Hans Fallada – Gesammelte Werke

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13

Am un­an­ge­nehms­ten in mei­ner au­gen­blick­li­chen Si­tua­ti­on war es, dass ich prak­tisch ohne einen Pfen­nig Geld auf der Stra­ße stand. Nach Haus an mei­nen Schreib­tisch, wo we­nigs­tens et­was lag, konn­te ich nicht ge­hen, denn ich muss­te mit Be­stimmt­heit an­neh­men, dass die Ärz­te, so­bald sie mein Feh­len merk­ten, dort zu­erst nach mir se­hen und Ma­da­me Mag­da Be­richt er­stat­ten wür­den. Für einen Bank­be­such war es zu spät, die Schal­ter wa­ren schon seit zwei Stun­den ge­schlos­sen. Eben, als ich dies auf mei­ner Uhr fest­ge­stellt hat­te, fiel mir ein, dass ich ja noch die­se Uhr be­saß, dazu einen schwe­ren gol­de­nen Sie­gel­ring und schließ­lich einen auch ganz du­ra­blen Ehe­ring, der nach mei­nem heu­ti­gen Auf­tritt mit Mag­da auch sei­nen ei­gent­li­chen Sinn ver­lo­ren hat­te.

Ich war also kei­nes­falls von al­len Mit­teln ent­blö­ßt, und ge­trost lenk­te ich mei­ne Schrit­te in die eine enge und schmut­zi­ge Gas­se, die durch »Klein-Russ­land« führ­te. Die­se Ko­lo­nie war in den Elends­jah­ren nach dem Welt­krieg aus ei­nem La­ger für rus­si­sche Ge­fan­ge­ne ent­stan­den. In der Haupt­sa­che wohn­ten dort jetzt Po­len, auch an­de­re Aus­län­der. Die ehe­ma­li­gen Ba­ra­cken wa­ren durch man­cher­lei An- und Um­bau­ten ver­än­dert, aber nicht ver­schö­nert wor­den. Da­zwi­schen stan­den klei­ne rohe Stein­häus­chen, die schon wie­der ver­fie­len, ehe sie noch recht fer­tig ge­wor­den wa­ren. Zö­gernd ging ich die Gas­se ent­lang, selbst sehr un­si­cher, was ich hier ei­gent­lich soll­te und woll­te, als mein Blick auf ein Fens­ter in ei­nem sol­chen Stein­kas­ten fiel, in dem das be­kann­te rote Schild hing, das meist Ver­mie­tun­gen an­zeigt. Ich trat nä­her und las, dass hier tat­säch­lich ein be­hag­lich mö­blier­tes Zim­mer an einen an­stän­di­gen Herrn zu ver­mie­ten sei.

Eine Klin­gel gab es nicht an die­sem Haus, ich trat durch eine of­fe­ne Tür und ge­riet so­fort in eine Kü­che, die ganz vom Wra­sen ko­chen­der Wä­sche er­füllt war. Ich konn­te nie­man­den se­hen, so rief ich mit lau­ter Stim­me ein »Hal­lo!«, und aus dem Wra­sen tauch­te ein lan­ger, vorn­über­ge­beug­ter, aber noch jun­ger Mann auf, gelb­lich bleich, mit ei­nem wei­chen dunklen Voll­bart und et­was hel­le­rem bräun­li­chem Haar, das in der Sträh­ne über der Stirn einen gol­di­gen Schein hat­te. Die­ser Mann mus­ter­te mich mit ei­ni­gem Er­stau­nen und frag­te dann sehr höf­lich, mit sanf­ter Stim­me, was mir zu Diens­ten stün­de.

»Ich möch­te mir das Zim­mer an­se­hen, das zu ver­mie­ten ist.«

»Für Sie selbst?«, frag­te der Mann und rieb hüs­telnd sei­ne Hän­de an­ein­an­der.

Ich be­jah­te.

»Es wird kein Zim­mer für den Herrn sein, nicht fein ge­nug für den Herrn. Es ist ein Ar­bei­ter­zim­mer, mein Herr.«

»Im­mer­hin, zei­gen Sie es mir«, be­harr­te ich.

Er ging mir schwei­gend vor­an, eine Trep­pe hin­auf, über einen un­aus­ge­bau­ten Bo­den, öff­ne­te die Tür zu ei­nem ein­fenst­ri­gen Zim­mer­chen mit schrä­gen Wän­den, das im Gie­bel aus­ge­baut war. In sei­ner Ein­rich­tung äh­nel­te es fast ganz dem pri­mi­ti­ven Zim­mer von Eli­nor, und un­will­kür­lich trat ich an das Fens­ter, um zu se­hen, ob auch hier ein schrä­ges Papp­dach Flucht­mög­lich­kei­ten bei über­ra­schen­dem Be­such böte.

Nein, die­ses Papp­dach fehl­te hier, da­für aber gab es einen ganz über­ra­schen­den Aus­blick auf mei­ne Va­ter­stadt. Sie lag vor mir, ein we­nig un­ter mir, mit ih­ren rot­brau­nen Dä­chern, ih­ren drei spit­zen Kirchtür­men und ih­rem einen rund­köp­fi­gen Rat­hau­sturm. Grün um­laubt schlän­gel­te sich die Schmie1 hin­durch, ver­schwand hier und blitz­te dort auf, und in­dem ich ih­ren Lauf mit dem Auge ver­folg­te, sah ich in der Fer­ne, schon zwi­schen dem Grün der Gär­ten und Fel­der, von bläu­li­chem Dunst ver­schlei­ert, ein Dach, mein Dach.

»Es ist eine schö­ne Aus­sicht«, sag­te ich nach ei­ner Wei­le.

Der Mann hin­ter mir hüs­tel­te. »Ein Ar­bei­ter«, sag­te er, »fragt nicht nach der Aus­sicht, er fragt, ob das Bett auch gut ist. Das Bett ist gut, Herr.«

»Was soll das Zim­mer kos­ten?«, frag­te ich.

»Sie­ben Mark die Wo­che«, sag­te der Mann, »und wir wech­seln jede Wo­che die Wä­sche.«

»Ich möch­te hier auch es­sen«, sag­te ich, »ich will in al­ler Stil­le hier un­ge­stört zwei bis drei Wo­chen woh­nen und an ei­ner Ar­beit schrei­ben. Ich wer­de das Haus kaum ver­las­sen. Lässt sich das ein­rich­ten? Ich stel­le kei­ne großen An­sprü­che.«

»Un­ser Es­sen ist für den Herrn zu ein­fach«, sag­te der Mann. »Aber ich kann für Sie Es­sen aus ei­nem Gast­haus ho­len las­sen, wenn Ih­nen das recht ist.«

»Gut«, sag­te ich, »ich neh­me das Zim­mer. Mein Kof­fer kommt mor­gen. Las­sen Sie mir dann Abendes­sen ho­len.« Und ich setz­te mich an den Tisch.

»Ich bit­te um eine klei­ne An­zah­lung, mein Herr«, sag­te mein Wirt und zog an sei­nen Hän­den, dass die Knö­chel knack­ten. »Wir sind arme Leu­te, mein Herr …«

»Set­zen Sie sich«, sag­te ich zu mei­nem Wirt. »Ach, bit­te, ich sehe da auf dem Wasch­tisch ein Was­ser­glas, wenn Sie das bit­te ho­len woll­ten.«

Mein Wirt tat es und nahm auf mei­ne noch­ma­li­ge Auf­for­de­rung am Ti­sche Platz.

»Wie hei­ßen Sie?«

»Po­la­kow­ski«, ant­wor­te­te er. »Aber wir sind kei­ne Po­len. Mei­ne El­tern schon sind aus Ost­preu­ßen zu­ge­wan­dert, dort gibt es so ko­mi­sche Na­men …«

»Ich küm­me­re mich nicht dar­um, ob Ihr Name ko­misch ist oder nicht, Herr Po­la­kow­ski«, sag­te ich gön­ner­haft. »Jetzt wol­len wir erst ein­mal an­sto­ßen.« Ich goss ihm das Glas halb voll – trotz sei­nes Pro­tes­tes – und griff nach der Fla­sche. »Ich kann ja auch ein­mal aus der Fla­sche trin­ken«, sag­te ich la­chend. »In un­se­rer Ju­gend ha­ben wir das alle ge­tan.«

Er lä­chel­te matt und nahm ein Schlück­chen, wäh­rend ich kräf­tig trank.

»Ich muss Sie bit­ten, Herr Po­la­kow­ski«, sag­te ich dann ge­läu­fig, »dass Sie mir auch eine Fla­sche Korn mit dem Abendes­sen mit­brin­gen las­sen, aber kei­nen Fu­sel, bit­te, son­dern den bes­ten, der für Geld zu ha­ben ist.«

Ich sah, wie er die Lip­pen be­weg­te, und ahn­te schon, was er sa­gen woll­te.

»Was nun die An­zah­lung an­geht, so muss ich Ih­nen sa­gen, dass ich mich ganz plötz­lich zu die­ser Ar­beit ent­schlos­sen habe.«

Ich fing den Blick mei­nes Wir­tes auf, der nach­denk­lich mei­ne of­fe­ne und völ­lig lee­re Ak­ten­ta­sche be­trach­te­te.

Ich lach­te. »Nun, ich will Ih­nen die Wahr­heit ge­ste­hen, Herr Po­la­kow­ski. Das von der Ar­beit, die ich hier in al­ler Stil­le schrei­ben will, ist na­tür­lich Schwin­del. Die Wahr­heit ist, dass ich mich heu­te Nach­mit­tag ziem­lich hef­tig mit mei­ner Frau ver­zankt habe. Und um die et­was zu ängs­ti­gen, will ich für ein oder zwei Wo­chen ver­schwin­den. Ver­ste­hen Sie, ich will sie ein biss­chen auf den Prop­pen set­zen!«

Herr Po­la­kow­ski nick­te.

»Ich will ihr be­greif­lich ma­chen, wie das ist ohne Mann, nicht wahr?«

Wie­der nick­te Herr Po­la­kow­ski.

»Sie soll ein­mal füh­len ler­nen, wie nütz­lich ich ihr bin, wie un­ent­behr­lich!«

Wie­der nick­te Herr Po­la­kow­ski, dann sag­te er mit sei­ner sanf­ten, fast flüs­tern­den Stim­me: »Trotz­dem, mein Herr, ohne An­zah­lung kann ich Sie nicht auf­neh­men. Wir sind sehr arme Leu­te hier in Klein-Russ­land, mein Herr, und ein Abendes­sen aus ei­nem gu­ten Gast­hof und eine Fla­sche Korn vom bes­ten kos­ten viel Geld.«

»Sie wer­den Geld, so­viel Sie brau­chen, mor­gen früh be­kom­men, Herr Po­la­kow­ski«, sag­te ich über­re­dend. »Mor­gen früh um neun Uhr ste­he ich auf mei­ner Bank und hole Geld ab.«

»Nein«, sag­te mein Wirt. »Es tut mir leid, mein Herr, ich hät­te Sie ger­ne als Gast ge­habt, einen ge­bil­de­ten Mann, der sei­ne Frau ein biss­chen ängs­ti­gen will – nach Her­ren­art. Wir, wir schla­gen un­se­re Frau­en, das ist ein­fa­cher und bil­li­ger.«

»Nun ja, nun ja«, lach­te ich ein biss­chen ver­le­gen. »Ich weiß nur nicht, ob ich bei ei­ner Schlä­ge­rei mit mei­ner Frau nicht den Kür­ze­ren zie­hen wür­de, ich fürch­te, sie ist die Stär­ke­re.« Ich lach­te und trank. »Aber da es Ih­nen so um eine An­zah­lung zu tun ist, will ich Ih­nen einen Ring zum Pfand ge­ben.« Ich zog erst den Sie­gel-, dann den Ehe­ring vom Ring­fin­ger der rech­ten Hand. Ei­nen Au­gen­blick schwank­te ich, dann gab ich Po­la­kow­ski den Ehe­ring. »Es wäre mir lieb, wenn Sie ihn in Pfand be­hiel­ten, als Si­cher­heit bis mor­gen früh, und ihn nicht wei­ter­gä­ben.«

Herr Po­la­kow­ski nahm den Ring aus mei­ner Hand. »Wir sind sehr arme Leu­te, mein Herr«, sag­te er wie­der mit sei­ner flüs­tern­den Stim­me. »Wir ha­ben kei­ne drei Mark im Hau­se. Aber ich wer­de den Ring bei ei­nem ganz si­che­ren Mann in Pfand ge­ben, und mor­gen Mit­tag lö­sen wir ihn dann wie­der aus.«

»Schön, schön«, ant­wor­te­te ich plötz­lich ge­lang­weilt und doch auch wie­der durch all die­se Um­ständ­lich­kei­ten ge­reizt. »Aber se­hen Sie jetzt auch zu, dass Es­sen und Korn mög­lichst bald kom­men, vor al­lem der Korn. Sie se­hen, in der Fla­sche ist fast nichts mehr, und wie Sie wis­sen, muss man Kum­mer er­säu­fen.«

»Es wird al­les ganz schnell ge­hen, mein Herr«, flüs­ter­te mein Wirt sanft und schloss die Tür.

Ich aber warf mich auf das Bett und trank.

So wur­de ich mit Po­la­kow­ski be­kannt, ei­nem der ge­meins­ten Schur­ken und Heuch­ler, die ich in mei­nem Le­ben ken­nen­ge­lernt habe.

1 2 km lan­ger lin­ker Zuf­luss der Enz <<<

14

Für die­se Nacht hat­te ich mir den fes­ten Plan ge­macht, nach Mit­ter­nacht in mein Heim zu ge­hen, dort einen Kof­fer mit Wä­sche, Klei­dern und Toi­let­ten­zeug zu pa­cken und an Geld zu ho­len, was dort in mei­nem Schreib­tisch lag. Denn ich hat­te wirk­lich vor, ei­ni­ge Wo­chen bei Po­la­kow­ski in al­ler Ver­bor­gen­heit zu le­ben. Mir schweb­te vor, mich dort selbst in al­ler Stil­le des Al­ko­hols zu ent­wöh­nen; den ers­ten Tag woll­te ich noch das ge­wohn­te Quan­tum trin­ken, den fol­gen­den Tag um ein drit­tel we­ni­ger und so im­mer wei­ter, bis ich nach etwa zwei oder drei Wo­chen als nüch­ter­ner Mann vor Mag­da und die Ärz­te tre­ten und fra­gen konn­te: »Was wollt ihr nun ei­gent­lich von mir?!«

 

Ich hielt es für sehr mög­lich, dass mich Mag­da bei die­ser nächt­li­chen Pa­cke­rei über­rasch­te, aber ein Zu­sam­men­tref­fen mit ihr scheu­te ich nicht, nein, ich wünsch­te es eher. In der Stil­le der Nacht wür­de ich ihr un­ge­stört ei­ni­ge bit­te­re Wahr­hei­ten über die Ge­mein­heit sa­gen kön­nen, ei­nem Mann, mit dem sie im­mer­hin eine fünf­zehn­jäh­ri­ge Ehe ver­band, hin­ter­lis­tig Ärz­te auf den Hals zu het­zen. Sie hat­te die Ka­me­rad­schaft zwi­schen uns ge­bro­chen, und ich zwei­fel­te je län­ger, je we­ni­ger dar­an, dass sie letz­ten En­des nur nach ei­ner Vor­mund­schaft über mich und nach mei­nem Be­sitz trach­te­te. Das al­les woll­te ich ihr ganz un­ver­blümt sa­gen.

Lei­der wur­de aus mei­nem schö­nen Plan nichts. Wie­der ein­mal spiel­te mir der Al­ko­hol einen bö­sen Streich. Nicht, dass er mich, wie schon ei­ni­ge Male vor­her, in einen be­täub­ten, traum­lo­sen Schlaf nie­der­warf, der mich die rich­ti­ge Stun­de ver­säu­men ließ, nein, dies­mal hat­te ich ein viel schlim­me­res Er­leb­nis: Mein Kör­per ver­wei­ger­te mir den Dienst, mein Ma­gen streik­te.

Ich hat­te noch, mit ei­ni­gem Wi­der­wil­len wohl, aber aus Pf­licht­ge­fühl, einen Teil des ge­hol­ten ganz or­dent­li­chen Abendes­sens zu mir ge­nom­men und hin­ter­her kräf­tig ge­trun­ken. Ich hat­te mich wie­der aufs Bett ge­legt und war be­reit, in ei­nem däm­mern­den Halb­schlum­mer die Stun­de mei­nes Fort­ge­hens her­an­zu­war­ten; da fing mein Ma­gen an zu wür­gen, er em­pör­te sich, ich muss­te hoch, ich muss­te end­los und un­ter qual­vol­len Schmer­zen er­bre­chen. Mein gan­zer Kör­per war mit Schweiß be­deckt, mei­ne Hän­de und mei­ne Knie zit­ter­ten, mein Herz poch­te laut und schmerz­haft, zö­gernd, als woll­te es je­den Au­gen­blick aus­set­zen. In mei­nen Au­gen stan­den Trä­nen, es flim­mer­te vor ih­nen, durch mein Hirn zo­gen Schlei­er, oft war ich wie be­wusst­los.

End­lich lag ich wie­der auf mei­nem Bett, zu Tode er­schöpft, von ei­ner wahn­sin­ni­gen Angst ge­packt: Nah­te jetzt schon das Ende? So schnell schon? Ich hat­te doch noch gar nicht lan­ge und gar nicht über­mä­ßig viel ge­trun­ken? Wur­de man so schnell zu ei­nem Trin­ker? So rasch also bau­te der Al­ko­hol einen Kör­per ab? Nein, ich woll­te noch nicht ster­ben! Ich hat­te die­se Trin­ker­zeit im­mer nur als ein Durch­gangs­sta­di­um an­ge­se­hen; ich war über­zeugt ge­we­sen, dass ich mit ihr je­der­zeit Schluss ma­chen könn­te, ohne Schä­di­gung für mich – und nun schon soll­te al­les zu Ende sein? Nein, das war un­mög­lich! Ich woll­te nicht, ich wür­de wie­der ge­sund sein, bald schon, viel­leicht mor­gen schon; die­ses gal­len­bit­te­re Bre­chen muss­te eine an­de­re Ur­sa­che ha­ben! Si­cher war et­was an dem Abendes­sen ge­we­sen!

Es ist selt­sam, dass ich auch in die­sem Zu­stand schwers­ter Ver­gif­tung mit kei­nem Ge­dan­ken dem Al­ko­hol ab­schwor. Im Ge­gen­teil, ich ver­mied es ängst­lich, an ihn auch nur zu den­ken. Er konn­te nicht die Ur­sa­che sein, ihn konn­te ich nicht auf­ge­ben. Er war mein ein­zi­ger gu­ter Freund in die­sen Ta­gen der Ver­las­sen­heit und Er­nied­ri­gung! Und kaum hat­te ich mich ein we­nig er­holt, kaum gin­gen Atem und Herz et­was ru­hi­ger, da griff ich wie­der zur Fla­sche, trank von Neu­em, die Träu­me zu ru­fen, das Ver­ges­sen zu ru­fen, ein­zu­ge­hen in das süße Nichts, in dem man we­der Sor­gen noch Freu­den kennt, in dem man we­der Ver­gan­gen­heit noch Zu­kunft hat.

Eine Wei­le tat der Schnaps auch sei­ne Schul­dig­keit; ent­spannt und ein we­nig glück­lich lag ich da. Dann jag­te mich wie­der das Er­bre­chen hoch, ein noch viel qual­vol­le­res, wür­gen­de­res Er­bre­chen, da der Ma­gen nun nichts mehr ent­hielt als die paar Schlu­cke Schnaps.

So ver­brach­te ich die­se Nacht, zwi­schen Trin­ken und Bre­chen; schließ­lich kon­zen­trier­te ich mei­nen gan­zen Wil­len nur dar­auf, mit al­ler Kraft das Bre­chen mög­lichst lan­ge zu­rück­zu­hal­ten, da­mit der Al­ko­hol doch ei­ni­ge Mi­nu­ten Zeit hät­te, durch die Schleim­häu­te des Ma­gens in den Kör­per über­zu­ge­hen, ehe ihn neu­es Wür­gen her­austrieb. Es war so scha­de um den schö­nen Schnaps!

End­lich fiel ich ge­gen Mor­gen in einen un­ru­hi­gen Schlaf der Er­schöp­fung, durch den wüs­te, mich quä­len­de Traum­bil­der gau­kel­ten. Po­la­kow­ski weck­te mich aus ihm, er stand un­ter der Tür und be­merk­te hüs­telnd, dass es gleich neun sei, ob er den Kaf­fee brin­gen sol­le? Ich sag­te ihm un­wil­lig, dass ich auf Kaf­fee ver­zich­te, er sol­le mir so­fort eine neue Fla­sche ho­len las­sen.

Ohne auf mei­ne Wor­te zu ach­ten, fing er an, die wüs­te Un­ord­nung im Zim­mer zu be­sei­ti­gen, öff­ne­te auch das Fens­ter, durch das fri­sche Luft und Son­ne ein­dran­gen.

Er­schöpft, matt, wehr­los blin­zel­te ich ins Licht. »Ma­chen Sie doch zu, Po­la­kow­ski«, bat ich är­ger­lich. »Ich habe eben die Fla­sche leer ge­trun­ken, sor­gen Sie so­fort für eine neue!«

»Sie woll­ten doch um neun auf Ihre Bank ge­hen, mein Herr«, er­in­ner­te mich Po­la­kow­ski auf sei­ne lei­se, flüs­tern­de Art. »Es ist neun.«

»Ich kann jetzt nicht ge­hen«, sag­te ich är­ger­lich. »Sie se­hen doch, dass ich krank bin, Po­la­kow­ski. Ich wer­de mor­gen ge­hen oder heu­te Nach­mit­tag. Jetzt ho­len Sie erst den Schnaps.«

»Dann muss ich den Ring ver­kau­fen, mein Herr«, sag­te Po­la­kow­ski. »Der Jude hat mir nur fünf­zehn Mark drauf ge­ben wol­len; wenn ich ihn ver­kau­fe, be­kom­me ich fünf­und­zwan­zig Mark.«

»Fün­f­und­zwan­zig Mark!«, rief ich em­pört. »Der Ring hat neu neun­zig Mark ge­kos­tet!«

»Jetzt ist es ein al­ter Ring, und der Jude will auch le­ben, Herr«, flüs­ter­te Po­la­kow­ski gleich­mü­tig. »Wenn ich den Ring für fünf­und­zwan­zig Mark ver­kau­fen darf, ist der Korn so­fort hier.«

»Und wie kön­nen fünf­zehn Mark schon alle sein?«, rief ich er­bit­tert. »Ein Abendes­sen und eine Fla­sche Korn – das macht doch kei­ne fünf­zehn Mark!«

»Und die Zim­mer­mie­te, mein Herr?«, frag­te Po­la­kow­ski ein­schmei­chelnd. »Soll ich ar­mer Mann gar nichts ha­ben? Ich muss Ih­nen üb­ri­gens zwölf Mark für die Stu­be rech­nen, Herr … Ich weiß, ich weiß«, sag­te er ei­lig und knack­te wie­der ein­mal be­son­ders laut und ekel­haft mit sei­nen Ge­len­ken. »Ich habe sie­ben Mark ge­sagt, und ich bin ein Mann von Wort. Aber Sie ma­chen viel Wirt­schaft, Herr, und Sie rich­ten das Zim­mer hin, und Sie ge­hen mit Klei­dern und Schu­hen ins Bett, das rui­niert die Wä­sche! Das kos­tet al­les Geld, und wir sind sehr arme Leu­te …«

»Spitz­bu­ben seid ihr«, schrie ich wü­tend. »Sche­ren Sie sich zum Teu­fel, ich zie­he!«

»Sehr wohl, mein Herr«, sag­te Po­la­kow­ski und ging.

Aber na­tür­lich blieb er der Sie­ger. Nach ei­ner Wei­le stand ich, vom Durst ge­pei­nigt, auf und ächz­te die Trep­pe hin­ab und rief ihn (lan­ge ließ Po­la­kow­ski sich ru­fen), und ich schmei­chel­te ihm und gab ihm die Er­laub­nis, mei­nen Ehe­ring für fünf­und­zwan­zig Mark zu ver­kau­fen – und dann end­lich, nach ei­ner lan­gen, lan­gen Zeit qual­vol­len War­tens, be­kam ich eine neue Fla­sche Korn und konn­te wie­der trin­ken und bre­chen, trin­ken und bre­chen.

So wur­den aus ei­nem Tag ein zwei­ter und ein drit­ter und eine Rei­he von Ta­gen, und ich ver­ließ die Stu­be bei Po­la­kow­ski nie …

15

In die­ser ers­ten Wo­che, die ich bei Po­la­kow­ski zu­brach­te, gin­gen mei­ne bei­den Rin­ge, mei­ne gol­de­ne Uhr und mei­ne Ak­ten­ta­sche in sei­nen Be­sitz über. Ich bin fest da­von über­zeugt, dass der Jude nur eine vor­ge­scho­be­ne Per­son und dass der ei­gent­li­che Er­wer­ber mei­ner Gold­sa­chen der »sehr arme Mann« Po­la­kow­ski selbst war. Was ich da­für be­kam, war lä­cher­lich we­nig. Vi­el­leicht zwölf bis vier­zehn Fla­schen Schnaps, die Fla­sche zu vier Mark ge­rech­net (üb­ri­gens hol­te er auch im­mer min­de­re Qua­li­tä­ten), und dann und wann ein we­nig Es­sen. Denn ich aß fast gar nichts mehr.

Sah ich mich jetzt ge­le­gent­lich im Spie­gel an, so be­trach­te­te ich mit grau­sa­mer Wol­lust mein Ge­sicht, das, von al­ten Bart­stop­peln be­deckt, ge­dun­sen und doch ab­ge­zehrt, ja wie aus­ge­brannt aus­sah. ›So zer­stört man sich selbst‹, sag­te ich mir dann frohlo­ckend. Und gleich dach­te ich wei­ter an Mag­da und wie sie er­schre­cken wür­de, wenn sie mich in die­sem Zu­stand sähe, und wie ich es ihr dann ins Ge­sicht schleu­dern wür­de, dass sie, sie al­lein die schmäh­li­che Ur­sa­che die­ser Ver­än­de­rung sei!

Ge­sund­heit­lich ging es mir sehr wech­selnd in die­sen Ta­gen. An die ge­plan­te Ent­wöh­nung dach­te ich na­tür­lich mit kei­nem Ge­dan­ken mehr, ich trank, so­viel ich in mei­nen Ma­gen be­kom­men konn­te. Meis­tens streik­te er, und ich hat­te viel Mühe, mein Quan­tum in mich hin­ein­zu­be­kom­men; zu an­de­ren Zei­ten war er aus rät­sel­haf­ten Grün­den wil­lig ge­nug, zu schlu­cken und zu be­hal­ten, was er be­kam.

Dann hat­te ich gute Stun­den. Dann saß ich am Fens­ter, die Fla­sche im­mer dicht bei mir, ich sang lei­se vor mich hin, alte Volks- und Wan­der­lie­der, und sah da­bei hin­aus auf die Stadt un­ter mir, bis zu dem Haus hin, das fern im bläu­li­chen Duns­te lag und das das Mei­ne war. Dann dach­te ich dar­an, was Mag­da jetzt wohl tun wür­de; und in die­sen Stun­den war ich fest da­von über­zeugt, dass ich sie lieb­te wie eh und je, und dass sie es war, die un­se­re Lie­be ver­ra­ten hat­te. Dann mal­te ich mir aus, wie ich ei­nes Ta­ges ge­sund und fröh­lich heim­keh­ren wür­de: Ir­gend­wie war ich auf ge­heim­nis­vol­le, aber sehr recht­li­che Wei­se in den Be­sitz von viel Geld ge­langt, und ich mach­te alle glück­lich, und alle be­wun­der­ten mich, und wenn sie nicht ge­stor­ben sind, so le­ben sie noch heu­te.

Aus sol­chen kin­di­schen Träu­men er­weck­te mich Po­la­kow­ski rau ge­nug. Er er­öff­ne­te mir, dass es we­der Schnaps noch Quar­tier bei ihm mehr gäbe, wenn ich nicht so­fort Geld her­bei­schaff­te …

Wir ge­rie­ten in ein end­lo­ses Ge­zän­ke, von sei­ner Sei­te im­mer höf­lich, lei­se, ein­schmei­chelnd, von der mei­nen grob, mit jäh­zor­ni­gem Auf­flam­men und dann fast wie­der in Trä­nen schwim­mend. Aber es half mir gar nichts, dass ich ihm im­mer wie­der vor­warf, zu wel­chen Wu­cher­prei­sen er mei­ne Gold­sa­chen an sich ge­bracht, wie we­nig, fast nichts, er da­für ge­lie­fert; er ver­schanz­te sich hin­ter sei­nem Ju­den, der eben nicht mehr ge­ben woll­te, schwor Stein und Bein, dass er noch nicht einen Pfen­nig an mir ver­dient habe, und blieb un­er­bitt­lich da­bei, dass ich Geld schaf­fen oder zie­hen müss­te.

Ja, schon jetzt mach­te er dunkle An­deu­tun­gen, dass sich die Po­li­zei viel­leicht sehr für Per­so­nen wie mich in­ter­es­sie­ren wür­de, und dass ei­gent­lich solch Woh­nen ohne jede An­mel­dung gar nicht zu­läs­sig sei und ihn in Ge­fahr brin­ge. Auf die­ses dro­hen­de Ge­schwätz gab ich da­mals noch gar nichts, aber ge­wiss war es mir, dass ich Geld schaf­fen muss­te, der sanf­te Po­la­kow­ski war hart wie ein Kie­sel­stein.

Das Ein­zi­ge, was ich von ihm er­reich­te, war, dass er mir noch eine Fla­sche Korn »in Vor­schuss« be­sorg­te, da­mit ich für mei­ne nächt­li­che Ex­pe­di­ti­on auch »frisch« sei. Ich hat­te ge­ra­de einen mei­ner »gu­ten« Tage, das heißt, einen Tag, an dem mein Kör­per dem Al­ko­hol gut ge­sinnt war; das war noch ein Glück. An ei­nem an­de­ren Tag hät­te ich eine sol­che Wan­de­rung un­mög­lich un­ter­neh­men kön­nen.

Dass der Weg zur Bank mir ver­sperrt war, wuss­te ich: Dort hat­te man be­stimmt schon längst mein Ver­schwin­den an­ge­zeigt und die Wei­sung ge­ge­ben, bei ei­nem et­wai­gen Auftau­chen von mir nichts ohne vor­he­ri­ge Benach­rich­ti­gung zu zah­len. Ich muss­te also in mein ei­ge­nes Haus ein­bre­chen. Der Ge­dan­ke, da­bei Mag­da zu be­geg­nen, war mir heu­te, da mir eine sol­che Be­geg­nung ziem­lich si­cher war, nicht so an­ge­nehm wie vor ei­ner Wo­che, da ich von ihr nur ge­träumt hat­te. Aber es muss­te sein.

 

Ich schob die Korn­fla­sche in mei­ne Ho­sen­ta­sche – der sanf­te Po­la­kow­ski hat­te mir hart­nä­ckig die leih­wei­se Her­ga­be mei­ner Ak­ten­ta­sche ver­wei­gert – und mach­te mich auf den Weg. Es war kurz nach Mit­ter­nacht. Po­la­kow­ski ließ mich aus dem Haus und flüs­ter­te mir zu, dass es sehr dun­kel sei. Ich sol­le mich be­son­ders auf der Brücke über die Schmie in acht neh­men.

»Ich war­te auf Sie, Herr«, flüs­ter­te er. »Es kann noch so spät wer­den. Ich hal­te eine Fla­sche für Sie be­reit. Und dann, Herr«, er flüs­ter­te im­mer lei­ser, »dann, Herr, wenn Sie noch et­was Schmuck oder auch Sil­ber ha­ben – ich habe jetzt einen Händ­ler an der Hand, der sehr an­stän­di­ge Prei­se zahlt, nicht so wie die­ser Scheißju­de! – brin­gen Sie, was Sie krie­gen kön­nen, ich wer­de schon gut für Sie sor­gen.«

›So fängt man Gim­pel‹, dach­te ich im Ge­hen und war da­bei doch Gim­pel ge­nug, dem ge­schick­ten Po­la­kow­ski mei­ne Aner­ken­nung nicht zu ver­sa­gen, weil er als Preis für mei­ne Rück­kunft eine Fla­sche Korn be­reit­hielt. Frei­lich hat­te ich ganz an­de­re Plä­ne, von de­nen er nichts ahn­te.

Das Ge­hen wur­de mir viel leich­ter, als ich ge­dacht hat­te, ich emp­fand auch kaum ein Be­dürf­nis, zu trin­ken. Ich war wohl ziem­lich auf­ge­regt. Gut er­in­ne­re ich mich, dass ich mich den gan­zen lan­gen Weg ängst­lich be­müh­te, nicht an das Be­vor­ste­hen­de zu den­ken. Ich sag­te mir alle Ge­dich­te, die ich aus mei­ner Schul­zeit noch aus­wen­dig wuss­te, im­mer wie­der her und er­tapp­te mich doch da­bei, dass ich zwi­schen zwei Ver­sen mit Mag­da sprach oder über­leg­te, wel­chen Hand­kof­fer ich als den zweck­mä­ßigs­ten wäh­len soll­te.

Schließ­lich, nach fast drei­vier­tel­stün­di­gem Marsch, war ich vor der Gar­ten­pfor­te mei­ner Vil­la an­ge­langt. Vor Kur­zem hat­te es von den drei Kirchtür­men der Stadt ein Uhr ge­schla­gen. Ich zog die Pfor­te lei­se hin­ter mir zu und ging, un­ter Ver­mei­dung der ge­kies­ten Wege, über das Gras um mein Haus her­um. Es lag al­les still und dun­kel. Lan­ge stand ich un­ter Mag­das Schlaf­zim­mer­fens­ter und mein­te, ih­ren ru­hi­gen Atem zu hö­ren; es war aber nur mein ei­ge­nes Herz, das un­ru­hig und laut in der ei­ge­nen Brust poch­te.

Als ich dar­über nach­dach­te, dass ich hier bei mei­nem ei­ge­nen Haus, fünf Me­ter von mei­ner ei­ge­nen Frau als ein mit­tel­lo­ser Fremd­ling in der Nacht stand, seit ei­ner Wo­che nicht mehr ge­wa­schen und ra­siert, da über­kam mich ein sol­ches Mit­leid mit mir selbst, dass ich in bit­te­re Trä­nen aus­brach. Ich wein­te lan­ge und schmerz­lich, am liebs­ten wäre ich zu Mag­da ins Zim­mer ge­drun­gen und hät­te mich von ihr trös­ten las­sen. Schließ­lich er­wies sich aber auch hier der Schnaps als der bes­te Trös­ter; ich trank lan­ge und sehr viel. Mein Schmerz be­ru­hig­te sich. Ich kämpf­te eine Nei­gung, erst eine Wei­le zu schla­fen, nie­der und ging zu­rück an die Vor­der­sei­te des Hau­ses.