Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Mei­ne Spa­zier­gän­ge auf dem Freihof hät­ten ganz ein­sam und ohne alle Un­ter­hal­tung ver­lau­fen müs­sen, wä­ren nicht zu die­ser zwei­stün­di­gen Frei­zeit auch die we­ni­gen In­sas­sen der Ar­beits­zel­len hin­aus­ge­las­sen wor­den. Es han­del­te sich hier­bei um Ge­fan­ge­ne, die ent­we­der we­gen ih­rer Un­ver­träg­lich­keit oder we­gen schon vor­ge­nom­me­ner Flucht­ver­su­che nicht in die Au­ßen­kom­man­dos ein­ge­reiht wer­den konn­ten und die des­halb tag­aus, tagein in Ein­zel­zel­len mit Bürs­ten­ma­chen oder Mat­ten­flech­ten be­schäf­tigt wur­den. Un­ter die­sen wähl­te ich mei­ne Spa­zier­ge­fähr­ten, und es wa­ren vor­nehm­lich vier, mit de­nen ich ab­wech­selnd ging.

Der Ers­te von ih­nen war ein ge­wis­ser Kur­mann, ein klei­ner, ver­wach­se­ner, hin­ken­der Mann mit in­tel­li­gen­tem Ge­sicht und Bril­le. Er gab vor, eine Dru­cke­rei in Ber­lin zu be­sit­zen, be­haup­te­te, aus po­li­ti­schen Grün­den in­haf­tiert zu sein und di­rekt vor sei­ner Ent­las­sung zu ste­hen. Im­mer wur­de er am nächs­ten oder doch am über­nächs­ten Tag frei, im­mer war sei­ne Frau im Be­griff, ihn zu be­su­chen, aber sie kam nie (wenn sie ihm auch Pa­ke­te schick­te), und auch er selbst wan­dert noch heu­te täg­lich zwei Stun­den im Gras­gar­ten um­her, wird aber mor­gen be­stimmt ent­las­sen.

Sonst konn­te man schon ein ver­nünf­ti­ges Wort mit ihm re­den, na­ment­lich, wenn er auf sei­ne Ju­gend und Lehr­zeit als Buch­dru­cker zu re­den kam. Er war auch ge­fäl­lig und zum Ab­ge­ben be­reit, er ließ mich re­gel­mä­ßig an sei­ner Zei­tung teil­ha­ben, auch hat er mir man­che Zi­ga­ret­te ge­schenkt.

Be­son­ders be­gehrt war er als Be­sit­zer ei­nes Ver­grö­ße­rungs­gla­ses, das bei Son­nen­schein aus­ge­zeich­net zum An­bren­nen von Zi­ga­ret­ten und Pfei­fen zu be­nut­zen war. Es ge­hör­te zu den Un­be­greif­lich­kei­ten der An­stalts­lei­tung, uns zwar das Rau­chen zu er­lau­ben, aber den Be­sitz von Streich­höl­zern oder Feu­er­zeu­gen streng zu ver­bie­ten. Of­fi­zi­ell wa­ren die Wacht­meis­ter ver­pflich­tet, uns Feu­er zu ge­ben; da die An­stalts­lei­tung ih­nen aber kei­ne Streich­höl­zer lie­fer­te, wa­ren sie meist recht un­wil­lig, von ih­rem klei­nen Ge­halt auch noch Streich­höl­zer für uns zu kau­fen. Wie oft habe ich es er­lebt, dass eine Grup­pe von sechs oder acht Mann mit Pfei­fen und Zi­ga­ret­ten um den klei­nen ver­wach­se­nen Kur­mann er­war­tungs­voll her­um­stand!

Es ist noch früh am Tage, die Son­ne hat noch nicht die rech­te Kraft, und Mi­nu­te um Mi­nu­te steht Kur­mann ge­dul­dig da und rich­tet das klei­ne Strah­len­bün­del auf den Kopf der Zi­ga­ret­te, bis end­lich, end­lich ein dün­ner bläu­lich-wei­ßer Rauch­fa­den auf­steigt, und Kur­mann ruft: »Rasch, Som­mer, zie­hen, ehe es wie­der aus­geht!« Oder aber er ließ das Brenn­glas sin­ken und sag­te: »Wir müs­sen noch eine Vier­tel­stun­de war­ten, die Son­ne ist noch nicht stark ge­nug!« Dann gin­gen wir alle oft sehr ent­täuscht aus­ein­an­der, denn in ei­ner Vier­tel­stun­de sa­ßen wir bei der Ar­beit, und bei der Ar­beit war Rau­chen wie­der streng ver­bo­ten.

Zu An­fang war ich bei mei­nen Spa­zier­gän­gen noch arg­los und glaub­te bei­na­he je­des Wort, das mir Kur­mann ge­läu­fig vor­trug. Er wuss­te vie­ler­lei vom Bau, ob­wohl er erst an­dert­halb Jah­re hier war. Bald aber lern­te ich, sei­ne Nach­rich­ten mit ei­ni­ger Vor­sicht auf­zu­neh­men, und schließ­lich glaub­te ich ihm kaum noch ein Wort, wenn es Neu­ig­kei­ten aus der An­stalt be­traf. Kur­mann glaub­te sich über­all von po­li­ti­schen Wi­der­sa­chern um­ge­ben, und vor al­lem wa­ren es die Kom­mu­nis­ten, die ihm zu schaf­fen mach­ten. Da­bei ver­fuhr er sehr pri­mi­tiv: Hat­te ihn ir­gend­ei­ner sei­ner An­sicht nach ge­schä­digt, hat­te ihm zum Bei­spiel der Kal­fak­tor Brot ge­ge­ben, das nicht das vol­le Ge­wicht zu ha­ben schi­en, so wur­de er zum Kom­mu­nis­ten er­nannt. Un­ser Ober­pfle­ger aber, mit dem er sich gar nicht ver­tra­gen konn­te, war »der Kom­mu­nis­ten­häupt­ling«, der »je­den Sonn­tag an alle kom­mu­nis­tisch ge­sinn­ten Ge­fan­ge­nen je sechs Zi­ga­ret­ten ex­tra ver­teil­te«. – »Fin­den Sie das nicht auch un­er­hört, Som­mer?«

Ich muss hier ein­fü­gen, dass ich bei den et­was um­gäng­li­che­ren Ge­fan­ge­nen strikt am »Sie« fest­hielt, we­nigs­tens in der ers­ten Zeit. Al­les in mir sträub­te sich da­ge­gen, in dem wi­der­li­chen Topf der Gleich­ma­che­rei zu ver­sin­ken. Ich war et­was an­de­res als die an­de­ren Kran­ken, ich war völ­lig ge­sund und hat­te alle Aus­sicht, bald wie­der in die Frei­heit zu kom­men – die­ses klei­ne Wort »Sie« war wie eine letz­te Erin­ne­rung an das bür­ger­li­che Le­ben, in das bald zu­rück­zu­keh­ren ich so er­sehn­te. Ich habe auch be­ob­ach­tet, dass mei­ne Mit­kran­ken, auch die stump­fe­ren, ger­ne auf die­ses »Sie« rea­gier­ten. Es ge­mahn­te sie an die Zeit, da sie noch Men­schen wa­ren, da nie­mand ih­nen je­den Schritt be­fahl, je­den Bis­sen zu­teil­te, sie am frü­hen Abend wie klei­ne Kin­der ins Bett schick­te.

Mein zwei­ter Ge­fähr­te im Freihof war ein Deut­scher von den Hal­li­gen, der aber al­les Deut­sche glü­hend hass­te und Schles­wig-Hol­stein am liebs­ten zu Dä­ne­mark ge­schla­gen hät­te. Da­rauf kam ich nicht ger­ne mit ihm zu spre­chen, ich konn­te es kaum an­hö­ren, wenn er die Deut­schen als das min­der­wer­tigs­te Volk der Erde hin­stell­te und dies mit Er­leb­nis­sen aus sei­ner Ver­gan­gen­heit be­wei­sen woll­te. Die­se Er­leb­nis­se hat­te er dem Um­stand zu dan­ken, dass er ein erns­ter Bi­bel­for­scher war, der sich aber nicht mit stil­ler For­schung be­gnügt hat­te, son­dern mit der Faust den Lei­bern und mit der Lun­te den Scheu­nen ver­has­s­ter An­ders­gläu­bi­ger zu nahe ge­kom­men war.

Kemp war schon ein äl­te­rer Mann über die Sech­zig, die letz­ten fünf­zehn Jah­re war er über­haupt nicht mehr aus An­stal­ten und Ge­fäng­nis­sen her­aus­ge­kom­men. Er war noch im­mer ein großer, statt­li­cher Mensch mit ei­nem fes­ten Ge­sicht, kla­ren, weit­bli­cken­den Au­gen un­ter bu­schi­gen, fast wei­ßen Au­gen­brau­en auf un­ge­wöhn­lich star­kem Stirn­bein.

Im Ge­gen­satz zu den meis­ten Kran­ken, die nur ge­zwun­gen ar­bei­te­ten, war er von ei­nem un­er­müd­li­chen Fleiß. Sein Mat­ten­pen­sum für die An­stalt schaff­te er spie­lend, und in der Frei­zeit da­nach knüpf­te er un­er­müd­lich die feins­ten Fi­let­de­cken, die er dann zum Ver­kauf an sei­ne Frau sand­te. Da­für be­kam er dann und wann ein Pa­ket mit Le­bens­mit­teln und neu­em Garn, meist mehr Garn als Le­bens­mit­tel. Dar­über klag­te er aber nie.

Er hat wohl auch drau­ßen kein glück­haf­tes Le­ben ge­habt. Auf ei­ner Hal­lig ge­bo­ren, in jun­gen Jah­ren schon auf ei­nem Fisch­kut­ter be­schäf­tigt, zog er nach sei­ner Ver­hei­ra­tung nach Ham­burg und er­öff­ne­te dort eine Se­gel­ma­che­rei, die aber nie recht ging, wahr­schein­lich, weil sein Be­keh­rungs­ei­fer die Früch­te sei­nes Flei­ßes wie­der ver­nich­te­te.

In sei­nen vie­len mü­ßi­gen Stun­den aber se­gel­te er für we­nig Geld die Jach­ten rei­cher Ham­bur­ger Kauf­leu­te, die sie sich wohl kau­fen, aber nicht be­die­nen konn­ten. Für Vier­tel­stun­den glaub­te ich dem en­gen häss­li­chen Ge­fäng­nis­hof ent­ron­nen zu sein, wenn Kemp mit Feu­er und Hu­mor von wil­den Sturm­fahr­ten auf der Elbe zwi­schen Schulau und Blan­ke­ne­se er­zähl­te, oder ich lach­te auch herz­lich, wenn er be­rich­te­te, wie er ei­nem ver­wöhn­ten Kauf­mannssöhn­lein bei­ge­bracht hat­te, dass auch ein Schif­fer, der ihn si­cher durch den Sturm se­gelt (wäh­rend das Söhn­lein mit jun­gen Däm­chen die Koje voll­kotzt), ein Mensch ist, bei dem es nicht nur mit der Be­zah­lung ge­tan ist.

Er war noch im­mer ein wirk­lich groß­ar­ti­ger Mann, die­ser Kemp (bis auf sei­ne bei­den Ste­cken­pfer­de), im Üb­ri­gen hielt er sich völ­lig iso­liert, und die an­de­ren Kran­ken wag­ten ihn auch nie, zu be­läs­ti­gen oder in ihre Strei­te­rei­en zu zie­hen. Ge­gen die Ver­wal­tung, be­son­ders ge­gen den Me­di­zi­nal­rat, der ihn sei­ner An­sicht nach ge­gen je­des Recht hier fest­hielt, war er von ei­nem glü­hen­den Hass be­seelt; Be­rich­te, die er mir über die Durch­ste­che­rei­en, Rechts­brü­che und Miss­hand­lun­gen die­ser lei­ten­den Her­ren mach­te, klan­gen oft fast über­zeu­gend und wa­ren doch nie rich­tig. Un­se­ren Ober­pfle­ger nann­te er nur »den Strolch und Mas­sen­mör­der«.

Es war schon rich­tig, dass reich­lich vie­le von den Kran­ken star­ben; das aber lag, ganz ab­ge­se­hen von dem man­geln­den Le­bens­wil­len die­ser ab­ge­stumpf­ten Ge­schöp­fe, be­stimmt nicht an dem Ober­pfle­ger, son­dern an dem gan­zen Sys­tem mit dem Geiz, der Un­ter­er­näh­rung und Unsau­ber­keit. Je­der zwei­te Mann von uns war mit »Schweins­beu­len« be­deckt, hat­te eine Fu­run­ku­lo­se; auch ich wur­de schon we­ni­ge Wo­chen nach mei­ner An­kunft da­von be­fal­len. Der Kör­per be­saß eben nicht die ge­rings­te Wi­der­stands­kraft, je­dem Krank­heits­keim er­lag er so­fort, die Tu­ber­ku­lo­se gras­sier­te und hol­te im­mer wie­der neue Op­fer.

Üb­ri­gens wur­den die Tu­ber­ku­lö­sen nur »die Pie­per« ge­nannt, nach ih­rem pfei­fen­den At­men. Ir­gend­wel­che Ge­füh­le wur­den an einen Er­krank­ten oder Ster­ben­den nicht ver­schwen­det, und so­viel ist rich­tig, dass un­ser Ober­pfle­ger ein har­ter Mann war, der Sen­ti­men­ta­li­tä­ten nicht kann­te. Die meis­ten Kran­ken schie­nen ihm un­nüt­ze Ge­schöp­fe, die doch zu nichts mehr gut wa­ren. Es war schon bes­ser, sie ver­schwan­den von die­ser Erde. Und lei­der hat­te er da­mit nicht ein­mal so un­recht.

Mein drit­ter Weg­ge­nos­se war ein klei­ner, stäm­mi­ger Mann An­fang der Sech­zig, mit Na­men Zei­se. Er war ein fins­te­rer Mann, sei­nen ei­ge­nen An­ga­ben nach hat er weit über die Hälf­te sei­nes Le­bens in Ge­fäng­nis­sen, Zucht­häu­sern und An­stal­ten ver­bracht. Er war ein un­ver­bes­ser­li­cher Dieb, aber ein klei­ner Dieb, der im­mer nur ganz ge­rin­ge Wer­te er­beu­tet hat­te. Er war aber der An­sicht, dass sei­ne Die­bisch­keit völ­lig be­rech­tigt war, er war eben am Tisch des Le­bens im­mer über­vor­teilt wor­den und glaub­te so das Recht zu ha­ben, sich sei­nen An­teil selbst zu neh­men.

 

Alle an­de­ren Men­schen wa­ren ja noch viel schlim­me­re Die­be, und vor al­lem die Wacht­meis­ter und Pfle­ger im Bau hat­ten alle »zu viel Kleb­stoff« an den Fin­gern. Er wuss­te ge­nau, was der Wacht­meis­ter von un­se­rer Be­kö­s­ti­gung un­ter­schla­gen, was je­ner Pfle­ger sich aus der Fa­brik von den dort ar­bei­ten­den Kran­ken hat­te steh­len las­sen. Er wuss­te es aber nicht nur, son­dern er schrieb dar­über auch stän­dig An­zei­gen an die Staats­an­walt­schaft, die er auf ei­nem streng ge­heim ge­hal­te­nen Weg aus dem Bau un­ter Um­ge­hung der Zen­sur hin­aus­schmug­gel­te. Frü­her hat­te ihm das meis­tens eine zu­sätz­li­che Ge­fäng­niss­tra­fe we­gen wis­sent­lich falscher An­schul­di­gung und Be­am­ten­be­lei­di­gung ein­ge­tra­gen. Aber die Staats­an­walt­schaft war es wohl müde ge­wor­den, und seit Jah­ren er­folg­te auf all sei­ne An­zei­gen über­haupt nichts mehr: Es war, als hät­te er sie nie ge­schrie­ben. Das aber er­höh­te noch sei­ne Wut, es be­wies ihm, dass »die Brü­der alle un­ter ei­ner De­cke steck­ten«.

Wenn wir ne­ben­ein­an­der­her gin­gen, er im­mer einen völ­lig schwarz ge­schmauch­ten Knö­sel1 im Mund, in dem er stets einen deut­schen un­ge­beiz­ten Ta­bak rauch­te, den er sich ge­gen den gu­ten Ta­bak ein­han­del­te, der von der An­stalts­ver­wal­tung von sei­ner Ar­beits­be­loh­nung (vier Pfen­nig pro Tag!) ein­ge­kauft wur­de – wenn Zei­se also ge­wal­tig stin­kend ne­ben mir her­ging, re­de­ten wir ei­gent­lich nur we­nig mit­ein­an­der, es sei denn, dass er in eine sei­ner Hass­tira­den ge­riet.

Die­ser Mann hat­te nichts zu er­zäh­len, nichts von sei­nem frü­he­ren Le­ben, nichts von Men­schen, die er ein­mal gern­ge­habt, nichts von sei­nen Ein­brü­chen, nichts von sei­nen oft­ma­li­gen, manch­mal er­folg­rei­chen Flucht­ver­su­chen, die ihn jetzt für den Rest sei­nes Le­bens in eine Ein­zel­zel­le ge­führt hat­ten. Nein, meist gin­gen wir stumm ne­ben­ein­an­der­her, wech­sel­ten ein paar Wor­te über den un­zu­rei­chen­den Schwei­ne­fraß und schwie­gen wie­der. Und doch ging ich gern mit die­sem fins­te­ren, ver­bit­ter­ten Mann. Wohl, weil ich fühl­te, dass er je­nes win­zi­ge biss­chen Ge­fühl, ohne das wohl kaum ein Mensch le­ben kann, an mich ge­hängt hat­te, in sei­ner fins­te­ren Art na­tür­lich. Bot er mir doch so­gar von sei­nem Ta­bak an – und der war doch für ihn, den lei­den­schaft­li­chen Rau­cher, im­mer knapp!

Am Sonn­tag spiel­ten wir bei­de manch­mal Schach mit­ein­an­der. Auch da­bei war er zank­süch­tig und recht­ha­be­risch, woll­te einen falschen Zug im­mer wie­der zu­rück­neh­men, er­laub­te mir aber nicht, einen an­de­ren Stein zu zie­hen, wenn ich erst ein­mal eine Fi­gur be­rührt hat­te. Oft warf er in jä­hem Zorn die Fi­gu­ren auf dem Schach­brett durch­ein­an­der, mich fins­ter an­fun­kelnd und be­schimp­fend. Dann stopf­te er sich eine neue Pfei­fe, stell­te die Fi­gu­ren wie­der auf und be­gann gleich­mü­tig, als sei nichts ge­sche­hen, eine neue Par­tie.

Ge­nos­sen schon die­se drei Spa­zier­ka­me­ra­den den schlimms­ten Ruf bei der Ver­wal­tung, so brach­te mich mein vier­ter Ge­sell­schaf­ter, der Schus­ter Buck, erst recht in ein bö­ses Licht. Oben sag­te man sich: Aus de­nen, mit de­nen du um­gehst, wer­den wir se­hen, wer du bist – und das schlim­me Ur­teil, das bald alle, vom Wacht­meis­ter bis zum Me­di­zi­nal­rat, über mich fäll­ten, habe ich nur mei­ner Un­ge­schick­lich­keit bei der Wahl mei­ner Ge­fähr­ten zu dan­ken.

Zu mei­ner Ent­schul­di­gung kann ich nur an­füh­ren, dass die­se vier wirk­lich die ein­zi­gen wa­ren, mit de­nen man sich auf mei­ner Sta­ti­on wirk­lich ein­mal et­was er­zäh­len konn­te. Hät­te ich auf sie ver­zich­tet, hät­te ich tag­aus, tagein ohne ein mensch­li­ches Wort her­um­trot­ten müs­sen, und das war mehr, als man von mir ver­lan­gen konn­te. Ich habe nie gut in mei­nem Le­ben al­lein sein kön­nen, schon in den be­hag­li­chen Um­stän­den drau­ßen war ich be­un­ru­higt, wenn Mag­da auch nur zwei Tage ver­reist war – wie hät­te ich un­ter die­sen so ver­än­der­ten, schwe­ren Le­bens­ver­hält­nis­sen mein schwe­res Da­sein er­tra­gen kön­nen – ewig ganz al­lein?

Ich bin ge­warnt wor­den, ich gebe es zu, aber kei­ne War­nun­gen konn­ten mich von et­was zu­rück­hal­ten, was mir le­bens­not­wen­dig er­schi­en. Heu­te gel­te ich im gan­zen Bau auch als ein »Feind der Ver­wal­tung« und wer­de ent­spre­chend be­han­delt, ob­gleich ich nie et­was ge­gen die­se Ver­wal­tung ge­tan habe. Frei­lich, dass ich nicht ge­ra­de wohl­wol­lend über sie den­ke, geht aus dem Ge­schrie­be­nen und noch zu Schrei­ben­den her­vor.

Was mich ei­gent­lich zu dem Schus­ter Buck zog, weiß ich selbst nicht. Er war ein un­ge­bil­de­ter, selbst­ge­fäl­li­ger, ab­sto­ßen­der Mensch, ein fei­ger Int­ri­gant, alle hass­ten ihn. Aber auch alle, selbst mei­ne an­de­ren drei Spa­zier­ge­fähr­ten, die doch in ih­rem Hass ge­gen die Ver­wal­tung mit ihm ei­nes Sin­nes wa­ren. Sie spra­chen aber nie auch nur ein Wort mit ihm.

Schus­ter Buck – er war drau­ßen Schus­ter ge­we­sen und war es nun auch drin­nen – ver­si­cher­te im­mer wie­der, dass er sich voll­stän­dig neu­tral ver­hal­te, sich mit kei­nem ab­ge­be, sich in nichts ein­mi­sche. Aber trotz all die­ser Ver­si­che­run­gen war er stän­dig in Strei­tig­kei­ten mit den an­de­ren Kran­ken ver­wi­ckelt, in wü­ten­de Schimp­fe­rei­en, die schließ­lich in Prü­ge­lei­en aus­ar­te­ten, bei de­nen er stets den Kür­ze­ren zog, denn er war trotz sei­ner kräf­ti­gen Fi­gur fei­ge und wag­te nicht, zu­rück­zu­schla­gen.

Stets schwärz­te er die an­de­ren oben an. Sah er nur je­man­den au­ßer der Zeit ein Stück Brot es­sen, so war’s auch schon ge­stoh­len, und fünf Mi­nu­ten spä­ter wuss­te er auch schon, bei wem, und trug’s brüh­warm zum Ober­pfle­ger. Bei je­der Arzt­vi­si­te stand er vor der Tür des Be­hand­lungs­zim­mers, aber nicht ei­nes Lei­dens, son­dern ei­ner Be­schwer­de we­gen. Er kam aber nur sel­ten vor.

Man­che Stun­de bin ich mit die­sem grund­schlech­ten Men­schen spa­zie­ren ge­gan­gen und habe sei­nen gif­t­er­füll­ten Er­zäh­lun­gen ge­lauscht, mit de­nen er je­den sei­ner Mit­ge­fan­ge­nen ver­läs­ter­te. Mit ei­ner tie­fen Scha­den­freu­de schil­der­te er die Ge­mein­hei­ten der an­de­ren und ihre Rein­fäl­le. Er schi­en je­des De­tail ih­res Vor­le­bens zu wis­sen, und mit be­son­de­rer Wol­lust be­ob­ach­te­te er die Ver­än­de­run­gen in der Ge­stalt und im We­sen ei­nes Sitt­lich­keits­ver­bre­chers, der sich frei­wil­lig hat­te ent­man­nen las­sen, in der Hoff­nung, ei­ner An­stalts­ver­wah­rung zu ent­ge­hen (eine Hoff­nung, die ihn täu­schen soll­te).

Von sich selbst wuss­te er da­ge­gen nichts Un­güns­ti­ges zu be­rich­ten. Er hat­te von sei­nem Va­ter ein blü­hen­des Schuh­wa­ren­ge­schäft über­nom­men, und es war rui­niert, weil die Men­schen so ge­mein wa­ren. Er hat­te ge­hei­ra­tet und war ge­schie­den, weil sei­ne Frau auch »so eine« ge­we­sen war. Er hat­te Freun­de und Ver­wand­te be­ses­sen, und nie­mand be­ant­wor­te­te mehr sei­ne Brie­fe, denn nie­mand will noch et­was wis­sen von ei­nem Mann, der in ei­ner An­stalt sitzt. Und na­tür­lich un­schul­dig – wenn er je sei­ne Straf­ta­ten auch nur von fer­ne streif­te, mur­mel­te er et­was von »Ar­beits­lo­sig­keit« und »Not kennt kein Ge­bot«.

Am amüsan­tes­ten fand ich die­sen durch­aus üb­len Men­schen aber, wenn er von sei­nen ei­ge­nen Er­leb­nis­sen in den An­stal­ten und mit ih­ren Ärz­ten be­rich­te­te. Er hat­te un­ter an­de­rem auch zwei Jah­re in ei­ner Uni­ver­si­täts­kli­nik zu­ge­bracht und war in die­ser Zeit vier­mal, in je­dem Se­mes­ter ein­mal, den Stu­den­ten des lei­ten­den Pro­fes­sors vor­ge­führt wor­den. Ich höre noch die eit­le Selbst­ge­fäl­lig­keit in der Stim­me die­ses Dumm­kop­fes, wenn er die an­geb­li­chen Wor­te des Pro­fes­sors wie­der­hol­te: »Wie be­ur­tei­len Sie die­sen Mann, mei­ne Her­ren? Ja­wohl, wir wis­sen, die­ser Mann hat Kennt­nis­se und weiß sich zu be­neh­men. Er macht Ein­druck auf die Frau­en, kurz ge­sagt, er ist ein Sa­lon­mensch …«

Und das al­les soll­te der Pro­fes­sor von die­sem Flick­schus­ter ge­sagt ha­ben, der nie von sei­nem Schus­ter­sche­mel her­un­ter­ge­kom­men war, der fast kein Hoch­deutsch spre­chen konn­te, son­dern sich fast aus­schließ­lich des hei­mi­schen Platt be­dien­te! Na­tür­lich war je­des Wort ge­lo­gen, der Pro­fes­sor moch­te schon so et­was ge­sagt ha­ben, aber nicht von Schus­ter Buck, son­dern von ei­nem an­de­ren, in der glei­chen Vor­le­sung vor­ge­stell­ten Kran­ken.

Oder aber Buck er­zähl­te mir, wie »un­ser« Me­di­zi­nal­rat ge­gen al­les Recht ein Ge­richts­gut­ach­ten über ihn er­stat­tet hat­te (auch Buck nann­te das, wie im Hau­se üb­lich: »Er hat mir ein Gut­ach­ten ab­ge­nom­men«), ohne den Be­gut­ach­te­ten über­haupt zu ken­nen.

»Also nach Ihren Vorak­ten«, warf ich ein.

»Gar nicht!« gab Buck em­pört zu­rück. »Ich sage Ih­nen doch, er hat über­haupt nichts von mir ge­wusst, das gan­ze Gut­ach­ten hat er sich von A bis Z aus den Fin­gern ge­so­gen!«

Und nun folg­te eine un­end­lich um­ständ­li­che, zwei Stun­den lan­ge Er­zäh­lung, wie der Me­di­zi­nal­rat mit­hil­fe ei­nes Ge­richts­se­kre­tärs und ei­nes fei­len An­wal­tes in die Zel­le des Un­ter­su­chungs­ge­fan­ge­nen Buck ge­schmug­gelt wor­den war, und am Ende ging aus die­ser Er­zäh­lung klipp und klar her­vor, dass der Me­di­zi­nal­rat drei- oder vier­mal bei dem Schus­ter Buck auf der Zel­le ge­we­sen war und ihm sehr wohl »ein Gut­ach­ten ab­ge­nom­men« hat­te. Ich hü­te­te mich aber sehr wohl, den Schus­ter Buck auf die­sen klei­nen Un­ter­schied zwi­schen An­fang und Ende sei­nes Be­rich­tes auf­merk­sam zu ma­chen, denn im Punk­te Wahr­heits­lie­be war er wie alle Lüg­ner sehr emp­find­lich, und ich woll­te mir den ge­fähr­li­chen Men­schen kei­nes­falls zum Fein­de ma­chen.

Lie­ber hör­te ich denn zu, wenn er mir von sei­nem Krach mit dem ver­rä­te­rischen Rechts­bei­stand er­zähl­te, dem er sein Ver­trau­en ent­zo­gen und der dar­auf zu jam­mern an­ge­fan­gen habe: »Wer be­zahlt mir aber nun mei­ne fünf­und­sieb­zig Mark? Ich habe die­sen wich­ti­gen Brief für Sie ge­schrie­ben …«

»›Für die­sen Brief wol­len Sie fünf­und­sieb­zig Mark?!‹ habe ich ihm geant­wor­tet. ›Wis­sen Sie, wie ich die­sen Brief nen­ne? Idio­ti­schen Quatsch nen­ne ich ihn. Da­für zah­le ich nie fünf­und­sieb­zig Mark!‹« Und so ging, Schus­ter Bucks Be­richt nach, der Streit im­mer wei­ter, bis der An­walt, völ­lig zer­schmet­tert, nicht etwa auf sei­ne fünf­und­sieb­zig Mark ver­zich­te­te, son­dern – zu mei­ner Über­ra­schung – den Schus­ter bei sei­nem Ter­min ver­tei­dig­te, na­tür­lich wie­der­um wie ein Idi­ot. »Aber«, wie Buck be­merk­te, »von den An­wäl­ten taugt doch kei­ner mehr als der an­de­re, und von uns wol­len die Brü­der nur mü­he­los Geld zie­hen!«

Sol­che In­kon­se­quen­zen sind aber ty­pisch für lan­ge Ge­fan­ge­ne, eben prü­geln sie sich, schon sind sie die bes­ten Freun­de. Eben sehe ich den Schus­ter vor der Tür des doch so ver­hass­ten Ober­pfle­gers, ent­schlos­sen, einen Kal­fak­tor an­zu­zei­gen, weil er ihm bei der Kaf­fee­aus­ga­be zu viel Satz in den Be­cher ge­mo­gelt hat, und schon hat der­sel­be Buck mit dem glei­chen Kal­fak­tor ein Tausch­ge­schäft ab­ge­schlos­sen: eine klei­ne Ta­bak­pfei­fe ge­gen eine Schei­be Brot und einen Kamm. Hat schon im mensch­li­chen Le­ben drau­ßen nichts dau­ern­den Be­stand, so kann man hier im Bau nicht fünf Mi­nu­ten mit et­was Blei­ben­dem rech­nen. Stän­dig wech­seln die Kon­stel­la­tio­nen, und nur das ist blei­bend: der Neid und der Hass je­des ge­gen je­den, die tie­ri­sche Feind­schaft al­ler ge­gen alle. Im Bun­ker gib­t’s kei­ne Treue, kei­ne Freund­schaft, nicht den pri­mi­tivs­ten An­stand.

»Friss, oder du wirst ge­fres­sen, Som­mer!« Ich lern­te ihn schwer, die­sen Satz. Ich habe ihn bis heu­te noch nicht rich­tig ge­lernt. Ich wer­de ihn nie ler­nen – nicht aus An­stän­dig­keit, son­dern weil ich nur ein schwa­cher Mensch bin.

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