei­te­te Hand fährt über den Tisch, reißt die Stücke mit und schiebt sie in ein weit ge­öff­ne­tes Maul.



So­fort schreit mich von der an­de­ren Sei­te eine wü­ten­de Stim­me an: »Wa­rum gibst du, ver­dammt noch mal, dem Jahn­ke dei­nen Kohl­ra­bi?! Der Kerl frisst al­les in sich rein, was er zu se­hen kriegt, der wür­de auch Schei­ße fres­sen, der Kerl!«



Und Jahn­ke brüllt wü­tend zu­rück: »Was geht dich Rotz­jun­gen an, was ich fres­se? Wenn der Neue mir den Kohl­ra­bi gibt, ist das sei­ne Sa­che! Bist du sein Vor­mund? Aber je­der jun­ge Rotz­jun­ge möch­te hier Vor­mund spie­len …«



Gott­lob bin ich bei die­sem neu sich ent­spin­nen­den Streit, in den sich na­tür­lich auch so­fort an­de­re mi­schen (»Hört doch end­lich mit die­sem Ge­sab­bel auf, Gott­ver­damm­mich! Könnt ihr nie Ruhe hal­ten?!« – »Was geht’s dich an?!« – »Recht hat er! Ruhe wol­len wir ha­ben!« – »Und ich schreie, so­viel ich will!«). Gott­lob wer­de ich in all dem nun ent­ste­hen­den Tu­mult ganz ver­ges­sen. Der Wacht­meis­ter aber im Glas­kas­ten, der auch ein Fens­ter in un­se­ren Ta­ges­raum hat, hebt bei dem Ge­brüll gar nicht den Kopf, liest sei­ne Zei­tung ru­hig wei­ter.



Das Es­sen ist vor­über, ich habe das ges­tern noch für un­mög­lich Ge­hal­te­ne voll­bracht: Ich habe einen schie­ren Li­ter war­mes Was­ser in mich hin­ein­ge­löf­felt. Im Au­gen­blick kom­me ich mir ge­sät­tigt vor. In der Nacht aber wird mich das Knur­ren mei­nes Ma­gens dar­über be­leh­ren, dass ich ganz und gar nicht ge­sät­tigt bin. Da­für aber wer­de ich von nun an auch zu den häu­fi­gen Kü­bel­gän­gern ge­hö­ren.



Der Ober­pfle­ger holt die Leu­te zu­sam­men, die zum Arzt sol­len oder wol­len, letz­te­re nur, so­weit er ihr Vor­ha­ben bil­ligt. Von un­se­rer Ab­tei­lung al­lein an die zwan­zig Mann, ich ge­hö­re nicht dazu. In der Haupt­sa­che sind es Arm- und Bein­ver­letz­te, in der Ar­beit er­wor­be­ne Schä­den. Es gibt er­staun­lich vie­le der­ar­ti­ge Schä­den, ent­we­der taugt die Un­fall­ver­hü­tung in der Fa­brik nichts, oder die­se geis­tes­schwa­chen Ar­bei­ter sind be­son­ders un­ge­schickt. (Aber in die­sem Fall müss­te man ih­nen doch eine un­ge­fähr­li­che­re Ar­beit ge­ben?)



Vor dem Git­ter aber, das un­se­ren Kor­ri­dor ge­gen das Trep­pen­haus ab­schließt, ha­ben sich an­de­re Kran­ke aus den bei­den Häu­sern drü­ben an­ge­sam­melt, ich zäh­le über drei­ßig. Und nun rücken »die Wei­ber« an, meist Mäd­chen, auch an die zwan­zig, un­ter der Füh­rung ih­rer Auf­se­he­rin. Sie wer­den ganz dicht an die Wand ge­stellt, und die Auf­se­he­rin passt scharf auf, dass kei­ner von uns mit ih­nen ein Wort wech­seln kann.

 



Aber das sind über sieb­zig Kran­ke – und jetzt ist es schon nach sie­ben Uhr abends! Will der Arzt bis weit nach Mit­ter­nacht Sprech­stun­de ab­hal­ten?! Da sind die Aus­sich­ten für mich schlecht! »Sind es im­mer so viel?«, fra­ge ich einen an­de­ren Kran­ken.



»So viel?«, fragt er em­pört zu­rück. »Das sind heu­te noch we­nig! In die­sem ver­fluch­ten Bau ist doch je­der ein­zel­ne krank. Aber ich mel­de mich schon lan­ge nicht mehr vor, es hat ja doch kei­nen Zweck.«



Der Arzt ist ge­kom­men, wäh­rend ich am an­de­ren Ende des Gan­ges war. Ich habe ihn nicht zu Ge­sicht be­kom­men. Aber das macht nichts, ich kom­me heu­te doch nicht vor. Es ist auch bes­ser so, bei über sieb­zig Kran­ken hat er doch nicht recht Zeit für mich. Bes­ser ist es, einen an­de­ren Tag ab­zu­war­ten, an dem es ru­hi­ger ist. Ich muss ihm mei­ne Ge­schich­te in al­ler Aus­führ­lich­keit er­zäh­len.



Der Ober­pfle­ger ruft: »Fuß­kran­ke vor, Füße frei­ma­chen!«



Und nun geht es los, in ei­nem atem­be­rau­ben­den Tem­po. Im­mer zu sechs Mann wer­den sie in das Arzt­zim­mer ge­las­sen, und spä­tes­tens nach ei­ner Mi­nu­te taucht schon der Ers­te wie­der drau­ßen auf: ver­arz­tet und be­han­delt! Der Ober­pfle­ger ruft: »Die an­de­ren den Ober­kör­per frei­ma­chen! Hin­ter­ein­an­der an­tre­ten!«



Die Mäd­chen guck­ten, wie die Män­ner aus ih­rem Hem­de schlüpf­ten. Das er­reg­te die Wut der Auf­se­he­rin, ei­ner der­ben ält­li­chen Per­son mit ro­tem Ge­sicht. Sie stürz­te auf ein Mäd­chen zu, der ein paar Lo­cken un­ter dem Kopf­tuch in die Stirn hin­gen. »Was soll das Ge­zot­tel?!«, schrie sie zor­nig. »Nur Män­ner im Kopf, was? War­te, ich will es dir zei­gen, dich hier hübsch zu ma­chen!« Und sie riss dem Mäd­chen roh das Tuch vom Kopf. »Was?!«, schrie sie dann em­pört. »So­gar Lo­cken hast du dir auf­ge­steckt?! Habe ich dir nicht hun­dert­mal ge­sagt, du sollst einen ein­fa­chen Schei­tel tra­gen? Aber ich will es dir zei­gen!« Und sie riss das Mäd­chen an den Haa­ren, riss die paar dürf­ti­gen Haar­löck­chen aus­ein­an­der. Das Mäd­chen be­weg­te ge­dul­dig, ohne auch nur eine Mie­ne von Pro­test oder Schmerz, den Kopf hin und her, ganz wie ihre Pei­ni­ge­rin an den Haa­ren riss.



Aber ich hat­te nicht Zeit, die­sem em­pö­ren­den Vor­gang (den ich als Ein­zi­ger em­pö­rend zu fin­den schi­en) wei­ter zu fol­gen. Der Ober­pfle­ger