Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Ehe ich end­gül­tig zu mei­nen ei­ge­nen Er­leb­nis­sen zu­rück­keh­re, muss ich noch ei­nes Man­nes ge­den­ken, ei­ner schil­lern­den Ge­stalt, der wäh­rend der ers­ten Zeit mei­nes Auf­ent­hal­tes für kur­ze Tage bei uns auf­tauch­te, um dann für im­mer zu ent­schwin­den, ein Gruß aus der großen, mir so frem­den Welt.

Ich hat­te schon am ers­ten Tage von ei­nem Ge­fan­ge­nen ge­hört, der we­gen ei­ner Schlä­ge­rei schon die ach­te Wo­che im stren­gen Ar­rest saß, bei Was­ser und spär­li­chem Brot und bei har­tem La­ger. Wenn ich über­haupt – mit ei­nem Schau­der über die mir un­er­träg­lich schei­nen­de Dau­er des Iso­lierar­res­tes – an die­sen Mann dach­te, so stell­te ich mir einen Kerl wie den etwa drei­ßig­jäh­ri­gen Lies­mann vor, einen Kerl mit bru­ta­lem, schar­fem Ge­sicht, der über dem einen Auge einen schwar­zen Lap­pen trug, und der wort­los und fins­ter auf der Sta­ti­on leb­te. Je­der ging ihm aus dem Wege, auch die Streit­süch­tigs­ten wag­ten nicht, Hän­del mit Lies­mann an­zu­knüp­fen, der be­kannt da­für war, auch nur bei ei­ner An­deu­tung ei­nes krän­ken­den Wor­tes so­fort zu­zu­schla­gen und nicht eher mit Schla­gen auf­zu­hö­ren, bis der an­de­re völ­lig er­le­digt war.

Und dann tauch­te Hans Ha­gen auf un­se­rer Sta­ti­on auf, ein schö­ner, blü­hend aus­se­hen­der, noch jun­ger Mann von drei­ßig Jah­ren, mit der trai­nier­ten Ge­stalt des Sports­man­nes, tief­schwar­zem, leicht ge­well­tem, zu­rück­ge­kämm­tem Haar und ei­nem el­fen­bein­far­be­nen Ge­sicht von so klas­sisch rei­nen Li­ni­en und so über­ra­schen­der Schön­heit, dass man un­will­kür­lich – be­son­ders in die­sem Haus der Miss­ge­stal­ten – vor Be­wun­de­rung ver­ging. Er hat­te vom Ober­pfle­ger ganz neue Tracht be­kom­men statt der Lum­pen, die die an­de­ren tra­gen muss­ten, und er trug die­se brau­ne Man­che­s­ter­ho­se und schilf­far­be­ne Ja­cke mit ei­ner sol­chen Ele­ganz, als hät­te ihm der ers­te Schnei­der einen An­zug an­ge­mes­sen. Jede Be­we­gung von ihm war rasch, ziel­si­cher, schön. Wie er re­de­te, und sei­ne dunklen Au­gen leuch­te­ten da­bei, wie er auch dem be­lang­lo­ses­ten Wort Reiz und Lie­bens­wür­dig­keit zu ge­ben ver­moch­te, das war in die­sem Elends­mi­lieu ein­fach hin­rei­ßend.

›Wie kommt die­ser jun­ge Gott in sol­che Höl­le?‹, frag­te ich mich. Und laut: »Ein Zu­gang?«

»Nein«, wur­de mir geant­wor­tet. »Das ist der Ge­fan­ge­ne, der acht Wo­chen we­gen ei­ner Schlä­ge­rei im Ar­rest ge­ses­sen hat!« Ich konn­te es nicht glau­ben, ich woll­te es nicht. Ich bin spä­ter manch­mal für kur­ze Mi­nu­ten auf dem Gang der Sta­ti­on oder im Gras­gar­ten mit Hans Ha­gen spa­zie­ren ge­gan­gen und habe mit im­mer neu­em Ent­zücken sei­nem Ge­plau­der ge­lauscht, sei es nun, dass er von sei­nen Ju­gend­strei­chen in Ro­che­s­ter be­rich­te­te – er war jah­re­lang in Eng­land er­zo­gen – oder dass er von sei­nen küh­nen Se­gel­fahr­ten bis zum Nord­kap hin­auf be­rich­te­te. Sei­ner Er­zäh­lung mir ge­gen­über nach hat ihm die­se Lei­den­schaft fürs Se­geln den Hals ge­bro­chen, er kauf­te sich im­mer grö­ße­re und schö­ne­re Jach­ten und scheint bei der letz­ten Jacht einen Ver­si­che­rungs­be­trug be­gan­gen zu ha­ben, der ihn mit dem Ge­setz in Kon­flikt, zu­erst ins Ge­fäng­nis und dann in die­ses trau­ri­ge Haus brach­te. Wie ge­sagt, dies war die Ver­si­on, die er ganz bei­läu­fig und leicht­hin mir er­zähl­te.

Wie ich spä­ter er­fuhr, war er an­de­ren Ge­fan­ge­nen ge­gen­über of­fen­her­zi­ger und ehr­li­cher ge­we­sen. Er war ei­ner von drei Söh­nen ei­nes Ro­sto­cker Kauf­manns, der ein sehr gu­tes Sport­ar­ti­kel­ge­schäft be­saß, ei­nes ver­mö­gen­den Man­nes, der sei­nen Söh­nen eine gute Er­zie­hung ge­ben konn­te. Aber mit dem Jüngs­ten, eben dem Hans, woll­te und woll­te es nicht gut ge­hen. Schon in sei­ner Gym­na­si­al­zeit mach­ten Vor­komm­nis­se in der Stadt sei­ne ei­li­ge Ent­fer­nung aus Deutsch­land und sei­ne Rei­se nach Eng­land not­wen­dig. Auch dort scheint er nicht ge­ra­de ein so­li­des, der Ar­beit ge­weih­tes Le­ben ge­führt zu ha­ben; mir er­zähl­te er von nächt­li­chen Aus­brü­chen aus Ro­che­s­ter in die Vor­städ­te Lon­d­ons und war er gut ge­launt, sang mir Hans Ha­gen lei­se, mit hüb­scher Te­nor­stim­me, klei­ne Ne­ger­lie­der vor, die er dort in den Bars und auf den Tanz­die­len auf­ge­schnappt hat­te. Auf Eng­lisch na­tür­lich – aber ich fand es doch hübsch, wel­che Mühe er sich gab, mich zu un­ter­hal­ten und auf­zu­hei­tern.

End­lich nach Ro­stock wie­der heim­ge­kehrt, wid­me­te er sich of­fi­zi­ell dem Stu­di­um der Me­di­zin, in Wirk­lich­keit aber ent­deck­te er sei­ne Lei­den­schaft für die See und das Se­geln. Er kauf­te sich sei­ne ers­te Jacht, und ich glau­be kaum, dass es sein Va­ter war, der die­sen Kauf fi­nan­zier­te. Auch ein gut ge­hen­des Sport­ar­ti­kel­ge­schäft kann nicht für einen Sohn von Drei­en Zehn­tau­sen­de auf­wen­den, denn die Jacht war ja nur ein Mit­tel zum Zweck: Hans Ha­gen woll­te auf ihr auch gut le­ben, mit sei­nen Freun­din­nen wei­te, kost­spie­li­ge Rei­sen ma­chen, im Hei­mat­ha­fen jede Nacht aus­ge­hen und nie nach dem Gel­de se­hen.

In die­ser Zeit ent­deck­te er, wie leicht ein gut aus­se­hen­der jun­ger Mann der gu­ten Ge­sell­schaft Ge­schäf­te ma­chen kann, auch wenn er kei­nen Pfen­nig Ge­schäfts­ka­pi­tal be­sitzt. Er ma­kel­te Häu­ser, be­sorg­te Ef­fek­ten, ver­mit­tel­te Au­tos, schloss Le­bens­ver­si­che­run­gen ab, ließ sich Pro­vi­sio­nen von rechts und von links ge­ben. Sein glän­zen­der, fin­di­ger, blitz­schnel­ler Kopf ließ ihn jede Ge­le­gen­heit zu gu­ten Ge­schäf­ten aus­spä­hen, rasch han­deln. Be­den­ken­los be­nutz­te er sei­ne Ge­walt über Frau­en, es gab auch nicht vie­le Män­ner, die sei­nem Ch­ar­me wi­der­ste­hen konn­ten.

Aber mit den reich­lich flie­ßen­den Ein­nah­men stie­gen auch sei­ne Be­dürf­nis­se; im­mer la­gen sie einen Schritt vor den Ein­nah­men, und sei­ne Kas­se war im­mer leer. Er aber wuss­te nur ei­nes: Dass er die­ses ihm al­lein zu­sa­gen­de Le­ben des Ge­nus­ses um je­den Preis fort­set­zen woll­te, im­mer un­be­denk­li­cher wur­de er in der Wahl der Mit­tel, die ihm Geld ver­schaf­fen muss­ten: Er stahl Au­tos von der Stra­ße, ver­griff sich so­gar an den Hand­ta­schen mit ihm tan­zen­der Da­men – kurz, er wur­de ein Hoch­stap­ler und ein Dieb. Lan­ge konn­te das nicht gut ge­hen.

Ein ers­ter Fall wur­de ver­tuscht, da er doch der Sohn ei­nes an­ge­se­he­nen Va­ters war, ein zwei­ter brach­te ihn ins Ge­fäng­nis und aus dem Ge­fäng­nis in die­ses trau­ri­ge Haus, in dem er schon sechs Jah­re leb­te.

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Sechs Jah­re – ich woll­te mei­nen Ohren nicht trau­en! Die­ser jun­ge Mann leb­te schon sechs lan­ge Jah­re in die­ser trost­lo­sen Um­welt, und er hat­te sich alle Spann­kraft und al­len Zau­ber der Ju­gend be­wahrt! Nichts von der hoff­nungs­lo­sen Trau­er, nichts von dem häss­li­chen Neid hier hat­te auf ihn ab­ge­färbt, wie ein flüch­ti­ger Gast wirk­te er, eben erst ge­kom­men, schon wie­der im Be­griff zu ge­hen, al­len Zau­ber blü­hen­der Welt um sich! Wel­che Kräf­te muss­ten in die­sem Hans Ha­gen wir­ken, wel­che un­zer­stör­ba­ren Ener­gi­en, dass ein Mann nach die­sen sechs Jah­ren, nach acht Wo­chen schar­fen Ar­res­tes noch im­mer nichts von sei­ner Kraft ver­lo­ren, noch im­mer den Schim­mer der großen Welt mit sich trug! Es war mir ein Rät­sel, ich war schon von ein paar Ta­gen Auf­ent­halt hier völ­lig zer­mürbt und nie­der­ge­drückt. Ich habe spä­ter lan­ge über Hans Ha­gen nach­ge­dacht, und ich glau­be, ich habe die Grün­de ge­fun­den, die ihn so un­ver­än­dert stark sein lie­ßen.

Zum Ers­ten drang nichts tief in ihn ein, so konn­te ihn auch nichts tief ver­let­zen. Er leb­te so auf der Ober­flä­che, sei­ne glän­zen­de Be­ga­bung lock­te ihn hier­hin und dort­hin, im­mer be­tä­tig­te er sich, aber nichts tat er. Er konn­te al­les, auch hier im Bau, den Wacht­meis­tern mach­te er »Fas­son­schnitt«, er schnitt ih­nen die Haa­re auf eine un­ge­wohnt küh­ne, ele­gan­te Art, er mau­er­te bes­ser als ein Mau­rer, er gab Un­ter­richt in Ste­no­gra­fie, Eng­lisch, Fran­zö­sisch, Rus­sisch, er ar­bei­te­te schwer in der Fa­brik, er tisch­ler­te und hat­te auch schon die Schwei­ne ver­sorgt – er konn­te al­les, aber er konn­te al­les auf eine un­ver­bind­li­che, schil­lern­de Art, er war die Un­zu­ver­läs­sig­keit in Per­son, nichts haf­te­te.

Aber der Haupt­grund sei­ner Un­ver­än­der­lich­keit, sei­ner un­be­sieg­ba­ren Ju­gend war der, dass er hier im To­ten­haus ei­gent­lich kaum an­ders leb­te als drau­ßen. Ge­wiss, die Um­welt hat­te sich ver­än­dert, aber Hans Ha­gen nicht mit ihr. Wenn er drau­ßen die Frau­en be­zau­bert hat­te, so hier die kran­ken Män­ner. Auch den Stump­fes­ten ließ er nicht au­ßer Acht, er ruh­te nicht, bis ein Schim­mer sei­nes Ch­ar­mes ihn be­rührt hat­te. Es war ein­fach lä­cher­lich, wie sie alle auf­blüh­ten, wenn er mit ih­nen sprach.

Ich sehe sie noch zu­sam­men­ste­hen: den fet­ten Meck­len­bur­ger Bau­ern Red­de­min, den sie we­gen Que­ru­lan­ten­tums in die­sem Haus un­ter­ge­bracht hat­ten, Be­zie­her un­wahr­schein­li­cher Fett­pa­ke­te, und Hans Ha­gen, der sich ein­mal selbst in ei­nem un­be­dach­ten Au­gen­blick als »Tan­go­jüng­ling« be­zeich­net hat­te. Ge­gen­sätz­li­che­res war schlecht­hin nicht denk­bar. Es schi­en kei­ne Brücke zwi­schen den bei­den zu ge­ben: dem fla­chen Ge­nuss­men­schen und dem zä­hen, al­ten, fast sieb­zig­jäh­ri­gen Bau­ern mit dem Bul­len­kopf, den das un­er­müd­li­che Be­har­ren auf ei­nem ver­meint­li­chen Recht in die­se Mau­ern ge­bracht hat­te. Und doch strahl­te der alte, sonst so fins­te­re Mann, da der Ge­nie­ßer mit ihm sprach; sei­ne Au­gen fun­kel­ten, er lach­te dröh­nend, er klopf­te dem an­de­ren freund­lich-hin­ge­ris­sen auf die Schul­tern.

Er war der wah­re Kö­nig die­ses Hau­ses, der Hans Ha­gen, und die Ver­wal­tung wuss­te das auch. Blind­lings ta­ten die Kran­ken, was er ih­nen riet. Er schrieb ih­nen nicht nur ihre An­trä­ge und Ge­su­che, mach­te ih­nen Hoff­nun­gen auf Ent­las­sung oder ver­trös­te­te sie, er be­gut­ach­te­te nicht nur als »ehe­ma­li­ger Me­di­zi­ner« ihre Schweins­beu­len und Ar­beits­ver­let­zun­gen und er­zähl­te ih­nen, wel­che Ver­band­mit­tel und Me­di­ka­men­te sie beim Arzt for­dern soll­ten, er spen­de­te nicht nur ju­ris­ti­schen Rat wie der fin­digs­te An­walt, nein, er zet­tel­te auch klei­ne vor­sich­ti­ge Ver­schwö­run­gen an ge­gen die Hab­sucht der Kal­fak­to­ren, die Ty­ran­nei der Vor­ge­setz­ten, den schmut­zi­gen Geiz der Ver­wal­tung. Er hat­te sei­ne Hän­de in al­lem, und die­se klu­gen seh­ni­gen Hän­de konn­ten sehr er­folg­reich sein; viel mach­te Hans Ha­gen der Ver­wal­tung zu schaf­fen, die­ser To­ten­kö­nig im To­ten­haus.

 

Und wie ein Kö­nig zog er sei­ne Tri­bu­te ein – ge­nau wie drau­ßen. Genau, wie er drau­ßen die Mäd­chen und Frau­en be­zau­bert und un­be­denk­lich je­des Ge­schenk von ih­nen an­ge­nom­men hat­te, so mach­te er es auch hier. Ich habe nie ge­se­hen, dass Hans Ha­gen et­was ver­lang­te, um et­was bat. Das hat­te er auch gar nicht nö­tig, sei­ne An­hän­ger sorg­ten auch so für ihn. Ein Wacht­meis­ter er­zähl­te mir, dass, so­lan­ge Hans Ha­gen in der Ar­rest­zel­le saß, ein stän­di­ges Kom­men und Ge­hen dort war, je­den un­be­wach­ten Au­gen­blick lau­er­ten sie ab, um ihm et­was zu­zu­ste­cken. Stän­dig wur­de an dem Spi­on ge­flüs­tert, des­sen Schei­be man zer­bro­chen hat­te, um ihm das kost­bars­te Gut in der An­stalt, Streich­höl­zer, hin­ein­zu­rei­chen.

Lag ein an­de­rer Ka­me­rad im Ar­rest, so war er ver­ges­sen, nie­mand dach­te mehr an ihn. Sein Wie­der­auf­tau­chen wur­de eben­so gleich­gül­tig hin­ge­nom­men wie sein Ver­schwin­den. Nicht so bei Hans Ha­gen. Ich habe es selbst ge­se­hen, oft und oft, wie sie zu ihm ka­men, die­se Ärms­ten der Ar­men, die der Hun­ger in den Ein­ge­wei­den kniff. Ein Au­ßen­ar­bei­ter brach­te ihm eine Gur­ke, ein an­de­rer eine Ta­sche voll Pell­kar­tof­feln, hier ein Stück­chen Brot, eine Zwie­bel, ein paar Stän­gel Pe­ter­si­lie, Mohr­rü­ben, Fal­läp­fel, Salz, eine Hand­voll auf­ge­sam­mel­ter Zi­ga­ret­ten­stum­mel. Und all das sind große, schwer er­run­ge­ne Kost­bar­kei­ten in die­sem Bau, kei­ner ist da, der von sei­nem Über­fluss ab­ge­ben kann, alle op­fern sie aus dem Not­wen­digs­ten. Und Hans Ha­gen nahm al­les, al­les. Er lä­chel­te, er dank­te, er mach­te einen Scherz. Er konn­te so rei­zend dan­ken. Und dann dreh­te er den Rücken, und der Ge­ber war ver­ges­sen.

Mir hat Hans Ha­gen manch­mal von sei­nem Über­fluss ab­ge­ge­ben, ge­nau in der ra­schen, spon­ta­nen Art, die ihm ei­gen war. Ich saß trüb­se­lig vor mei­ner Was­ser­sup­pe, und Hans Ha­gen rief: »Da, Som­mer, fan­gen Sie auf!« Und vom Ne­ben­tisch flog ein Stück Brot zu mir her­über, und er lach­te herz­lich, wenn ich es mir un­ge­schickt auf­fing; über dem La­chen schon hat­te er ganz ver­ges­sen, dass er mir eben et­was sehr Kost­ba­res ge­schenkt hat­te, für das ich ihm dank­bar zu sein hat­te. So war er; ohne Erin­ne­rung. So steht er vor mir: ohne Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft, nur dem Tage le­bend, dem Tag hin­ge­ge­ben, in der Mi­nu­te wei­lend.

Mir aber mach­te es Kum­mer, dass ich mich so von ihm be­schen­ken ließ, dass ich sei­ne Ge­sell­schaft, sein lie­bens­wür­di­ges Ge­plau­der hin­nahm, ohne ir­gend­wie mei­ne tie­fe Dank­bar­keit zu zei­gen. Wer war ich schon? Ein klei­ner, mit­tel­mä­ßi­ger, ent­gleis­ter Kauf­mann! Ja, kei­ne drei Tage, und ich ge­hör­te zu den er­ge­bens­ten Be­wun­de­rern Hans Ha­gens. Nicht zu sei­nen blin­des­ten – ich durch­schau­te ihn schnell ge­nug. Ich schlief schlecht, ich hat­te jede Nacht vie­le Stun­den, über Hans Ha­gen nach­zu­den­ken, ich war es müde, im­mer nur über Mag­da und mein trau­ri­ges Schick­sal zu grü­beln. Ja, ich zer­brach mir den Kopf, wie ich ihm dan­ken könn­te, aber ich hat­te ja nichts, gar nichts. Ich war der Al­lerärms­te im Bau. So bin ich für im­mer in Hans Ha­gens Schuld ge­blie­ben.

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Es ge­hör­te zu den Un­be­greif­lich­kei­ten un­se­rer Ver­wal­tung, dass sie in die­ser Schar von sechs­und­fünf­zig ab­ge­leb­ten, tie­ri­schen und ver­bre­che­ri­schen Män­nern auch zwei jun­ge Bur­schen le­ben ließ, einen Sieb­zehn- und einen Acht­zehn­jäh­ri­gen. Man hät­te den­ken sol­len, dass die­ses Haus, des­sen Wän­de stän­dig von Zo­ten, Flü­chen, Strei­te­rei­en wi­der­hall­ten, des­sen At­mo­sphä­re von Hass und Nie­der­tracht ge­tränkt war, al­les an­de­re als ein ge­eig­ne­ter Er­zie­hungs­ort für Ju­gend­li­che war, vor de­nen noch ein gan­zes Le­ben lag. Aber sie wa­ren un­ter uns, nicht nur vor­über­ge­hend, son­dern für die Dau­er, sie teil­ten un­se­ren Schlaf­saal, un­se­ren Tisch und un­se­re Ar­beit. Ich zwei­fe­le auch nicht dar­an, dass sie un­se­re Art zu den­ken und zu füh­len teil­ten, und wenn sie et­was von uns Äl­te­ren un­ter­schied, so dies, dass ihre Schlech­tig­keit wohl von ei­nem Schim­mer der Ju­gend ver­klärt, aber be­rech­nen­der und fei­ler war als die un­se­re.

Es wa­ren bei­des hüb­sche Jun­gen; der eine, Kol­zer mit Na­men, schei­det hier bei mei­nem Be­richt über Hans Ha­gens selt­sa­me Le­ben­sum­stän­de ganz aus, viel­leicht spre­che ich spä­ter in an­de­rem Zu­sam­men­hang noch von ihm. Der an­de­re, der Acht­zehn­jäh­ri­ge, Schmeid­ler hieß er, ge­hör­te zu Hans Ha­gens engs­tem Kreis. Wei­ter ge­hör­te zu die­sem engs­ten Kreis noch der schon oben er­wähn­te Lies­mann, der fins­te­re wort­kar­ge Schlä­ger mit dem schwar­zen Le­der­lap­pen vor dem rech­ten Auge, und, auch zu die­sem Kreis ge­hö­rig, eine lan­ge, selt­sa­me, et­was don­qui­chot­te­haf­te Fi­gur von neun­und­zwan­zig Jah­ren, ein hal­ber Pole, Bra­cho­wi­ak mit Na­men.

All die­sen Drei­en war, im Ge­gen­satz zu Hans Ha­gen, ge­mein­sam, dass sie seit ih­rem sechs­ten Jah­re in öf­fent­li­chen An­stal­ten ge­we­sen wa­ren. Sie wa­ren im Wai­sen­haus un­ter­ge­bracht ge­we­sen und in der Für­sor­ge­er­zie­hung, sie hat­ten ins Ge­fäng­nis ge­musst und wa­ren schließ­lich in die­sem Hau­se ge­lan­det. Ob­wohl sie sich im­mer ge­gen sei­nen Zwang auf­lehn­ten und über ihn murr­ten, fühl­ten sie sich doch nur wohl in sol­chen Häu­sern, ihre ver­gif­te­te At­mo­sphä­re war ih­nen Le­ben­sa­tem. Alle drei wa­ren schon mehr­fach pro­be­wei­se in die Frei­heit ent­las­sen wor­den, und alle drei hat­ten sich in ihr nicht be­währt: Schon nach vier, sechs Wo­chen wa­ren sie wie­der in die fes­ten Häu­ser zu­rück­ge­kehrt, meist zu­erst in ein Ge­fäng­nis, da sie drau­ßen jede Ar­beit scheu­ten und nur von Dieb­stahl le­ben woll­ten.

Mit ei­nem un­gläu­bi­gen Er­stau­nen hör­te ich zu­erst, dass Lies­mann, den ich stän­dig in des strah­len­den Ha­gen Nähe sah, der sein ver­trau­tes­ter Freund war, mit dem al­les ge­teilt wur­de, dass also Lies­mann der­je­ni­ge war, mit dem sich der Kö­nig Ha­gen so wild ge­schla­gen hat­te, dass ihm das acht Wo­chen stren­gen Ar­rest ein­ge­tra­gen hat­te. Aber ich muss­te es glau­ben, ich hör­te es vom Ober­pfle­ger selbst, dass, von klei­ne­ren Schlä­ge­rei­en ab­ge­se­hen, Ha­gen sich schon drei­mal »er­folg­reich« mit Lies­mann ge­prü­gelt hat­te: Ein­mal hat­te er ihm die Kinn­la­de aus­ge­renkt, ein­mal die Hand durch­sto­chen und beim letz­ten Mal ihm das Auge so ver­letzt, dass Lies­mann die Seh­kraft dar­auf fast völ­lig ein­ge­büßt hat­te.

Ja, ich muss­te es schon glau­ben, denn Ha­gen selbst war es, der ein­mal die schwar­ze Klap­pe von Lies­manns Auge fort­zog, mir das star­re, fins­te­re Auge zeig­te und sag­te: »Da habe ich dem Hein rein­ge­schla­gen. – Kannst du jetzt schon wie­der ein biss­chen se­hen, Hei­ni?« Rüh­rend be­sorgt klang das.

»So, als hät­te ich zu lan­ge in die Son­ne ge­se­hen …«, ant­wor­te­te Lies­mann fried­lich.

Ja, sie wa­ren die bes­ten Freun­de, sie sorg­ten für­ein­an­der. Lies­mann ging los und schaff­te Ta­bak an, er er­press­te die Schwä­che­ren be­den­ken­los, schlug sie, und den Raub teil­ten sie sich dann. Sie sorg­ten für­ein­an­der, und dann schlu­gen sie sich, schlu­gen sich nicht nur soso, son­dern auf Tod und Le­ben, auf »du musst ver­re­cken«, von ei­ner blin­den, wü­ten­den Ei­fer­sucht an­ge­trie­ben. Denn da war die­ser klei­ne, hüb­sche, acht­zehn­jäh­ri­ge Ben­gel Schmeid­ler, die­se männ­li­che Hure, die im All­ge­mei­nen fried­lich zwi­schen den bei­den ge­teilt wur­de. Und dann hat­te der Ge­org, der Ot­sche Schmeid­ler, den einen von bei­den ein biss­chen be­vor­zugt, so ent­brann­te der Kampf.

Es war al­les wie drau­ßen, wie in der schö­nen Frei­heit, es hät­te ja nicht der Hans Ha­gen sein müs­sen, wenn er sich nicht auch in die­sem To­ten­haus die Genüs­se der Lie­be ver­schafft hät­te, ei­ner ver­derb­ten, fins­te­ren Lie­be, aber doch der Lie­be, mit al­len ih­ren Won­nen und Ge­fah­ren. Die­ser Jun­ge mit dem blon­den ge­well­ten Haar, den blau­en Au­gen, ei­nem fast grie­chi­schen Pro­fil mit stei­ler Nase und fes­tem Kinn, da lief er zwi­schen die­sen Män­nern um­her, im kur­z­en Hemd tüf­fel­te er mor­gens in den Wasch­saal, sei­ne schlan­ken wei­ßen Glie­der be­fleck­te noch kei­ne Schweins­beu­le – sie wen­de­ten die Köp­fe nach ihm, in ihre Au­gen kam ein Leuch­ten, ihr Herz poch­te schnel­ler – im trost­lo­sen Haus war die­ser Tag wie­der nicht ganz trost­los! Die Lie­be, auf dem Müll­hau­fen eine Blu­me, sie ver­wirr­te die­ses Haus; an­de­re Män­ner stri­chen lüs­tern am Ran­de die­ses Krei­ses und wag­ten sich nur nicht zu nä­hern, weil sie die rohe Ge­walt Lies­manns und die lis­ti­gen Jiu-Jit­su-Grif­fe Ha­gens fürch­te­ten.

Schmeid­ler aber, das Kind, die Hure, ließ auch die­se fer­nen, stum­men Ver­eh­rer nicht au­ßer Acht. Er »koch­te sie ab«, er nahm ih­ren letz­ten Ta­bak, für ein Lä­cheln be­kam er Brot, für einen ra­schen zärt­li­chen Griff das bes­te Stück aus dem eben an­ge­kom­me­nen Fress­pa­ket. Oh, er sorg­te auch für den ge­mein­sa­men Haus­halt, der Ot­sche Schmeid­ler, er ließ sich nicht nur aus­hal­ten, er steu­er­te auch bei. Und sei­ne bei­den Freun­de wa­ren groß­zü­gig, sie wa­ren Le­be­män­ner, sie drück­ten ein Auge zu, kurz ge­sagt, auch der char­man­te Hans Ha­gen war ein Zu­häl­ter, nichts mehr und nichts we­ni­ger. Er ließ sei­ne Jun­gens­hu­re lau­fen, wenn sie nur an­schaff­te. Habe ich nicht ge­sagt, dass wir in ei­ner Höl­le leb­ten? Es fehl­te nichts in die­ser Höl­le, auch die Lie­be nicht, aber auch die Lie­be war ver­derbt, sie stank!