Hans Fallada – Gesammelte Werke

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22

Ich war zu spät ge­kom­men. Vor den Fens­tern der Gast­stu­be la­gen schon die Lä­den, und kein Licht­schein drang hin­durch. Ich leg­te die Hand auf die Klin­ke, aber die Tür war ver­schlos­sen. Ei­nen Au­gen­blick stand ich über­le­gend. Dann ging ich lei­se um das Haus her­um in den Obst­gar­ten und sah zu Eli­nors Fens­ter em­por. Auch dort al­les dun­kel, aber das mach­te nichts. Ich hat­te alle Zeit, die Gott wer­den ließ, und wir wür­den uns schließ­lich auch im Dun­keln gut ver­stän­di­gen. Bes­ser! Bes­ser!

Erst ein­mal setz­te ich mich ins Gras und fing an, mein Pa­ket zu öff­nen. So ein ge­schickt ver­pack­tes Pa­ket ist et­was sehr Gu­tes, aber es hat den Nach­teil, dass man an sei­nen In­halt nicht her­an kann. Zu lan­ge hat­te ich schon ge­durs­tet, große Leis­tun­gen voll­bracht – und jetzt der gute Holz­fäl­ler­schnaps! Nach­dem ich mich aus­gie­big, sehr aus­gie­big ge­stärkt hat­te, fing ich an, mei­ne Hab­se­lig­kei­ten auf dem Schup­pen­dach, das ich ge­ra­de mit den Hän­den er­rei­chen konn­te, auf­zu­bau­en. Zu­erst die Ak­ten­ta­sche, dann eine Fla­sche nach der an­de­ren: eine Fla­sche säch­si­schen Korn, dann vier un­an­ge­bro­che­ne und eine an­ge­bro­che­ne Fla­sche Schwarz­wäl­der Zwetsch­gen­was­ser. Al­les schön or­dent­lich ne­ben­ein­an­der auf dem Dachrand. Nun war ich fer­tig zum Auf­stieg.

Ich häng­te mich an die vor­ste­hen­de Dach­kan­te und ver­such­te, mich hoch­zu­zie­hen. Aber ich hat­te mei­ne tur­ne­ri­schen Fä­hig­kei­ten über- und die Wir­kung des Schnap­ses un­ter­schätzt: Eine Wei­le ham­pel­te ich hilf­los in der Luft, dann ver­lor ich den Halt und stürz­te schwer ins Gras. Äch­zend blieb ich lie­gen, der Fall hat­te mir nicht gut­ge­tan. Aber mit je­ner Hart­nä­ckig­keit, die Be­trun­ke­ne ge­ra­de beim aus­sichts­lo­ses­ten Tun ent­wi­ckeln, er­neu­er­te ich mei­ne Ver­su­che, stets, nach­dem ich mich erst neu und aus­gie­big ge­stärkt hat­te – der Rest der ers­ten Fla­sche ging da­bei drauf. Aber je­des Mal stürz­te ich wie­der schwer zu Bo­den. Als ich das letz­te Mal auf­stand, war mir klar, dass ich so mein Ziel nie er­rei­chen wür­de. Au­ßer­dem ver­stand selbst ich, dass ich schwer be­trun­ken war.

»Ich bin kom­plett be­sof­fen, ich bin völ­lig blau …«, mur­mel­te ich im­mer wie­der stumpf­sin­nig vor mich hin und lehn­te mich schwer at­mend ge­gen einen Baum. Dann er­in­ner­te ich mich dun­kel, dass ich vor dem Gast­hof Ei­sen­ti­sche und Ei­sen­stüh­le hat­te ste­hen se­hen. Müh­sam schlepp­te ich einen Stuhl her­bei, klet­ter­te vor­sich­tig auf ihn (ich hat­te jetzt schon Furcht vor ei­nem neu­en Fall) und ver­such­te nun, aufs Dach zu kom­men. Und wie­der stürz­te ich.

Es gab eine län­ge­re Pau­se, ei­nes­teils, weil ich mich wirk­lich ziem­lich schwer ge­schla­gen hat­te, zum an­de­ren, weil ich den Kor­ken­zie­her su­chen muss­te, um eine neue Fla­sche zu öff­nen. Ich hat­te ihn be­stimmt auch auf den Dachrand ge­legt, aber von dort war er ganz un­be­greif­lich ver­schwun­den. Ich such­te ihn, lei­se vor mich hin schel­tend, auf al­len Vie­ren im Gra­se. Er war nicht auf­zu­fin­den. Schließ­lich be­sann ich mich dar­auf, dass auch an mei­nem Ta­schen­mes­ser ein Kor­ken­zie­her war, der mir bis­her recht gute Diens­te ge­leis­tet hat­te. Ich such­te das Mes­ser in den Ta­schen, fand es nicht, fand aber statt­des­sen in ih­nen den Kor­ken­zie­her, den ich auf den Dachrand ge­legt hat­te.

Nach­dem ich wie­der ge­trun­ken hat­te, war mir doch ei­nes klar: dass ich über das Dach das Kam­mer­fens­ter nie er­rei­chen wür­de. Also ging ich wie­der nach vor­ne und ver­such­te von Neu­em die Vor­der­tür. Sie war noch im­mer ver­schlos­sen. Ich zog mein Schlüs­sel­bund aus der Ta­sche und ver­such­te mei­ne Schlüs­sel, einen nach dem an­de­ren. Sie wa­ren alle viel zu klein für die­ses der­be länd­li­che Schlüs­sel­loch, aber mit ei­ner stu­pi­den Hart­nä­ckig­keit ver­such­te ich sie im­mer wie­der in der fes­ten Er­war­tung, schließ­lich wer­de ein Wun­der ge­sche­hen und die Tür sich öff­nen.

Ich hat­te bei all die­sen völ­lig be­trun­ke­nen An­stal­ten schon lan­ge nicht mehr die ge­rings­te Rück­sicht auf den Nacht­schlaf der Haus­be­woh­ner ge­nom­men, und so war es denn kein Wun­der, dass schließ­lich über mir ein Fens­ter auf­ging und eine recht är­ger­li­che Frau­en­stim­me scharf sag­te: »Wer ist denn da?«

Ich stand ganz still, rühr­te mich nicht, wie ein er­tapp­ter Ein­bre­cher.

»Wol­len Sie wohl ma­chen, dass Sie fort­kom­men!«, rief es wie­der von oben är­ger­lich. »Ich seh Sie ja da ganz deut­lich ste­hen! Hier wird nichts mehr aus­ge­schenkt, hier ist ge­schlos­sen!« Da­mit flog das Fens­ter oben wie­der zu, und ich stand al­lein im Dun­keln, noch im­mer aus­ge­schlos­sen.

Eine Wei­le ver­harr­te ich be­we­gungs­los, dann schlich ich auf Ze­hen­spit­zen zu­rück in den Hin­ter­gar­ten und fing lei­se an, mei­ne Hab­se­lig­kei­ten vom Schup­pen­dach fort- und vor­ne zum Ein­gang hin­zu­tra­gen, wo ich sie wie­der pe­dan­tisch or­dent­lich auf ei­nem Ei­sen­tisch auf­bau­te. (Dass ich bei die­ser Be­schäf­ti­gung nicht das Trin­ken ver­gaß, ver­steht sich von selbst.) Kaum hat­te ich die­ses Werk, das we­gen mei­ner Zer­fah­ren­heit und mei­nes un­si­che­ren Gan­ges viel Zeit be­an­spruch­te, vollen­det, fing ich wie­der mein idio­ti­sches Spiel mit Schlüs­sel­bund und Schlüs­sel­loch an.

Ich hat­te noch nicht lan­ge ge­ar­bei­tet, so flog oben mit ei­nem Krach wie­der das Fens­ter auf, und die Frau­en­stim­me rief jetzt sehr zor­nig: »Das wird mir jetzt aber doch zu bunt. Wol­len Sie jetzt ma­chen, dass Sie weg­kom­men? Oder soll ich die Po­li­zei ho­len?!«

Das Wort »Po­li­zei« lös­te mei­ne schwer ge­wor­de­ne Zun­ge. »Ach bit­te«, rief ich ver­wirrt nach oben, »wol­len Sie mich denn nicht her­ein­las­sen? Ich bin näm­lich der Pro­fes­sor …!« Wie ich dazu kam, mir den Ti­tel »Pro­fes­sor« bei­zu­le­gen, ahne ich nicht, es war eine hö­he­re Ein­ge­bung.

»Der Pro­fes­sor …?«, frag­te es von oben im Tone höchs­ten Er­stau­nens. »Wel­cher Pro­fes­sor denn? Der hier vo­ri­gen Som­mer Bil­der ge­malt hat?«

»Ja, na­tür­lich«, sag­te ich im selbst­ver­ständ­lichs­ten Tone von der Welt, als sei es ganz nor­mal, dass ein bil­der­ma­len­der Pro­fes­sor zur Nacht­zeit frem­de Tü­ren mit sei­nen Schlüs­seln auf­schlie­ßen will. »Las­sen Sie mich doch rein! Ich ste­he hier schon zwei Stun­den!«

»Hät­ten Sie doch eine Post­kar­te ge­schrie­ben, Herr Pro­fes­sor!«, sag­te die Stim­me von oben, noch nicht ge­ra­de sehr freund­lich, aber doch mil­der. »War­ten Sie einen Au­gen­blick, ich schlie­ße Ih­nen dann gleich auf.«

Er­leich­tert setz­te ich mich auf einen Ei­sen­stuhl, trank schnell noch ein­mal und schloss dann die Au­gen. Ich war sehr müde, fast be­täubt, und doch ahn­te ich, dass hin­ter die­ser Ruhe in mir et­was Ge­fähr­li­ches steck­te: ein wil­der un­bän­di­ger Zorn, der je­den Au­gen­blick her­vor­bre­chen konn­te. Es fehl­te nur der An­lass, und An­lass konn­te ei­gent­lich al­les sein. Die­ses Zwetsch­gen­was­ser war viel ge­fähr­li­cher als der ver­gleichs­wei­se harm­lo­se Korn, es ging tiefer ins Blut, führ­te zu un­ge­ahn­ten Ab­grün­den.

Schließ­lich dreh­te sich der Schlüs­sel in der Tür, ein Licht­schein fiel her­aus zu mir. »Na, dann kom­men Sie man rein«, sag­te die Frau­en­stim­me. »Aber nett ist das nicht, Herr Pro­fes­sor, dass Sie uns so die Nachtru­he stö­ren.«

Ich stand auf und folg­te mei­ner Füh­re­rin in die Gast­stu­be, die jetzt im Schein nur ei­ner Glüh­bir­ne mit den auf die Ti­sche ge­stell­ten Stüh­len höchst un­wirt­lich aus­sah. Mei­ne Beglei­te­rin dreh­te sich jetzt nach mir um, es war die weiß­haa­ri­ge Wir­tin, die ich schon ein­mal einen Au­gen­blick ge­se­hen hat­te.

Sie mus­ter­te mich er­staunt. »Aber Sie sind ja gar nicht der Pro­fes­sor!«, rief sie är­ger­lich. »Sie sind ja der Herr, der neu­lich hier die große Ze­che­rei ge­macht hat und den der Kreis­arzt weg­ge­holt hat. Das ist doch eine Un­ver­schämt­heit, mir hier vor­zulü­gen …« Sie ver­stumm­te un­ter mei­nem dro­hen­den Blick.

Ich fühl­te eine un­ge­heu­re Wut in mir. Ich wuss­te, ich wür­de je­den Wi­der­stand bre­chen, der sich mir jetzt noch ent­ge­gen­stell­te; ich war im­stan­de, das wuss­te ich, die­se Frau zu schla­gen, zu Bo­den zu wer­fen, zu tö­ten gar, wenn ich es für not­wen­dig be­fand, wenn es der Teu­fel in mir für not­wen­dig hielt. Ich sah die­se Frau an und be­fahl: »Ru­fen Sie Eli­nor!« Und als sie eine Be­we­gung des Wi­der­spruchs mach­te: »Auf der Stel­le ru­fen Sie Eli­nor, oder«, mei­ne Stim­me wur­de lei­se und dro­hend, »es pas­siert was!«

Die Frau mach­te eine hilflo­se Ge­bär­de und sag­te dann rasch und bit­tend: »Mein Herr, ma­chen Sie mir doch kei­ne Schwie­rig­kei­ten. Es ist jetzt Nacht, und das Mäd­chen schläft. Ich will Ih­nen hier ger­ne auf dem Sofa ein Bett zu­recht­ma­chen. Se­hen Sie, jetzt ha­ben Sie einen klei­nen Rausch.« Sie ver­such­te zu lä­cheln, aber es war Angst in ih­rem Lä­cheln, ich er­kann­te es wohl. »Schla­fen Sie Ihren Rausch aus, und mor­gen soll Eli­nor so viel mit Ih­nen zu­sam­men sein, wie Sie nur wol­len. Sie sind doch ein ge­bil­de­ter Mann, mein Herr!«

»Sie ru­fen das Mäd­chen!«, sag­te ich hart­nä­ckig, und als sie wie­der da­ge­gen­re­den woll­te: »Nun gut, dann gehe ich selbst zu ihr hin­auf!« Ich schob die Wir­tin bei­sei­te.

»Ich wer­de die Eli­nor ru­fen«, sag­te die Wir­tin rasch. »Bit­te set­zen Sie sich einen Au­gen­blick dort in das Sofa, Eli­nor wird so­fort kom­men.«

»Halt!«, rief ich, als die Wir­tin trepp­auf ge­hen woll­te. »Sie ru­fen von hier un­ten, Sie ver­las­sen die­se Gast­stu­be nicht. Wer die­se Stu­be ver­lässt, wird er­schos­sen!« Ich griff in die Ta­sche, als hät­te ich eine Schuss­waf­fe bei mir.

 

Die Wir­tin kreisch­te lei­se auf.

»Sie wis­sen Be­scheid«, sag­te ich fins­ter. »Also jetzt ru­fen Sie!«

Die Wir­tin rief, sie muss­te vie­le Male ru­fen, ehe Ant­wort von oben kam, Eli­nor hat­te einen fes­ten Schlaf. »Sollst run­ter­kom­men, Eli­nor!«, rief die Wir­tin. »Mach ein biss­chen schnell, du!«

»So«, sag­te ich mit der Mie­ne ei­nes Un­ter­su­chungs­rich­ters, »und nun eine Fra­ge: Ha­ben Sie Schwarz­wäl­der Zwetsch­gen­was­ser?«

»Das nicht«, sag­te die Wir­tin, und als sie mei­ne zor­ni­ge Mie­ne sah, »aber ich habe ein Kir­sch­was­ser, das noch bes­ser ist.«

»Bes­ser als Zwetsch­gen­was­ser ist nichts«, er­wi­der­te ich, »aber brin­gen Sie im­mer­hin Ihren Kirsch.«

Sie brach­te ihn; Fla­sche und Glas zit­ter­ten in ih­rer Hand.

»So«, sag­te ich und trank. Mei­ne Stim­mung hell­te sich auf; dies war wirk­lich bei­na­he noch bes­ser. »So, und nun set­zen Sie sich dort­hin und sa­gen Sie mir, wer au­ßer Ih­nen noch hier im Haus ist.«

»Nur die Eli­nor, wirk­lich, au­ßer mir nur die Eli­nor!«

»Sie lü­gen!«, rief ich wü­tend. »Las­sen Sie sich nicht ein­fal­len, mich noch ein­mal an­zulü­gen, oder es pas­siert was.« Und wie­der griff ich in mei­ne Ta­sche.

Die Wir­tin kreisch­te wie­der lei­se.

»Ich habe«, fuhr ich un­er­bitt­lich fort, »das letz­te Mal hier noch ein Mäd­chen ge­se­hen, mit Zot­tel­haa­ren und ei­ner ro­ten Nase …«

»Ach, die Ma­rie mei­nen Sie«, rief die Wir­tin er­leich­tert. »Aber, Herr, warum re­gen Sie sich so auf und ängs­ti­gen mich so? Ich will Sie doch nicht an­lü­gen! Die Ma­rie hilft hier nur aus, die wohnt im Dorf bei ih­ren El­tern …«

»So«, sag­te ich zu­frie­den, »dann will ich Ih­nen dies­mal noch ver­zei­hen, wenn es so ist.« Ich trank. »Und Ihr Kirsch ist wirk­lich auch nicht schlecht, gut ist er so­gar …«

»Nicht wahr, nicht wahr?«, sag­te die Wir­tin eif­rig. »Ich tue ja al­les, um Sie zu­frie­den­zu­stel­len. Mit­ten in der Nacht hole ich das Mäd­chen aus dem Bett. Nun müs­sen Sie aber auch nett sein und nicht mehr mit dem Schieß­ei­sen dro­hen. Am bes­ten le­gen Sie es erst mal weg, so ein Ding kann so leicht los­ge­hen, und das wol­len Sie doch nicht; Sie sind doch ein gu­ter, an­stän­di­ger Herr …«

Ehe ich noch ge­gen die­se neue Be­lei­di­gung hat­te pro­tes­tie­ren kön­nen, denn ich war ent­schlos­sen, nicht gut, son­dern furcht­ein­flö­ßend und böse zu sein und mei­ne Macht über die Men­schen zu zei­gen, ehe ich also wie­der zor­nig ge­wor­den war, tön­te Eli­nors fes­ter Schritt auf der Trep­pe; und da trat sie in den Licht­schein, völ­lig an­ge­zo­gen, nur das dunkle Haar hat­te sie nicht fri­siert, son­dern trug es lo­cker nach hin­ten ge­kämmt. So sah sie noch schö­ner aus.

»Eli­nor!«, rief ich. »Mei­ne Kö­ni­gin!«

Nur einen Au­gen­blick stutz­te sie, als sie mich da so in dem un­or­dent­li­chen Lo­kal mit der Wir­tin sit­zen sah, und dann tat die­ses er­staun­li­che Mäd­chen ge­nau das Rich­ti­ge, als hät­te sie al­les, was vor­her ge­sche­hen, ge­wusst: Sie lief auf mich zu, um­arm­te mich, gab mir einen Kuss rechts und einen Kuss links auf die Ba­cke und rief ver­gnügt: »Ach, das Pa­pa­chen! Das gute, im­mer be­trun­ke­ne Pa­pa­chen! Jetzt wol­len wir aber fi­del sein, was, Mut­ter Schul­zen? Nun gib­t’s Sekt!«

»Sekt?«, rief ich be­geis­tert. »Na­tür­lich gib­t’s Sekt, so­viel ihr wollt. Ich habe Geld wie Heu. – Eli­nor, du bist die Bes­te, du weißt, dass ich dich lie­be. Du bist mei­ne Kö­ni­gin, und jetzt wer­den wir auf Rei­sen ge­hen. Eli­nor, gib mir noch einen Kuss, aber mit­ten auf den Mund!«

Sie tat es, ich fühl­te ihre Brust an der mei­nen, ich war se­lig, end­lich hat­te mir doch der Al­ko­hol die vol­le Se­lig­keit ge­schenkt! Ich sah nur Eli­nor, ich fühl­te nur Eli­nor, ich dach­te und re­de­te nur Eli­nor. Ich merk­te gar nicht, dass die Wir­tin trotz mei­ner stren­gen To­des­dro­hun­gen längst die Gast­stu­be ver­las­sen hat­te.

23

Ich weiß nicht, wie lan­ge Zeit ich so in Eli­nors Ar­men ver­brach­te. Ich hat­te ihr großes wei­ßes Ge­sicht mit den ge­schwun­ge­nen Au­gen­brau­en ganz nahe vor mir, es lehn­te sich über mich – und die gan­ze Welt ver­sank mir. Ihre jetzt nicht mehr farb­lo­sen, son­dern grün­strah­len­den Au­gen sa­hen mich an, und ich fühl­te ein Zit­tern in mir bis in das In­ners­te mei­ner Kno­chen; das Herz be­weg­te sich in mir wie ein Pap­pel­blatt im Som­mer­wind.

»Oh, Eli­nor, ver­zeih, ver­zeih! Nie habe ich so ge­liebt! Nie habe ich ge­wusst, dass es so et­was auf der Welt gibt, du machst mich schwach und stark; be­rührt mich dein Atem, so ist mir, als weh­te ein Sturm durch mich; die dür­ren Blät­ter der Ver­gan­gen­heit weht er alle fort. Ich bin neu ge­wor­den durch dich – komm, lass uns von hier flie­hen, lass uns aus dem Al­ten flie­hen! Wir wol­len in den Sü­den ge­hen, wo im­mer die Son­ne scheint, wo der Him­mel ewig blau ist – wei­ße Sch­lös­ser an Re­ben­hän­gen! Dor­thin wol­len wir! Komm mit! Ich habe eine klei­ne Ta­sche drau­ßen ste­hen, aber ge­nug ist in ihr, komm mit, wie du bist, wir wol­len flie­hen, jetzt, noch in die­ser Mi­nu­te, mir ahnt Schreck­li­ches, wenn wir noch län­ger hier­blei­ben! Sie wür­den dich nicht bei mir dul­den. Komm, lass uns ge­hen, mein wei­ßes, stren­ges Ge­sicht, ma rei­ne d’al­cool! Stoß mit mir an, du sollst le­ben! Dir einen Gruß aus mei­nem tiefs­ten Her­zen!« Ich sah sie strah­lend an. Und tief be­un­ru­higt: »Wa­rum ge­hen wir noch nicht?«

Sie fuhr mit der Hand durch mei­ne Haa­re, be­ru­hi­gend, lieb­ko­send. Sie saß auf mei­nem Schoß, einen Arm hat­te sie um mei­ne Schul­ter ge­schlun­gen, ihre Zärt­lich­keit deck­te mir die Welt zu. Sie sag­te lei­se: »Gleich fah­ren wir, al­tes Pa­pa­chen, gleich. Um sechs geht ein Zug von der Sta­ti­on, so lan­ge musst du dich noch ge­dul­den, al­tes Pa­pa­chen! Wir sit­zen doch gut hier! Oder sit­zen wir nicht gut hier?«

Ich schmieg­te mich fes­ter an sie, ich leg­te den Kopf ge­gen ihre Brust, ich fühl­te mich ge­bor­gen an ihr, in ihr, wie ein Kind bei sei­ner Mut­ter. »Sehr gut sit­zen wir hier. Aber um sechs fah­ren wir – weit, weit von hier fort. Dies al­les wol­len wir nie wie­der­se­hen – im Sü­den wer­den wir lie­ben … wir wer­den uns im­mer lie­ben …«

Sie sah mir in die Au­gen, so nahe, ein ein­zi­ges Auge schi­en es zu sein, das mir ver­schwamm, als hät­te ich in die hel­le Son­ne ge­st­arrt. Sie flüs­ter­te nahe an mei­nem Ohr: »Ja, ich wer­de mit dir rei­sen, al­tes Pa­pa­chen. Aber du wirst dann nicht im­mer trin­ken, wie? Män­ner, die im­mer be­trun­ken sind, has­se ich. Sie ekeln mich.«

»Nie mehr wer­de ich trin­ken, wenn ich dich erst habe, kei­nen Trop­fen mehr! Du bist bes­ser als Wein und Schnaps; ein Feu­er bist du in mir, du machst die Welt tan­zen! Dein Wohl, mei­ne Kö­ni­gin!«

»Dein Wohl, mein al­tes Pa­pa­chen! Ja, wir wer­den nun rei­sen, aber wer­den wir auch Geld ge­nug ha­ben für solch eine wei­te Rei­se? Wir wol­len doch nicht ar­bei­ten müs­sen?«

»Geld?«, frag­te ich ver­ächt­lich. »Geld? Geld ge­nug für uns bei­de! Geld für alle Rei­sen und das längs­te Le­ben! Geld wie Heu!« Und ich riss die Schei­ne aus der Ta­sche, es war wirk­lich ein gan­zes Bün­del.

Eli­nor nahm es aus mei­nen Hän­den, glät­te­te die Schei­ne und ord­ne­te sie. »Acht­hun­dert­drei­und­sech­zig Mark«, sag­te sie schließ­lich und sah mich mit ge­run­zel­ter Stir­ne nach­denk­lich an. »Das ist nicht sehr viel Geld, al­tes Pa­pa­chen. Nicht ge­nug für eine lan­ge Rei­se, für ein Le­ben zu zwei­en ohne Ar­beit. Ist das al­les Geld, das du hast?«

Ei­nen Au­gen­blick war ich et­was er­nüch­tert. Ich fuhr mit der Hand über die Stirn und sah voll Ab­nei­gung auf den Hau­fen schmut­zi­ger Lap­pen, den Eli­nor in der Hand hielt. »Ei­ner hat mir Geld ge­stoh­len, Eli­nor«, sag­te ich dann mür­risch. »Fünf­mal, zehn­mal mehr Geld, als du in der Hand hast, hat der Lump mir ge­stoh­len. Und alle mei­ne Sa­chen in ei­nem rinds­le­der­nen Kof­fer und un­ser Sil­ber, al­les ist weg! Was wird Mag­da sa­gen!« Ich be­sann mich lang­sam un­ter ih­rem Blick. »Aber das ist gleich, Eli­nor, ste­cke das Geld fort, ich mag es nicht mehr se­hen. Ich kann mehr ho­len von der Bank, ich kann ho­len, so­viel du willst: Zehn­tau­sen­de! Ich kom­me mit ei­nem Scheck, sie sa­gen zu mir: ›Herr Som­mer …‹«

»Also Som­mer heißt du?«

»Ja, Som­mer hei­ße ich, Er­win Som­mer, wenn du mit mir reist, hast du im­mer Som­mer!«

Ich lach­te, aber sie blieb ernst, sie sag­te: »Siehst du, al­tes Pa­pa­chen, sie ha­ben dir schon dein Geld und dei­ne Sa­chen ge­stoh­len, du kannst nicht um­ge­hen da­mit in die­sem Zu­stand. Ich wer­de es dir ver­wah­ren, ganz si­cher ist es bei mir auf­ge­ho­ben. Hier ste­cke ich dir Geld in dei­ne Ta­sche, das alte Pa­pa­chen soll nicht ganz ohne Geld sein. Es sind drei­und­zwan­zig Mark, wenn die dir weg­kom­men, ist es nicht wei­ter schlimm …« Sie re­de­te im­mer ein­dring­li­cher, es war lä­cher­lich, wie wich­tig sie die­ses al­ber­ne Geld nahm. »Und, Pa­pa­chen, nicht wahr, du schwörst es mir, du wirst nie je­man­dem sa­gen, dass ich dir dein Geld ver­wahrt habe? Zu kei­nem Men­schen? Was auch pas­siert?«

»Nie wer­de ich es ei­nem sa­gen, Eli­nor«, ant­wor­te­te ich. »Ich schwö­re es dir. Aber das al­les ist un­nö­tig, um sechs Uhr wer­den wir rei­sen …«

»Also du hast es mir ge­schwo­ren, al­tes Pa­pa­chen, du ver­gisst es nicht? Zu nie­man­dem nie ein Wort, was auch pas­siert!«

»Nie ein Wort, Eli­nor!«

»Du mein gu­tes Pa­pa­chen!«, rief sie und drück­te mich fest in ihre Arme. »So – und nun sollst du zur Be­loh­nung aus mei­nem Mun­de trin­ken dür­fen!«

Sie nahm einen Mund­voll von dem Kirsch, dann leg­te sie die Lip­pen fest auf die mei­nen, ich schloss die Au­gen, und aus ih­rem Mun­de floss der Kirsch scharf und warm und le­ben­dig in mei­nen Mund – es war das Sü­ßes­te, das ich je er­leb­te. Ich ver­ging da­vor.

24

Ich er­wa­che, ich sehe um mich. Nein, ich bin nicht er­wacht, noch träu­me ich. Was ich eben sah, war ein weiß­ge­kalk­ter Raum mit ei­nem Ei­sen­git­ter an sei­ner einen Sei­te – das ist noch et­was aus mei­nem Traum. Ich lie­ge da, mit ge­schlos­se­nen Au­gen, ich ver­su­che, mich zu er­in­nern … Da ge­sch­ah noch et­was in der Nacht. Dann be­sinnt sich mei­ne lin­ke Hand. Ganz un­will­kür­lich tas­tet sie auf dem Fuß­bo­den ent­lang, und nun trifft sie auf die küh­le Glät­te von Glas. Sie hebt die Fla­sche zum Mun­de, und nun trin­ke ich wie­der, mit ge­schlos­se­nen Au­gen trin­ke ich noch ein­mal Schwarz­wäl­der Zwetsch­gen­was­ser, wie­der bin ich bei Eli­nor. Ich bin bei Eli­nor! Das Le­ben geht wei­ter, ich schwin­ge mich noch hö­her … Ich habe nur eine Zeit ge­schla­fen, und nun bin ich wie­der bei Eli­nor.

Zwei, drei Schlu­cke, und nun ist die Fla­sche leer. Ich sau­ge an ihr: Kein Trop­fen kommt mehr. Mit ei­nem tie­fen Seuf­zer stel­le ich sie nie­der und öff­ne wie­der die Au­gen. Ich sehe eine weiß­ge­kalk­te, recht schmut­zi­ge Zel­le, die Wän­de von vie­len In­schrif­ten und schwei­ni­schen Zeich­nun­gen zer­kratzt. An der einen Wand sitzt sehr hoch, dort, wo sie schon schräg wird, ein klei­nes ver­git­ter­tes Fens­ter. Dies Fens­ter steht of­fen, ich sehe durch die Öff­nung einen blass­blau­en, von mat­ter Son­ne er­füll­ten Him­mel. Auf der vier­ten Sei­te hat die­se Zel­le ein fes­tes Git­ter aus Ei­sen­stan­gen. Genau wie die Git­ter an den Tier­kä­fi­gen in den zoo­lo­gi­schen Gär­ten. Au­ßer­halb des Git­ters steht ein Ofen, dann ist da noch eine Tür, die ge­schlos­sen ist. Ich bin ge­fan­gen! Ich sehe auf mein La­ger. Ich lie­ge in Klei­dern auf ei­nem jäm­mer­li­chen Ei­sen­bett, auf ei­nem Stroh­sack mit zer­ris­se­ner De­cke. Mei­ne Zel­le ent­hält sonst noch einen Tisch, einen Sche­mel und einen fürch­ter­lich stin­ken­den Kü­bel. Ja, und dann ent­hält sie die Fla­sche, die ich so­eben ge­leert habe …

Ich sprin­ge von mei­nem La­ger auf, ich hebe die Fla­sche ge­gen das Licht: Wirk­lich, es ist kein Trop­fen mehr drin! Ich stel­le sie end­gül­tig fort, hin­ter den Kü­bel, und wäh­rend ich dies tue, kommt ein Stück der Er­leb­nis­se die­ser Nacht zu­rück, blitz­ar­tig er­leuch­tet …

Ich sehe die un­or­dent­li­che, düs­ter be­leuch­te­te Gast­stu­be, ich sehe mich, Er­win Som­mer, In­ha­ber ei­nes Lan­des­pro­duk­ten­ge­schäf­tes, an­ge­se­he­ner Bür­ger von ein­und­vier­zig Jah­ren, ich sehe mich, wie ich mit dem Gen­darmen hand­ge­mein bin, wie ich mich mit Hän­den und Kral­len mei­ner Ver­haf­tung wi­der­set­ze – wir wäl­zen uns am Bo­den, und die be­hä­bi­ge Wir­tin mit dem wei­ßen Schei­tel, die sich so vor mei­ner Schuss­waf­fe ge­ängs­tigt hat, die jetzt aber weiß, dass ich mit ei­ner Schuss­waf­fe nur ge­prahlt habe, sie ver­setzt mir wäh­rend die­ses Kamp­fes hin­ter­lis­ti­ge Trit­te und Püf­fe, sie kneift mich und fährt plötz­lich mit al­len fünf Fin­gern in mein Ge­sicht, al­les, wäh­rend ich mit dem Gen­darmen um mei­ne Frei­heit kämp­fe.

 

Und im sel­ben Au­gen­blick wäh­rend die­ses Kamp­fes sehe ich Eli­nor, die mit ei­nem un­er­gründ­li­chen Lä­cheln auf uns bei­de Kämp­fen­de schaut, aber nicht einen Fin­ger rührt, um dem einen oder an­de­ren Kämp­fen­den zu hel­fen. Kein Wort auch spricht sie.

Und doch hät­te ich mich viel­leicht frei­ge­kämpft, denn in mir tob­te ein Ent­set­zen, dass ich, ein ge­sit­te­ter Bür­ger, wie ir­gend­ein be­lie­bi­ger Be­trü­ger in ein rich­ti­ges Ge­fäng­nis ab­ge­führt wer­den soll­te, ich, ein an­ge­se­he­ner Mann, vor dem vie­le Leu­te zu­erst den Hut zo­gen, ins Kitt­chen – ja, die­se Verzweif­lung gab mir sol­che Kräf­te, dass ich mich wohl doch noch von dem Wacht­meis­ter frei­ge­kämpft hät­te – wenn nicht Eli­nor ge­we­sen wäre.

In ir­gend­ei­nem Mo­ment un­se­res Kamp­fes, wohl ge­ra­de in dem Au­gen­blick, da sich der Sieg mir zu­neig­te, stand sie plötz­lich bei uns mit ei­ner Fla­sche von mei­nem Schwarz­wäl­der Zwetsch­gen­was­ser; sie sag­te sanft lä­chelnd und strahl­te mich da­bei mit ih­ren hel­len Au­gen freund­lich an: »Sei­en Sie doch fried­lich, al­tes Pa­pa­chen! Der Wacht­meis­ter er­laubt Ih­nen auch, sich eine Fla­sche Schnaps mit­zu­neh­men. Es ist ja nur für eine Nacht, al­tes Pa­pa­chen, bis Sie Ihren Rausch aus­ge­schla­fen ha­ben …«

Da­mit war mein Kampf­mut ge­lähmt, und sie wur­den leicht Herr über mich. Wie­der ver­führ­ten mich der Al­ko­hol und Eli­nor (das war wohl das glei­che Gift: Al­ko­hol und Eli­nor); so oft schon hat­ten sie mich ge­täuscht und in die be­schä­mends­ten Nie­der­la­gen hin­ein­ge­führt, aber ich war noch im­mer nicht klug ge­wor­den. Für eine Fla­sche Schnaps ver­kauf­te ich mei­ne Aus­sicht auf Frei­heit. Und da stand sie nun, dort hin­ten, bei dem stin­ken­den Kü­bel: leer. Und hier stand ich, zwi­schen ge­kalk­ten Wän­den, hier ein Ei­sen­git­ter, dort oben, nahe der De­cke, ein klei­nes Fens­ter­loch. Ohne Frei­heit. Ohne Eli­nor. Ohne Schnaps.

Und plötz­lich fällt mir noch eine Schluss­sze­ne, eine al­ler­letz­te Sze­ne von die­sem Abend her ein, eine so be­schä­men­de Sze­ne, dass ich die Fäus­te bal­le und die Zäh­ne zu­sam­men­bei­ße … Wir sind han­dels­eins ge­wor­den, der Gen­darm und ich. Er hat viel von sei­nen Dienst­vor­schrif­ten ge­re­det, aber ich habe ihm wohl Sche­re­rei­en ge­nug ge­macht, und er hat wohl auch Be­fürch­tun­gen, dass ich ihm bei dem Weg durch die Nacht noch Schwie­rig­kei­ten ma­che … Er hat ein­ge­wil­ligt, dass ich die Fla­sche Schnaps noch mit­neh­men darf; ich tra­ge sie mit lo­sem Kor­ken griff­be­reit in der Ho­sen­ta­sche. Da­für habe ich ihm mein Ehren­wort ge­ge­ben, ihm nicht wie­der zu wi­der­ste­hen und kei­nen Flucht­ver­such zu ma­chen. Trotz­dem hat er mir ein klei­nes stäh­ler­nes Kett­chen um das rech­te Hand­ge­lenk ge­legt, er miss­traut viel­leicht dem Ehren­wort ei­nes Be­trun­ke­nen doch ein biss­chen.

Und nun ste­hen wir un­ter der Tür, ich habe mich um­ge­wen­det und habe zu Eli­nor ge­sagt: »Gute Nacht, Eli­nor, ich dan­ke dir auch für al­les, Eli­nor.«

Und sie ant­wor­tet mit gleich­mü­ti­ger Stim­me: »Gute Nacht, al­tes Pa­pa­chen, schlaf auch schön« – ge­ra­de als wäre ich ir­gend­ein be­lie­bi­ger Stamm­gast, der nach sei­nem Abend­schop­pen zum fried­li­chen Ehe­bett heim­geht.

Also, hier­nach wol­len wir nun wirk­lich ge­hen, ich und der Wacht­meis­ter, da ruft die Wir­tin plötz­lich mit schril­ler Stim­me: »Und mein Wein? Und mein Schnaps?! Und die zer­bro­che­nen Glä­ser?!! Der Lump hat ja noch nicht be­zahlt, der be­sof­fe­ne, Herr Wacht­meis­ter! Das geht doch nicht! Las­sen Sie ihn erst zah­len.«

Der Wacht­meis­ter sieht mich erst be­denk­lich an, seufzt und fragt dann lei­se: »Ha­ben Sie Geld?«

Ich ni­cke.

»Also dann be­zah­len Sie, dass ich end­lich nach Haus kom­me!« Und laut: »Wie viel macht’s denn?«

Die Wir­tin rech­net, dann sagt sie: »Sie­ben­und­sech­zig Mark ein­schließ­lich Be­die­nung. Und rich­tig, dann noch das Te­le­fon­ge­spräch, durch das ich Sie ge­ru­fen habe, Herr Wacht­meis­ter. Macht, al­les zu­sam­men, sie­ben­und­sech­zig Mark zwan­zig.«

Ich grei­fe in mei­ne Ta­sche. Ich brin­ge ein biss­chen Geld her­vor. Ich grei­fe in die Brust­ta­sche mei­nes Jacketts: Sie ist leer. Plötz­lich er­in­ne­re ich mich … Ich sehe auf Eli­nor hin, erst mit ei­ner stum­men Fra­ge, dann bit­tend, auf­for­dernd, drän­gend … Ich kann doch hier nicht auch noch als Zech­prel­ler da­ste­hen! Eli­nor sieht nicht auf mich, mit ei­nem un­er­gründ­li­chen schwa­chen Lä­cheln blickt sie auf das Geld­häuf­chen, das ich auf einen Tisch ge­legt habe. Dann glei­tet ihr Blick von dort fort und zur Wir­tin hin … Eli­nors Lip­pen öff­nen sich ein we­nig, das Lä­cheln um ih­ren Mund ver­stärkt sich … Die Wir­tin ist auf das Geld los­ge­schos­sen und hat es im Nu durch­ge­zählt.

»Drei­und­zwan­zig Mark«, schreit sie krei­schend. »Sie Lump, Sie ver­damm­ter Zech­prel­ler, Sie! Erst steh­len Sie mir mei­ne Nachtru­he und be­dro­hen mich mit ei­nem Re­vol­ver und dann …«

Sie schilt im­mer wei­ter, der Wacht­meis­ter hört ge­lang­weilt und gäh­nend zu. Schließ­lich, als die Wir­tin mir gar wie­der mit ih­ren Kral­len ins Ge­sicht fah­ren will, wehrt er sie ab und sagt: »Jetzt ist’s ge­nug, Frau Schul­ze.« Und zu mir: »Ha­ben Sie wirk­lich nicht mehr Geld?«

»Nein!«, sage ich und sehe Eli­nor fest da­bei an. Dies­mal sieht sie mich wie­der an, eben­so fest, ohne eine Spur von Lä­cheln. Und nun tut die­ses Mäd­chen blitz­schnell wie­der et­was Er­staun­li­ches: Sie greift in den Aus­schnitt ih­rer Blu­se und zieht für einen Au­gen­blick den mir ab­ge­nom­me­nen Pa­cken Geld­schei­ne her­vor. Ich sehe den blau­en Schim­mer der Hun­dert­mär­ker. Im Mund­win­kel er­scheint Eli­nors Zun­gen­spit­ze, spöt­tisch lä­chelt das Mäd­chen jetzt. Der Pa­cken Geld ver­schwin­det wie­der im Bu­sen. Sie legt die Hand auf die Brust, hebt sie ein we­nig an, dass ich den schö­nen, vol­len An­satz sehe, und dann wen­det sie sich end­gül­tig von mir ab, geht hin­ter die The­ke.

Oh, wie klug und raf­fi­niert sie ist: Gera­de im rich­ti­gen Mo­ment er­in­ner­te sie mich an mein Wort, aber mei­nem Wort nicht ganz trau­end, er­in­ner­te sie mich auch an die Ver­bun­den­heit un­se­res Flei­sches. Bit­ter­süß, von ei­nem kal­ten Feu­er, eine Ge­lieb­te, die sich mir nie ganz hin­ge­ben, die ich nie ganz be­sit­zen wür­de – die wah­re Kö­ni­gin des Al­ko­hols!

»Nein«, sage ich mit tro­ckener Stim­me, »mehr Geld habe ich nicht bei mir. Aber sen­den Sie die Rech­nung an mein Kon­tor, mei­ne Frau wird sie so­fort be­zah­len.«

Die Wir­tin keift: »Ihre Frau wird Bes­se­res zu tun ha­ben, als die Rech­nun­gen ei­nes Säu­fers zu be­zah­len! Wacht­meis­ter, keh­ren Sie sei­ne Ta­schen um, viel­leicht hat er doch noch was bei sich …«

»Nichts«, sage ich. »Aber ich habe eine Ta­sche drau­ßen ste­hen, Herr Wacht­meis­ter, wenn ich die ho­len darf …?«

Wir ho­len die Ak­ten­ta­sche, mei­nen Ein­kauf in je­nem klei­nen Luft­kur­ort, her­ein. Ich brei­te mei­ne Ein­käu­fe aus: mei­ne bei­den pa­pa­gei­en­bun­ten Py­ja­mas, das raf­fi­nier­te Toi­let­ten­zeug, das fran­zö­si­sche Par­füm … Wie lan­ge ist es her, dass ich dies al­les, welt­män­nisch scher­zend, von jun­gen Mäd­chen ein­kauf­te? Ich wer­de es nie be­nut­zen! Wie lan­ge ist es her, dass ich auf der See­ter­ras­se dort grü­nen Aal zu Bur­gun­der­wein aß und Be­trach­tun­gen dar­über an­stell­te, ein wie be­hag­li­ches Le­ben ich als zur Ruhe ge­setz­ter Kauf­mann füh­ren wür­de? Wie lan­ge? Erst gute zwölf Stun­den! Und nie wer­de ich die­ses be­hag­li­che Le­ben füh­ren! Jetzt tra­ge ich eine Ket­te um das Hand­ge­lenk und wer­de als Ver­bre­cher von der Po­li­zei es­kor­tiert! O ade, gu­tes Le­ben!