Drei oder vier Tage habe ich noch in der Zelle beim schimpfenden Düstermann gelegen, habe arge Schmerzen ertragen und mein unseliges Schicksal verflucht. Jeder Gedanke war mir vergangen, mich an Magda zu rächen oder die Scheidung zu beantragen, ich wäre froh gewesen, hätten sie mich heimgehen lassen zu ihr. Ich wäre auf die Knie vor ihr gefallen und hätte sie um Verzeihung gebeten, und sie hätte mich aufnehmen können wie einen verachteten Sklaven, es wäre mir recht gewesen. Aber auch das war nur eine Stimmung gewesen, die nicht von Bestand war. Meine Gefühle für Magda sollten sich noch manches Mal ändern.
Den Holzhof habe ich nie wiedergesehen und auch nicht meinen Kumpel Mordhorst. Seltsam, in meiner Erinnerung ist es mir heute, als seien es schöne, friedliche Stunden gewesen, die ich dort am Sägebock verbracht habe, mit meiner blauen Gefangenenjacke angetan, über mir die Kronen der Apfel- und Birnbäume und den durchsonnten Himmel.
An einem späten Nachmittag dann, ich war wieder ganz über das Geschimpfe des mörderischen Brandstifters Düstermann verzweifelt, rasselte zu ganz ungewohnter Zeit das Schloss der Zellentür, der Wachtmeister kam herein und rief: »Sommer, sofort aufstehen und Ihre Sachen packen! Sie werden entlassen!«
Ich fuhr hoch von meinem Lager und starrte den Wärter mit weit aufgerissenen Augen an. »Entlassen?«, flüsterte ich, und mein Herz pochte stark. Also doch! Also doch!
»Ja, entlassen«, sagte er erbarmungslos, »in die Heilanstalt. Los, los, Mann, packen Sie Ihre Sachen zusammen! Denken Sie, wir haben so viel Zeit für Sie?«
»Ach so«, sagte ich langsam und fing an zu packen. »Ach so – in eine Heilanstalt.«
Der Düstermann sah mir scharf auf die Finger, dass ich auch nichts von seinem kostbaren Eigentum einpackte, und dabei redete er auf den Wachtmeister ein, wie froh er sei, dass ich fortkomme, ich sei der schlechteste Zellengenosse von der Welt gewesen, nie habe ich ein vernünftiges Wort geredet, und mein Krachmachen des Nachts sei einfach unerträglich gewesen. Ich bin ohne ein Wort von ihm gegangen, ich habe ihn nicht einmal mehr angesehen.
Unten, im Büro des Inspektors, stand ein fremder Wachtmeister, und er sah mich prüfend an, und ich sah wohl, dass er bei meinem Anblick das Gesicht verzog. Ich trug noch meinen Nasenverband.
»Ja«, sagte der Inspektor, »das ist der Mann, dem ein anderer Gefangener die Nase hat abbeißen wollen. Sie haben wohl davon gehört, Wachtmeister?«
Der hatte davon gehört.
Der Inspektor setzte hinzu: »Es ist aber soweit ein ganz ordentlicher, ruhiger Mann, ich glaube, Sie können ihm die Kette ersparen, Wachtmeister.«
»Nein, nein!«, sagte der Wachtmeister eifrig. »Ich bin für den Mann verantwortlich, nachher läuft er mir fort …«
»Das tun Sie, Wachtmeister, wie Sie es für richtig halten«, sagte der Inspektor wieder. »Ich habe bloß meine Meinung gesagt. Hören Sie, Sommer«, wandte er sich nun an mich, »quittieren Sie hier mal, dass Sie all Ihre Sachen von uns zurückerhalten haben. Ihr Geld schicken wir Ihnen mit der Post nach …«
»Senden Sie es bitte an meine Frau«, sagte ich mit plötzlichem Entschluss. »Ich brauche kein Geld mehr.«
»Auch gut«, sagte der Inspektor gleichmütig, und damit war ich entlassen.
Der Wachtmeister legte mir das Kettchen um das Handgelenk, und so bin ich denn durch meine Vaterstadt zum Bahnhof geführt worden, es hat mich aber nicht geniert. Wie gesagt, ich trug noch meinen Nasenverband; selbst Magda hätte mich nicht erkannt.
Ich sah manchen auf der Straße, mit dem ich mich sonst gegrüßt hätte, und mancher oder manche sah mich an, aber es betraf mich alles nicht mehr so recht. Als mein eigenes Gespenst ging ich durch die Stadt, in der ich einstens geboren wurde, auf deren Gassen ich als Kind gespielt hatte; auf der Bank dort drüben hatte ich einmal mit Magda gesessen, damals trug sie noch einen Zopf, und wir hatten beide Schultaschen unter dem Arm …
Nun gingen wir an meinem eigenen Geschäft vorüber, »Erwin Sommer, Landesprodukte en gros und en détail« stand noch auf den Milchglasscheiben – wie lange noch? Und am Kettchen geführt, einen Handkoffer in der freien Hand, ging derselbe Erwin Sommer daran vorbei, lebendig und doch schon gestorben für all dies, noch gab es Spuren seines Lebens – wie lange noch?
»Ich bin erst einundvierzig Jahre alt«, sagte ich zu meinem Transporteur.
»Was meinen Sie denn damit?«, fragte der junge Beamte streng. »Was wollen Sie denn damit sagen?«
»Ach, nichts weiter, Herr Wachtmeister«, antwortete ich. »Aber, wenn man mit einundvierzig Jahren bei lebendigem Leibe schon tot und gestorben sein soll …«
»Ach was, machen Sie sich doch nicht solche Gedanken«, sagte der Wachtmeister friedlich. »In der Heilanstalt, wohin ich Sie bringe, haben Sie es doch besser als im Kittchen, und Sie machen doch einen ganz vernünftigen Eindruck, vielleicht kommen Sie auch noch mal wieder raus. – Wissen Sie was?« fuhr er immer menschlicher fort, »wenn wir nachher im Zuge sitzen, nehme ich Ihnen auch die Kette ab, und draußen lege ich sie Ihnen auch nicht wieder an. Es ist doch bloß hier in der Stadt; man weiß doch nie, was euch Brüdern plötzlich durch den Kopf fährt.«
Ich schwieg. Er meinte es gut, aber er ahnte nicht, wie gleichgültig mir das Kettchen war. Aber er hatte bei seinen ungeschickten Trostversuchen ein Wort gesagt, das mich in meiner niedergedrückten Stimmung wie ein Blitz getroffen hatte. »Vielleicht kommen Sie auch noch einmal wieder raus«, hatte er gesagt! Vielleicht … auch noch einmal wieder … Und ich hatte mit einer sechswöchigen Unterbringung zur Beobachtung gerechnet, so hatte mich Mordhorst belehrt. Vielleicht … auch noch mal wieder … War das nur so dahingeredet von dem Wachtmeister, oder wusste der Mann wirklich etwas? Er hatte ja meine Papiere! Natürlich wusste er was: Ich sollte eingesperrt werden auf Lebenszeit! Wirklich lebendig gestorben, wie ich eben gefühlt hatte. Wie ein Schleier lag es vor meinen Augen, und die Sonne, durch die wir gingen, die allen schien, mir schien sie nicht mehr. Nie wieder schien sie mir. Oh, diese Angst …
Wir wandern gemeinsam eine schöne Landstraße entlang, der Wachtmeister und ich. Von dem Kettchen bin ich nun wirklich befreit, das hat den Vorteil, dass ich nun den gar nicht leichten Koffer mal rechts, mal links tragen kann. Der Wachtmeister hat sich eine kurze Pfeife angebrannt und hat auch mir gnädig die Erlaubnis gegeben, zu rauchen. Da ich aber nicht das geringste Rauchbare besitze, hilft mir diese Erlaubnis nichts. Außerdem ging’s wohl schlecht mit der zerbissenen Nase.
An der Straße stehen hohe, alte Kastanienbäume, sie haben schon ausgeblüht. Die Sonne sinkt, ab und zu knarrt ein verspätetes Heufuder1 an uns vorbei. Die Leute wenden kaum die Köpfe nach uns, sie sind hier in der nächsten Nähe der Heilanstalt solche Transporte längst gewöhnt. Höchstens, dass eine Frau einmal einen neugierigen Blick auf mein verbundenes Gesicht wirft.
Der Wachtmeister hat mich nach meinem »Verbrechen« und nach meinem »Vorleben« ausfragen wollen, aber ich habe ihm nur einsilbig geantwortet. Da er aber entschlossen ist, uns den Weg durch ein Gespräch zu kürzen, erzählt jetzt er mir von sich, das heißt von einem Garten, den er mit seiner jungen Frau bestellt. Und er möchte nun so gerne noch ein angrenzendes Stück Land dazu pachten und trägt mir nun, behaglich erwägend, alle Gründe für und wider vor, das geringe Gehalt und die teure Pacht, den verunkrauteten Boden, die zweifelhafte Ernte – ach, es gibt eigentlich nur Gründe dawider. Der Wachtmeister stößt eine bläulich-weißliche Tabakwolke aus und sagt abschließend: »Also, ich pachte das Stück unter allen Umständen. Ein Stück Land – das ist besser als tausend Mark auf der Sparkasse!«
Ich höre nur halb hin auf sein Geschwätz, und nur, als er jetzt zu seinem überraschenden Schluss kommt, lächle ich bitter. Mit solchen Strohköpfen muss ich also nun umgehen von jetzt an, und sie sagen einfach »Sommer« zu mir, ohne »Herr«, und bestätigen mir gütigst, dass ich »soweit einen ganz vernünftigen Eindruck« mache! Laut aber frage ich: »Ist das die Heilanstalt?«
»Das ist sie«, antwortet der Wachtmeister. »Und jetzt wollen wir einen Schritt schneller zugehen; es ist gleich Büroschluss, und der Oberinspektor schimpft, wenn ich dann noch mit Ihnen angekleckert komme!«
Von der Straße aus gesehen, macht die Heilanstalt keinen schlechten Eindruck, mein Herz fängt etwas leichter zu schlagen an. Auf einer leichten Anhöhe gelegen, von hohen, alten, reichlaubigen Bäumen umstanden, liegt sie stattlich da wie ein großes Schloss oder eine altertümliche Burg. Große Fenster blinken im Licht der Abendsonne.
Aber als wir näherkommen, sehe ich die hohen roten Mauern darum, oben noch mit Eisen und Stacheldraht bewehrt, ich sehe auch die Gittertraljen2 vor den großen blitzenden Fenstern, und mein Begleiter hat es gar nicht nötig, mir erklärend zu sagen: »Früher war dies einmal ein Zuchthaus.« Nein, das sehe ich auch so, dass dies nicht wie ein Krankenhaus, sondern wie ein Zuchthaus aussieht.
Ein richtiger breiter Wallgraben läuft um den ganzen Komplex, friedlich schwimmen Enten und Gänse auf ihm, aber auf der Brücke, die wir überschreiten, steht ein bewaffneter Posten in grüner Uniform, und das Büro, in das ich geführt werde, ist kein bisschen anders als das Gefängnisbüro, aus dem ich vor anderthalb Stunden entlassen wurde. Sogar die Beamten drin scheinen von genau der gleichen Art zu sein, derselbe gelangweilte, teilnahmslose und doch prüfende Blick, der »die Neuaufnahme« streift, dieselbe langsame Umständlichkeit, mit der dem Transporteur für mich quittiert wird, mit der meine Personalien eingetragen werden.
An diesem Abend gab es nur einen kurzen Lichtblick für mich: Ich war wegen Mordversuchs verhaftet, wegen Totschlagversuchs hatte der alte Amtsgerichtsdirektor meine Überweisung in eine Heilanstalt angeordnet, jetzt wurde ich mit dem Vermerk »wegen Bedrohung« eingeliefert. Ohne dass ich etwas dazu getan hatte, verminderte sich die Last des mir Vorgeworfenen beständig, einen Augenblick sagte ich mir, dass man unmöglich wegen eines so geringen Vergehens mich länger hierhalten, mir mein ganzes Leben zerstören konnte.
Aber dann, als ich wieder hinter einem meiner Führer in grüner Uniform mit einem dicklichen, traurigen Gesicht über all die trostlosen Steinhöfe ging, auf die nur vergitterte Fenster schauten, als ich in einem Riesensteinkasten, durch zwei eiserne Türen gelassen, ein düsteres Treppenhaus hinaufstieg, als ich begriff, dass das erwartete Krankenhaus sich in nichts von einem Gefängnis unterschied, dass es hier wie dort Gitter gab und Wachtmeister und eiserne Disziplin und blinden Gehorsam, da dachte ich nicht mehr an den großen Schritt, den ich vom Mordversuch bis zur Bedrohung gemacht hatte, da glaubte ich nicht mehr an ein geringes Vergehen – da hielt ich alles für möglich, da fühlte ich, wie hilflos ich großen Mächten ohne Gnade ausgeliefert war, Mächten, die kein Herz haben, die kein Mitleid kennen, die nichts Menschliches haben. In eine große Maschine war ich geraten, und nichts bedeutete es mehr, was ich tat oder fühlte, die Maschine lief unabänderlich ihren Lauf, ich mochte weinen oder lachen, das merkte die Maschine gar nicht!
1 Ladung eines Heuwagens <<<
2 (franz.) ›traillage‹: Gitterwerk, Gitterstäbe <<<
Ein Eisengitter und noch ein Eisengitter, und nun treten wir auf einen langen, düstern Gang, der voll steht von fahlen Gestalten. Es stinkt hier, stinkt durchdringend nach Abort, nach Kohl, nach schlechtem Tabak. Hinter dem Gangfenster draußen verglüht das letzte Abendrot. Ich sehe über die hohe, eisenspießige Mauer hinweg in das friedlich-abendliche Land mit Wiesen und schon langsam reifenden Feldern, bis fern am Horizont zum niedrigen Waldstreifen. Um mich stehen schweigend die fahlen Gestalten, lehnen an den Wänden. Ich kann manchmal ein Stück von ihrem Gesicht erkennen, wenn die Glut in ihrer Pfeife aufleuchtet.
Ein Mann, ein untersetzter, kräftiger Mann in weißer Jacke, holt mich in einen Verschlag am Ende des Ganges, sein Heiligtum, »der Glaskasten«, wie dieser Verschlag genannt wird. Von diesem Glaskasten aus kann der Stämmige, der »Herr Oberpfleger« tituliert wird, alles beobachten, was auf dem Gang geschieht, und er beobachtet sehr scharf, wie ich noch erfahren soll. Er sieht sogar Dinge, die er gar nicht sehen kann, er weiß, was in den Zellen geschieht, er kennt alles, was bei der Arbeit passiert – er ist das strenge Gewissen der Station 3, der Nachrichtendienst des Arztes.
»Setzen Sie Ihren Koffer erst einmal hier ab, Sommer«, sagt der Oberpfleger zu mir. »Morgen früh gebe ich Ihnen Anstaltszeug, Zivil ist hier verboten. Und jetzt zeige ich Ihnen Ihr Bett, es ist Schlafenszeit, hier wird um halb acht Uhr abends ins Bett gegangen, morgens um dreiviertel sechs Uhr stehen wir aber auch schon wieder auf …«
»Darf ich vielleicht noch um etwas Abendessen bitten?«, frage ich. »Ich habe dort keines bekommen …« Ich habe erwartet, dass ich ein »Nein« höre, wie damals bei meiner ersten Einlieferung ins Gefängnis. Ich habe eigentlich gar nicht fragen wollen, ich habe es doch nun gelernt: Ein Gefangener darf nichts sagen, nichts fragen, nichts bitten.
Aber – o Wunder – der Oberpfleger nickt mit dem Kopf und sagt: »Das sollen Sie haben, Sommer. Setzen Sie sich solange in den Tagesraum.«
In den Tagesraum werde ich gesetzt, es ist ein langer, dreifenstriger Raum, der nichts enthält wie abgescheuerte, einmal weiß lackiert gewesene Holztische, primitive Holzbänke ohne Lehne und eine Art Küchenuhr an der Wand. Ich setze mich auf eine Bank – die Küchenuhr zeigt kurz nach halb acht Uhr.
Draußen ertönt der Ruf: »Schlafen gehen! Sachen raus!« Ein heftiges Geschlurfe beginnt (wie unglaublich viel Menschen auf dieser einen Station schon zu leben scheinen), Türen schlagen; in einem Nebenraum, in dem wohl die Aborte untergebracht sind, beginnt ununterbrochen Wasser zu rauschen. Halb acht Uhr und ins Bett, wie die Kinder, früher als die Kinder!
Wie werde ich diese Nacht hinbringen? Wie die sechsunddreißig Nächte der Beobachtungszeit? Und vielleicht viele, viele Nächte danach? Die unendliche Länge einer endlosen Zeit, in der nichts geschieht, legt sich wie ein Bleigewicht auf mich. Dieser kahle Raum, in dem nichts als das Allernotwendigste ist, erscheint mir wie ein Abbild meines künftigen Lebens. Nichts mehr zu erwarten, nichts mehr zu wünschen, nichts mehr zu hoffen … Leben und warten, ein Leben, das sich nur auf das Künftige richtet, in dem jede Stunde leer ist, und auch das Künftige wird leer sein …
Eine Aluminiumschüssel wird vor mich hingestellt, ein Löffel dazugelegt … Ein kleiner Mensch in schmutziger Leinenjacke ist es, der das tut. Sein Gesicht ist hässlich, und es wird besonders hässlich dadurch, dass ihm vorne im Oberkiefer alle Zähne fehlen, bis auf die beiden hauerartigen, gelbschwärzlich verfärbten Eckzähne. Der Mann sieht wie ein böses Tier aus. »Was bist denn du für einer?«, fragt er mit einer frechen, hohen Stimme. »Woher kommst du? Was hast du ausgefressen? Was ist mit deiner Nase passiert?«
Ich antworte ihm gar nicht, schweigend beginne ich, in der Aluminiumschüssel zu löffeln. Es ist nichts wie Wasser und Kohl, warmes gesalzenes Wasser mit wenig Kohl. »Ist das euer Abendessen?«, frage ich. »Gar kein Brot?«
Um mich schleichen, obwohl doch jetzt Schlafenszeit ist, schon mehrere Gestalten, in einer bräunlichen, verschlissenen Tracht, die bei manchen völlig zerlumpt ist …
Der Kleine mit den Hauerzähnen lacht schrill auf. »Ob das unser Abendessen ist?« lacht er böse. »Das fragt der? Der denkt wohl, für ihn wird besonders gekocht! Der denkt, er ist in ein Restaurant gekommen! Der ist so fein, der redet nicht mit unsereinem! Gar kein Brot, sagt der!« Er lacht noch einmal, und plötzlich ist alles still.
Sechs, sieben Gestalten sind es jetzt schon, die um mich schleichen, an den Wänden lehnen, stumm. Ich lege den Löffel in die Schüssel zurück – was hat es für Zweck, sich den Bauch mit warmem Wasser zu füllen? Ich stehe auf, mache einen Schritt nach der Tür hin. Im gleichen Augenblick entsteht in meinem Rücken Getümmel. Sie haben sich auf meine kaum halb geleerte Schüssel gestürzt, sie kämpfen um sie wie die Tiere. Unterdrückte Ausrufe werden laut … das klatschende Geräusch von Schlägen … O du mein lieber Gott, sie prügeln sich um einen halben Liter heißes Kohlwasser wie die Tiere!
Da, ein triumphierendes, hohes, gellendes Gewieher! Das ist der Kleine mit den Hauerzähnen – er ist Sieger geworden!
»Wollt ihr machen, dass ihr fortkommt! Ich melde euch beim Oberpfleger! Ich habe dem Neuen die Schüssel gebracht, mir gehört sie! Nicht wahr, Neuer, du gibst mir dein Essen?«
Ich mache, dass ich aus der Tür komme, ich stehe wieder auf dem Gang beim Glaskasten.
Der Oberpfleger kommt heraus. »Na, dann kommen Sie mal mit, Sommer. Ist Ihr Verband noch in Ordnung? Morgen früh sehe ich ihn nach.«
Auf dem langen Gang liegen jetzt vor jeder Zellentür Kleiderbündel. »Sie legen Ihre Kleider dann auch vor die Tür, nur Ihr Hemd dürfen Sie drin behalten.«
»Darf ich mir nicht einen Schlafanzug aus meinem Koffer holen?«
»Schlafanzug, Nachthemd – so etwas gibt es hier nicht. Sie bekommen ein anständiges Anstaltshemd, das reicht eine Woche.«
Wir treten in eine lange, schmale Zelle, die Luft ist schon jetzt erstickend, stinkend. Acht Betten stehen in dem engen Raum, vier unten, vier darüber gebaut. »Sie haben das Bett unten rechts am Fenster. Machen Sie es rasch zurecht und legen Sie Ihre Sachen vor die Tür. Es ist sofort Einschluss.«
Hinter mir schlägt die Tür zu, ich gehe zu meinem Bett hin. Ich fühle viele Augen musternd auf mich gerichtet, aber niemand sagt ein Wort. Das Bett ist besser als im Gefängnis. Es gibt hier keinen Strohsack, sondern richtige Matratzen, steinharte, aber es liegt sich besser darauf. Es gibt auch ein Laken und eine schöne, weiße Wolldecke, die ich ungeschickt genug in einen Bezug stecke. Auch ein Kopfkeil ist da. Die Bettwäsche ist blau gewürfelt. Ich fühle bei all meinem Tun die musternden Augen auf mir, aber kein Mensch sagt ein Wort. Eilig schlüpfe ich aus meinen Kleidern, bündele sie ungeschickt genug zusammen und laufe im Hemd wieder zu meinem Bett. Ich krieche hinein, dicht über mir ist der Bretterboden des oberen Bettes, ich kann nicht aufrecht sitzen. Das Bett über mir scheint leer. Ich wickle mich fest in meine Decken, strecke mich lang aus. In meinem Magen kullert unangenehm das warme Kohlwasser.
Eine Stimme sagt laut: »Sagt nicht einmal Guten Abend und stellt sich nicht vor. So ein Schleimscheißer!« Beistimmendes Gemurmel wird laut.
Ich fahre in meinem Bett hoch – ich darf es mit diesen Leuten nicht schon am ersten Abend verderben. Ich habe von meinem gespannten Verhältnis mit Düstermann genug. Ich habe mir den Kopf kräftig an den Brettern des oberen Bettes gestoßen.
Die beiden in den Betten drüben, die es gesehen haben, lachen. Der eine ruft: »Hat sich den Dez eingerannt!« in den Schlafsaal. Und der andere: »Hat seine schöne Tuchhose ganz verwürgt ins Jackett gestopft, der muss noch viel lernen, der Speckjäger, der!« Wieder beistimmendes Gemurmel.
Ich krieche aus meinem Bett. »Meine Herren«, sage ich, »entschuldigen Sie, wenn ich mich falsch benommen habe, ich wollte Sie nicht kränken. Wenn ich nichts gesagt habe, so darum, weil mir vorkam, als schliefen einige schon …«
Eine Stimme aus einem Oberbett ruft: »Das ist der Ziese, der ist taubstumm, der hört doch nichts!«
Ich fahre eifrig fort: »Ich bin all das hier noch nicht gewohnt. Ich war nur gut vierzehn Tage in Untersuchungshaft. Wegen Mordversuchs an meiner Frau …«
Beistimmendes, sehr viel wohlwollenderes Gemurmel. Ich habe richtig getippt: Mordversuch macht hier besseren Eindruck als Bedrohung.
»Ich heiße Erwin Sommer, habe ein Produktengeschäft und bin hier nur sechs Wochen zur Beobachtung …«
»Dann pass man gut auf, dass keine sechs Jahre daraus werden!«, ruft eine lachende Stimme. »Der Medizinalrat hat uns alle so lieb, der will keinen von uns entbehren.« Wieder Lachen, aber das Eis ist gebrochen, der schlechte Eindruck wiedergutgemacht.
Ich gehe von Bett zu Bett und höre die Namen: Bull, Meierhold, Brachowiak, Marquardt, Heine und Dräger. Ich werde sie nie behalten, besonders, weil es unterdes fast dunkel geworden ist und ich die Gesichter der einzelnen in ihren Bettkisten nicht mehr erkennen kann. Dann krieche ich in mein Bett zurück.
Eine Stimme ruft: »Du, Neuer, erzähl mal, wie du zu dem Ding mit deiner Frau gekommen bist.«
Eine andere ruft hitzig: »Halt deinen Sabbel, Dräger! Musst du immer so neugierig sein? Überlass doch dem Mann, was er erzählen will! Du möchtest dich ja doch nur morgen im Glaskasten beim Ober beliebt machen!«
Ein hitziger Streit beginnt, wer der »Ohrwurm« des Oberpflegers ist. Andere Bettinsassen greifen ein, ein wüstes Geschimpfe wird laut. Ich bin froh, dass sie mich wenigstens zufriedenlassen. Ich bin müde, meine Nase schmerzt sehr. Gerade fängt der Streit wegen Mangels an Stoff an abzuflauen, da wird draußen auf dem Gang Geschimpfe laut, klatschendes Geräusch wird laut, Gejammer. Unsere Zellentür fliegt auf, eine Gestalt fliegt hinein.
Eine kräftige Stimme ruft: »Wirst du machen, dass du in dein Bett kommst, dich nicht in fremden Zellen herumtreiben, du warmer Sack, du!«
Und eine jammernde, gelle Stimme – ich erkenne sie sofort, es ist der Hauerzähnige: »Herr Wachtmeister, Sie haben mich ja so gehauen! Herr Wachtmeister, ich kann morgen nicht arbeiten!«
»Warmer Sack, du«, klingt draußen die Stimme noch einmal grollend, »mach, dass du schnellstens in deine Falle rollst! Sonst gibt’s noch mal was!«
Der Hauerzähnige fährt mit seinem Gesicht in mein Bett. »Na, Neuer, liegste unter mir? Das sage ich dir aber, wenn du nachts nicht stille liegst und wackelst, ich komme runter und verwackele dich!«
»Ich liege schon still«, versichere ich und denke besorgt an mein Röcheln und Schnarchen.
Der Kleine zieht sich mit unglaublicher Schnelligkeit aus und »feuert seine Lumpen« vor die Tür. Dann benutzt er mit einer schamlosen Ungeniertheit den Kübel an der Tür.
»Hätt’ste auch draußen erledigen können, Lexer!« ruft eine unwillige Stimme.
»Biste zu fein, meinen Gestank aufzuriechen?«, schreit sofort die gelle, freche Stimme. »Jetzt wird’s wohl fein hier bei uns, wo der Neue gekommen ist? So blau, jetzt scheiße ich erst recht hier!« Und er lässt donnernd einen fahren.
›Die Hölle‹, denke ich. ›Ich bin in die Hölle geraten. Wie soll ich hier je leben können? Und schlafen? Das sind ja keine Menschen mehr, das sind Tiere! Und hier soll ich sechs Wochen leben, vielleicht länger? Vielleicht lange? In dieser Hölle? Der Lexer, oder wie er heißt, ist ein wahrer Teufel!‹
Sie versuchen, mich noch auszufragen. Aber ich mag von ihnen nichts mehr hören noch sehen. Ich stelle mich schlafend. Und allmählich werden auch sie ruhig, die verhasste gelle Stimme verstummt. Es wird immer dunkler, die meisten schlafen wohl schon. Ich höre eine Uhr schlagen, dreimal. Was wird es sein? Dreiviertel neun? Dreiviertel zehn? Hoffentlich zeigt der Glockenschlag auch die vollen Stunden an. Das verkürzt die Nacht. Über mir der Lexer wälzt sich unruhig hin und her, jedes Mal kommt dann mein Bett ins Schwanken. Und ich soll mich nicht rühren! Ich liege ganz still, mein Gesicht im Arm verborgen.
Ich bin völlig allein mit mir. Ich bin mir klar: Ich werde von nun an immer völlig allein mit mir sein. Ich bin dort, wohin weder Liebe noch Freundschaft reichen. Ich bin in der Hölle … Ich habe eine kurze Zeit gesündigt, und ich werde dafür eine lange Zeit unglaublich hart bestraft! Aber man hätte es wissen müssen, bevor man sündigte, wie hart die Strafe ausfällt. Es hätte einem vorher gesagt werden müssen, dann hätte man nicht gesündigt … Gott, das bisschen Schnapstrinken, ist das nun wirklich so schlimm? Diese Kabbelei mit Magda – nun gut, juristisch haben sie eine Bedrohung daraus gemacht, aber muss ich darum bei lebendigem Leibe in der Hölle sein? Wenn Magda wüsste, wie ich leide – sie würde wenigstens Mitleid mit mir haben, aus Mitleid würde sie mir helfen, wenn sie mich auch nicht mehr liebt.
Es gibt noch eine einzige Hoffnung, das ist der Arzt. Dieser Medizinalrat Stiebing, er hatte keinen so schlechten Eindruck auf mich gemacht, damals bei jener Autofahrt. Er hatte mit Dr. Mansfeld gescherzt und gelacht, wie ein richtiger Mensch. Vielleicht war er ein richtiger Mensch, nicht bloß ein Maschinenteil. Ich werde wie mit einem Menschen mit ihm reden, um meine Seele werde ich mit ihm kämpfen, meine Seele werde ich aus dieser Hölle erretten.
›Herr Medizinalrat‹, werde ich zu ihm sprechen, ›ich trage die volle Verantwortung für alles, was ich getan habe. Ich war nie so berauscht, dass ich nicht wusste, was ich tat. Ich will hart bestraft werden, ein Jahr, zwei Jahre will ich gerne ins Gefängnis gehen, gerne will ich das tun. Aber lassen Sie mich nicht in diesem Haus, in dieser Hölle, in die man hineingebracht wird, und nicht weiß, wann man wieder hinausgeht; vielleicht wird man erst auf dem Rücken hinausgetragen.‹
›Herr Medizinalrat‹, werde ich noch sprechen, ›Sie kennen unseren Hausarzt, den Herrn Dr. Mansfeld, ich habe es gesehen. Sie haben mit ihm gescherzt und geplaudert im Auto. Fragen Sie Herrn Dr. Mansfeld, er kennt mich seit vielen Jahren; er wird Ihnen bestätigen, dass ich ein anständiger, solider, nüchterner Mensch bin. Das jetzt war nur ein Anfall, ich weiß selbst nicht, wie ich dazu gekommen bin. – Nein‹, unterbrach ich mich, ›das darf ich dem Medizinalrat nicht sagen, sonst erklärt er mich für geisteskrank. Aber Dr. Mansfeld wird bestätigen, dass ich immer anständig war: Ich habe Magda in die zweite Klasse im Krankenhaus gelegt, und ich habe ohne Murren die hohen Operationskosten bezahlt und nie etwas an ihrer Pflege gespart. Immer war ich anständig, Herr Medizinalrat, lassen Sie mich wieder unter anständigen Menschen leben. Geben Sie mir eine Chance …‹
Die Uhr schlägt, sie schlägt die volle Stunde, eine Viertelstunde der langen Nacht ist abgelaufen, es ist jetzt zehn Uhr. Und so verbringe ich diese erste Nacht in der Heil- und Pflegeanstalt, Viertelstunde um Viertelstunde zählend, Reden haltend und Briefe schreibend, zwischen Schlaf und Wachen, so werde ich gepflegt und geheilt. Manchmal bin ich, übermüdet, nahe am Einschlafen, aber dann schrecke ich wieder hoch: Lexer hat sich oben im Bett herumgeworfen, oder jemand ist auf den Kübel gegangen. Ich habe es »spaßeshalber« gezählt in dieser ersten Nacht: Von zehn Uhr abends bis dreiviertel sechs Uhr früh gingen sieben Mann achtunddreißigmal auf den Kübel. Als ich ihn am Morgen benutzen wollte, war er so gehäuft voll, dass er bereits überlief. Und kein einziger Mensch benutzte Papier – darüber waren sie hinaus. Oh, ich habe schon wirklich ein hübsches Stück Hölle kennengelernt in dieser Nacht!