Hans Fallada – Gesammelte Werke

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11

Ich war auch fest ent­schlos­sen, so bald nicht wie­der dort­hin zu­rück­zu­keh­ren. Moch­te sie ru­hig eine Wei­le dort al­lein wei­ter­wurs­teln, ich mach­te ih­nen ja doch nichts zu Dank. Der gan­ze Kram lang­weil­te mich schon lan­ge, jetzt hat­te ich eine bes­se­re und in­ter­essan­te­re Auf­ga­be ge­fun­den, die mei­ner au­gen­blick­li­chen Stim­mung viel eher ent­sprach: mein Kampf ge­gen Mag­da! Sie soll­te sich nur an mir ver­su­chen, es wür­de mir di­rekt Spaß ma­chen, ihr zu be­wei­sen, wie viel klü­ger und ge­set­zes­kun­di­ger ich war als sie!

Ich war wie­der auf der Wan­de­rung, mei­ne Ak­ten­ta­sche un­term Arm, durch einen schö­nen, aber schon recht hei­ßen Tag am Aus­gang des Früh­lings. Die Kö­ni­gin des Al­ko­hols – ich hat­te sie viel zu lan­ge ver­ges­sen. Lang­wei­lig war die je­den­falls nicht. Au­ßer­dem muss­te ich mir end­lich mei­ne Schu­he zu­rück­ho­len. Nie­mand soll­te mir nach­sa­gen kön­nen, dass ich in der Trun­ken­heit mei­ne Klei­dung durch halb Eu­ro­pa ver­streu­te. Nie­mand, nicht ein­mal Mag­da.

Es war ja so ziem­lich klar, was die­se tüch­ti­ge Dame, mit der ich bis­her ver­hei­ra­tet ge­we­sen war, be­ab­sich­tig­te. Schei­dung, nun schön, aber Schei­dung ging nicht so schnell; vor ei­ner Schei­dung muss­ten auch erst ei­ni­ge Vor­be­rei­tun­gen ge­trof­fen wer­den, zum Bei­spiel eine Un­ter­su­chung durch den Arzt.

Mag­da stand sich sehr gut mit Dr. Mans­feld, schon seit vie­len Jah­ren. Er hat­te sie im­mer be­han­delt, wenn sie krank ge­we­sen war, ich kann­te ihn we­ni­ger, mir hat­te ei­gent­lich noch nie et­was ge­fehlt. Sie wür­de ihn schon zu ih­rer Auf­fas­sung über­re­den, und dann soll­te ver­mut­lich so et­was kom­men wie Ent­mün­di­gung und Un­ter­brin­gung in ei­ner Trin­ker­heil­stät­te. Das wür­de ihr so pas­sen, der gu­ten Mag­da: der Mann sitzt in ei­ner An­stalt, na­tür­lich mög­lichst drit­ter Klas­se, und sie wirt­schaf­tet in und mit sei­nem Ei­gen­tum, lei­tet die Fir­ma.

Aber es gab an­de­re Ärz­te, be­rühm­te­re und tüch­ti­ge­re als der gute alte Dr. Mans­feld, der schließ­lich und end­lich nur ein ein­fa­cher prak­ti­scher Arzt war; gleich in den nächs­ten Ta­gen schon wür­de ich zu ei­nem oder meh­re­ren von ih­nen ge­hen und mir At­tes­te über mei­ne völ­li­ge Ge­sund­heit ge­ben las­sen. Mit ei­nem sol­chen Ziel vor Au­gen wür­de es leicht sein, ein oder zwei Tage vor dem Arzt­be­such über­haupt nichts zu trin­ken.

Sie wür­de schon se­hen, mit wem sie da an­ge­bun­den hat­te, die gute Mag­da; trotz fünf­zehn Jah­ren Ehe kann­te sie ih­ren Mann noch lan­ge nicht! Je­den­falls: Ehe ich ihr mein Ei­gen­tum über­ließ, steck­te ich ihr lie­ber die Vil­la über dem Kopf an, das war klar.

So etwa gin­gen mei­ne Me­di­ta­tio­nen wäh­rend mei­nes hei­ßen We­ges in je­nen Dorf­gast­hof, und das Aus­ma­len bis in alle De­tails hin­ein kürz­te mir die Zeit auf das An­ge­nehms­te. Ich konn­te zum Bei­spiel lan­ge da­bei ver­wei­len, wie ich in ir­gend­ei­ner Zel­le der Trin­ker­heil­an­stalt mit eis­kal­tem Was­ser ge­ängs­tigt und mit schlech­tem Es­sen ge­füt­tert wur­de, wäh­rend Mag­da in un­se­rem hüb­schen Spei­se­zim­mer ein Kalbs­ko­te­lett mit Stan­gen­spar­gel aß. Dann ka­men mir fast die Trä­nen der Rüh­rung über mein schlim­mes Los und Mag­das Un­ge­rech­tig­keit in die Au­gen.

Zwi­schen­durch ver­füt­ter­te ich, da ich wie meist in der letz­ten Zeit nicht den ge­rings­ten Hun­ger ver­spür­te, mein Früh­stücks­brot an dörf­li­che En­ten und Gän­se, tauch­te auch von Zeit zu Zeit hin­ter ei­ner He­cke vor al­ler Sicht un­ter und nahm einen Schluck. Ich ver­lor nie ganz ein lei­ses Ge­fühl der Be­schä­mung dar­über, dass ich, Er­win Som­mer, mich hin­ter ei­ner He­cke ver­steck­te, einen Fla­schen­hals an den Mund setz­te und Schnaps in mich hin­ein­lau­fen ließ wie der letz­te Wal­zen­bru­der. Es wur­de mir nicht selbst­ver­ständ­lich, da­ge­gen stumpf­te ich nicht völ­lig ab. Doch es muss­te nun ein­mal sein, es ging eben nicht an­ders.

Kurz vor mei­nem Ziel war ich mit mei­ner Fla­sche alle, ich warf sie in den Stra­ßen­gra­ben und mach­te mich an die letz­ten fünf Mi­nu­ten Weg. Vom Kirch­turm des Dor­fes läu­te­te es ge­ra­de zur Mit­tags­stun­de; vor mir, an mir vor­bei, mir nach zo­gen die Dör­f­ler, die vom Fel­de ka­men, Ha­cken oder Spa­ten auf der Schul­ter. Man­che grüß­ten mich, an­de­re sa­hen mich nur mus­ternd von der Sei­te an, wie­der an­de­re schließ­lich stie­ßen sich an, ver­zo­gen die Ge­sich­ter und lach­ten, wäh­rend sie an mir vor­bei­gin­gen.

Es moch­te ja nur die üb­li­che dörf­li­che kri­ti­sche Ein­stel­lung dem stadt­fein an­ge­zo­ge­nen Frem­den ge­gen­über sein, ich hat­te aber doch den Arg­wohn, dass mir viel­leicht et­was von mei­nem Al­ko­hol­ge­nuss an­zu­mer­ken oder et­was an mei­ner Klei­dung nicht in Ord­nung sei. Ich hat­te es schon er­fah­ren, dass eine der schlimms­ten Ga­ben, die der Al­ko­hol mit sich bringt, die­ses Un­si­cher­heits­ge­fühl ist, ob ir­gen­det­was an ei­nem nicht ganz stimmt. Man kann sich noch so oft im Spie­gel mus­tern, die Klei­dung ab­tas­ten, je­den Knopf nach­prü­fen – nie, wenn man et­was ge­trun­ken hat, ist man ganz si­cher, dass man nicht doch et­was über­se­hen hat, et­was ganz of­fen Zu­ta­ge­lie­gen­des, das man aber doch trotz ge­spann­tes­ter Auf­merk­sam­keit im­mer wie­der über­sieht. Im Traum hat man ganz ähn­li­che Ge­füh­le, be­wegt sich hei­ter in der ge­wähl­tes­ten Ge­sell­schaft und ent­deckt plötz­lich, dass man ver­ges­sen hat, sei­ne Ho­sen an­zu­zie­hen.

Also, die­ses An­ge­st­arrt­wer­den wur­de mir läs­tig, zu­dem fiel mir ein, dass ge­ra­de die leb­haf­te Mit­tags­stun­de nicht die rich­ti­ge Zeit sein wür­de, mei­ne Hüb­sche auf­zu­su­chen. Ich schlug einen seit­ab füh­ren­den Feld­weg ein und warf mich un­ter ei­nem schat­ten­den Ge­büsch ins Gras. So­fort ver­fiel ich in Schlaf, in je­nen tief­schwar­zen Schlaf, den der Al­ko­hol bringt, wo­bei man ge­wis­ser­ma­ßen aus­ge­löscht ist, einen be­fris­te­ten Tod stirbt. Kei­ne Träu­me gibt es da mehr, kei­ne Ah­nung von Licht und Le­ben – fort ins Nichts! Das ist es.

Als ich wie­der er­wach­te, stand die Son­ne schon tief, ich muss­te vier, viel­leicht so­gar fünf Stun­den ge­schla­fen ha­ben. Wie im­mer in die­ser Zeit hat­te mich der Schlaf gar nicht er­frischt, ich er­wach­te alt und müde, ein zitt­ri­ges Ge­fühl in den Glie­dern. Mei­ne Kno­chen wa­ren steif, als ich mich auf­rich­te­te, und mit dem Ge­hen kam ich nur schwer zu­recht. Ich wuss­te aber jetzt schon, dass das al­les mit den ers­ten Schnäp­sen, die ich zu mir nahm, sich rasch ge­ben wür­de, und be­eil­te mich dar­um, in den Gast­hof zu kom­men.

Ich hat­te die Stun­de gut ge­wählt: Wie­der ein­mal war die Schank­stu­be leer, auch hin­ter der The­ke stand nie­mand. Steif ließ ich mich in einen Korb­ses­sel fal­len und hal­lo­te durs­tig nach der Be­die­nung. Erst steck­te sich ein Mäd­chen­kopf durch die Tür­spal­te, es war aber nicht mei­ne blas­se Hüb­sche, son­dern ein zott­li­ges, rot­na­si­ges We­sen äl­te­rer Mach­art, dann sah eine di­cke Frau zu mir hin, rief: »Gleich! Gleich!« und öff­ne­te die Trep­pen­tür, die ich in je­ner Nacht, blind an der Hand ge­führt, hin­auf­ge­stie­gen war.

»Eli­nor! Eli­nor! Komm run­ter!« rief die Wir­tin, ver­si­cher­te mir noch ein­mal, dass ich gleich be­dient wer­den wür­de, und ver­schwand wie­der in der Kü­che.

Also Eli­nor hieß sie, da hat­te ich mit El­sa­be nicht ganz schlecht ge­ra­ten. Aber Eli­nor war auch sehr gut, war ei­gent­lich noch bes­ser. Eli­nor pass­te zu ihr. Eli­nor, la rei­ne d’al­cool, wirk­lich sehr hübsch!

Und da hör­te ich sie auch schon die Trep­pe her­un­ter­kom­men, gar nicht reh­fü­ßig üb­ri­gens; die Tür klapp­te, und sie trat ein. Sie hat­te sicht­lich ge­schla­fen, das Haar war nicht so glatt und or­dent­lich auf­ge­steckt wie sonst, und ihr hel­les Kleid hat­te et­was Zer­drück­tes, Unor­dent­li­ches. Sie stand da einen Au­gen­blick und sah zu mir her­über. Sie er­kann­te mich nicht gleich, sie muss­te ge­gen die Son­ne se­hen. Dann rief sie ganz ver­gnügt: »Ach, das ist ja nur das Vä­ter­chen, das so gern Schnaps trinkt!«, rie­f’s und lief schon wie­der die Trep­pe hin­auf.

Ich nahm ihr die neu­er­li­chen, für mei­nen Durst ei­gent­lich schmerz­li­chen Wor­te ge­wiss nicht übel, war ich doch nur froh über die­sen un­be­fan­ge­nen Empfang. Ein biss­chen hat­te ich mich doch ge­fragt, wie sie mich nach mei­nem Ab­gang über das Schup­pen­dach in je­ner Nacht auf­neh­men wür­de. Nun aber war al­les gut, und ich war­te­te mit Ge­duld die fünf Mi­nu­ten, bis sie, nun­mehr ge­schnie­gelt und glatt, wie­der auf­tauch­te. Sie kam gleich an mei­nen Tisch, bot mir wie ei­nem al­ten Freund die Hand und sag­te freund­lich: »Ich dach­te schon, Sie woll­ten gar nicht mehr wie­der­kom­men! Was ha­ben Sie denn so lan­ge ge­macht? Sind Sie nun schon ganz bank­rott?«

»Noch nicht, ma rei­ne«, sag­te ich, auch lä­chelnd. »Vor­läu­fig habe ich erst ein­mal das Ge­schäft mei­ner Frau über­tra­gen, mit der ich üb­ri­gens in Schei­dung lie­ge. Was meinst du dazu, mei­ne Hüb­sche? In acht Wo­chen bin ich viel­leicht schon zu ha­ben! Noch ganz gut er­hal­ten, wie?«

Sie sah mich einen Au­gen­blick an, dann ver­schwand das Lä­cheln von ih­rem Ge­sicht, und sie sag­te ganz kühl und ge­schäfts­mä­ßig: »Ei­nen Korn, nicht wahr? Oder gleich wie­der eine gan­ze Fla­sche, wie?«

»Rich­tig, mei­ne Gol­de­ne!«, rief ich. »Gleich wie­der eine gan­ze Fla­sche! Und für dich wie­der­um eine Fla­sche Sekt!«

»Nicht am Tage«, ant­wor­te­te sie kurz und ging.

Ei­nen Au­gen­blick spä­ter hat­te ich zu trin­ken, aus­gie­big, von die­sem was­ser­hel­len Stoff, den ich schon mehr lieb­te als den Ko­gnak. Aber sonst kam ich an die­sem Nach­mit­tag nicht auf mei­ne Kos­ten. Eli­nor war stän­dig be­schäf­tigt, in und au­ßer der Gast­stu­be, und wir konn­ten nur dann und wann ein paar Wor­te wech­seln. Dar­über ver­dros­sen, trank ich mehr als ge­wohnt, schon nach an­dert­halb Stun­den muss­te mir Eli­nor eine zwei­te Fla­sche brin­gen, und ich spür­te selbst, dass ich schwer be­rauscht war.

 

Dann ka­men ein paar jun­ge Bur­schen, dar­un­ter auch je­ner jun­ge Mau­rer, mit dem Eli­nor so ver­traut ge­spro­chen hat­te; und bloß um das Mäd­chen an mei­nen Tisch zu zie­hen (was aber auch nur für Mi­nu­ten ge­lang), ließ ich sie alle bei mir Platz neh­men und be­stell­te für je­den, was er sich wünsch­te. Schon nach kur­z­er Zeit bot mein Tisch einen wil­den An­blick: Bier- und Schnaps­glä­ser, Wein- und Sekt­fla­schen stan­den in ei­nem wil­den Durchein­an­der auf ihm, und um ihn grup­pier­te sich eine Rot­te wild durch­ein­an­der re­den­der, schrei­en­der, la­chen­der, fuch­teln­der Ge­stal­ten, und ich war eine der wil­des­ten und be­trun­kens­ten von al­len. Ich fühl­te mich ganz los­ge­las­sen, ich war wirk­lich wie ein Stein, der in den Ab­grund stürzt – ich dach­te an nichts mehr.

Bei un­se­rem Lär­men hat­ten wir es ganz über­hört, dass ein Auto vor­ge­fah­ren war, und auch als zwei Her­ren ein­tra­ten, ach­te­ten wir kaum auf sie. Ich schrie ei­nem Ge­gen­über, der gar nicht auf mich hör­te, wei­ter ir­gend­wel­che Be­teue­run­gen zu – und ver­stumm­te plötz­lich, wie auf den Mund ge­schla­gen, denn ei­ner der bei­den Her­ren, die jetzt an ei­nem Ne­ben­tisch Platz nah­men, hat­te mich mit ei­nem freund­li­chen »Gu­ten Abend!« be­grüßt, und die­ser Herr war Dr. Mans­feld. Den an­de­ren Herrn kann­te ich nicht.

Auch mei­ne Zech­kum­pa­ne ver­stumm­ten, und auch, als sie sa­hen, dass nichts wei­ter er­folg­te, son­dern dass die Her­ren am Ne­ben­tisch, in ein Ge­spräch ver­tieft, ru­hig ihr Bier tran­ken, kam die alte Lus­tig­keit nicht wie­der auf. Ei­ner nach dem an­de­ren ver­drück­te sich, schließ­lich saß ich al­lein in die­sem wüs­ten To­hu­wa­bo­hu von Glä­sern und Fla­schen, und auch nach Eli­nor sah ich ver­geb­lich aus: Sie kam nicht, das Cha­os zu ord­nen. Wahr­schein­lich schar­mut­zier­te sie mit dem jun­gen Mau­rer, der wohl ihr Galan war, vor der Tür.

Nach der wil­den Aus­ge­las­sen­heit eben hat­te mich fins­te­re Ver­dros­sen­heit über­fal­len, ich kau­te auf mei­ner Lip­pe und schoss ab und zu einen arg­wöh­ni­schen Blick nach dem Sei­ten­tisch, an dem man so gar kei­ne No­tiz von mir nahm. Mein Arg­wohn war er­wacht; ich frag­te mich, ob Dr. Mans­feld durch einen rei­nen Zu­fall, bei der Aus­übung sei­ner Land­pra­xis, hier­her­ge­ra­ten sein könn­te oder ob ihn etwa Mag­da hier­her­be­or­dert hat­te. Ich zer­grü­bel­te mei­nen Kopf, ob ich etwa Mag­da da­mals in mei­ner Be­trun­ken­heit den Na­men des Aus­flugs­or­tes ge­nannt oder doch so auf ihn hin­ge­deu­tet hat­te, dass er un­schwer zu er­ra­ten war – ich wuss­te es nicht mehr. Der zwei­te Herr kam mir be­kannt vor, aber ich wuss­te nicht, wo­hin ich ihn tun soll­te …

Wie­der hät­te ich ger­ne et­was ge­trun­ken, die Korn­fla­sche stand nahe ge­nug vor mir, und doch wag­te ich es nicht, vor den bei­den Gäs­ten am Ne­ben­tisch mir das Glas auch nur ein­mal voll­zu­schen­ken. Ich sag­te mir wohl, dass an­ge­sichts die­ses Ti­sches und mei­nes wil­den Be­neh­mens vor­hin nicht mehr das ge­rings­te zu ver­der­ben war, und doch wag­te ich es nicht.

Schließ­lich be­trat Eli­nor wie­der den Schan­kraum. Ich rief sie zu mir und bat sie lei­se, die Ze­che zu ma­chen. Wäh­rend sie auf ei­nem Block vie­le Zah­len auf­schrieb, ge­bückt vor mir ste­hend und mich da­durch ge­gen die Sicht vom Ne­ben­tisch de­ckend, schenk­te ich mir erst zwei, drei Schnäp­se ein, dann ver­kork­te ich die Fla­sche sorg­fäl­tig und schob sie in mei­ne Ak­ten­ta­sche. Eli­nor warf einen ra­schen Blick auf mein Tun und flüs­ter­te mit hoch­ge­zo­ge­nen Au­gen­brau­en, zum Ne­ben­tisch deu­tend: »Freun­de?« Ich zuck­te nur die Ach­seln.

Die Rech­nung war so hoch, dass ich mein Geld wirk­lich bis auf die letz­te Mark her­ge­ben muss­te und dass auch dann noch das Trink­geld für Eli­nor höchst un­ge­nü­gend aus­ge­fal­len war. Wie­der sah sie mich mit hoch­ge­zo­ge­nen Au­gen­brau­en an und flüs­ter­te: »Ab­ge­brannt?«

Ich ant­wor­te­te eben­so lei­se: »Ich weiß, wo es mehr gibt. Das nächs­te Mal, ma rei­ne!« Wozu sie leicht nick­te.

Ich muss­te jetzt auf­ste­hen und ge­hen, un­ter den be­ob­ach­ten­den Bli­cken des Ne­ben­ti­sches. Ich fass­te mei­ne Ak­ten­ta­sche und ver­ge­wis­ser­te mich durch einen mus­tern­den Blick, auf wel­chem Ha­ken mein Hut hing, da­mit ich ihn beim Hin­aus­ge­hen nicht un­nö­tig su­chen muss­te, und stand auf. Ich fühl­te, es wür­de ge­hen. Ich muss­te mich lang­sam und sehr vor­sich­tig be­we­gen, dann wür­de es schon ge­hen. Schließ­lich brauch­te ich nur vors Dorf und ins ers­te ber­gen­de Ge­büsch zu kom­men, ja, schließ­lich – ge­nia­ler Ein­fall! – ich brauch­te mich nur hier auf der Toi­let­te ein­zu­rie­geln, und ich konn­te schla­fen, so­lan­ge ich woll­te. Fri­schen Pro­vi­ant hat­te ich ja bei mir.

Ich hat­te zum Ne­ben­tisch, schon im Auf­ste­hen, höf­lich »Gu­ten Abend« ge­sagt, und nun war ich schon un­ter der Tür, einen Schritt ent­fernt von der Ret­tung, als hin­ter mir eine Stim­me sag­te: »Ach, einen Au­gen­blick, Herr Som­mer!«

Ich schrak so zu­sam­men, dass ich fast ge­fal­len wäre. »Wie bit­te?«, rief ich un­nö­tig laut.

Der Arzt hat­te nach mei­nem Arm ge­grif­fen und mich ge­hal­ten. »Habe ich Sie er­schreckt? Das woll­te ich nicht. Es tut mir leid.«

»Ach, nichts, nichts«, sag­te ich ver­le­gen. »Es war wohl nur der elen­de Läu­fer, ich bin über ihn ge­stol­pert …« Und ich sah böse auf den glatt da­lie­gen­den Tep­pich.

»Ich woll­te Sie nur fra­gen, Herr Som­mer«, fing Dr. Mans­feld wie­der an, »ob ich Ih­nen viel­leicht an­bie­ten darf, in mei­nem Auto mit uns heim­zu­fah­ren?« Er mach­te eine Pau­se, dann sag­te er lä­chelnd: »Wir ha­ben ein biss­chen ge­fei­ert, nicht wahr? Nun, das macht nichts, das tut je­der von uns ein­mal ger­ne. Aber der Rück­weg wür­de Ih­nen viel­leicht ein biss­chen schwer­fal­len, was? Also, Sie fah­ren mit uns.« Er fass­te mich freund­lich, aber fest un­ter den Arm. Der an­de­re Herr hat­te un­ter­des be­zahlt und trat nun zu uns. »Darf ich Sie be­kannt ma­chen?«, fuhr der Arzt fort. »Herr Som­mer – Herr Me­di­zi­nal­rat Dr. Stie­bing, un­ser Kreis­arzt.« Da­mit führ­te er mich aus dem Lo­kal und auf das Auto zu. Ich aber folg­te ihm wie ein Schaf sei­nem Schläch­ter. Der Kreis­arzt!

Das war kein Zu­fall mehr, das war eine mir lis­tig ge­stell­te Fal­le! Ver­damm­te Mag­da! Sie woll­te mich rein­le­gen, sie han­del­te schnell, das muss­te ich zu­ge­ben. Aber auch ich war klug, ich muss­te mich ver­stel­len, lis­tig sein, Scharf­sinn mit Scharf­sinn über­trump­fen. »Nun«, lach­te ich plötz­lich hei­ter, »zwei Ärz­te, die wer­den ja wohl mit ei­nem ar­men Berausch­ten fer­tig wer­den, was? Ma­chen Sie es gnä­dig mit mir, mei­ne Her­ren!« Da­mit setz­te ich mich hin­ten in den Wa­gen, wäh­rend die bei­den an­de­ren Her­ren, eben­falls la­chend, vorn Platz nah­men.

Wir woll­ten schon los­fah­ren, als Eli­nor aus dem Hau­se ge­lau­fen kam. Sie trug in den Hän­den ein häss­li­ches, in Zei­tungs­pa­pier ge­wi­ckel­tes Pa­ket. Sie reich­te es mir in den of­fe­nen Wa­gen. Laut sag­te sie: »Das sind Ihre Schu­he, die Sie neu­lich nachts hier ver­ges­sen ha­ben!« Höh­nisch la­chend sah sie mich mit ih­rem wei­ßen, großen Ge­sicht und den farb­lo­sen Au­gen an. Ihr Mund war sehr rot.

Nach ei­nem be­tre­te­nen Schwei­gen frag­te der Arzt: »Kön­nen wir jetzt fah­ren?«

Ich ant­wor­te­te: »Ja«, und der Wa­gen fuhr los.

12

Ich bin völ­lig au­ßer­stan­de, mei­ne Stim­mung wäh­rend die­ser Fahrt zu schil­dern. Ab­grund­tie­fe Verzweif­lung wech­sel­te mit ei­ner läh­men­den Apa­thie, die mich selbst in die­sem Zu­stan­de noch er­schreck­te. Es war, als läge ich in ei­nem schwe­ren Schre­ckens­traum ge­fan­gen, je­den Au­gen­blick nahe dem Er­wa­chen, und konn­te doch nicht wach wer­den, ge­riet in im­mer tiefe­re, im­mer grau­si­ge­re Schreck­nis­se. Ne­ben mir auf dem Sitz lag das Pa­ket mit den Schu­hen, das Zei­tungs­pa­pier hat­te sich ge­öff­net, und ich sah sie da lie­gen, mit ver­wisch­tem Staub be­schmutzt, eine Soh­le sah mich an – ein­fach ab­scheu­lich. Ab­scheu­lich die­se Tat der hüb­schen Eli­nor, wür­dig ei­ner Kö­ni­gin des Schnap­ses.

›Ja‹, dach­te ich, ›so narrt und quält der Al­ko­hol sei­ne Jün­ger. Sol­cher Über­ra­schun­gen ist nur er fä­hig. Man meint, si­cher zu sein, sich gut ver­stellt, das Schlimms­te ver­mie­den zu ha­ben, und plötz­lich steckt er sei­ne grin­sen­de Teu­fels­frat­ze her­vor, zer­fleischt mit sei­nen Klau­en dei­ne Brust, lässt dich er­be­ben, ver­nich­tet dei­ne Wür­de … La rei­ne d’al­cool – sehe ich dich je wie­der, be­kommst du kei­ne gute Stun­de mit mir, Eli­nor!‹

Ich hielt es nicht mehr aus. Mit ei­nem Blick ver­ge­wis­ser­te ich mich, dass die bei­den Her­ren vor mir in ein eif­ri­ges Ge­spräch ver­tieft wa­ren; ich zog die Fla­sche aus der Ta­sche, ent­kork­te sie vor­sich­tig und tat ein paar kräf­ti­ge Schlu­cke. Aber ich hat­te nicht an den Rück­spie­gel über dem Füh­rer­sitz ge­dacht.

»Nicht zu viel jetzt und nicht zu has­tig, mein lie­ber Herr Som­mer«, sag­te Dr. Mans­feld und hob vom Steu­er eine mah­nen­de Hand. »Wir hät­ten nach­her ger­ne noch ein ver­nünf­ti­ges Wort mit Ih­nen ge­spro­chen!«

Die­ser Schur­ke, die­ser glat­te me­di­zi­ni­sche Schur­ke! Jetzt, da er mich in sei­nem Wa­gen hat­te, ließ er die Mas­ke fal­len: Nicht nach mei­nem Heim wur­de ich ge­fah­ren, son­dern zu ei­ner ärzt­li­chen Be­spre­chung, bei der ganz zu­fäl­lig auch der Me­di­zi­nal­rat als Kreis­arzt zur Hand war!

Von da an war ich ganz ru­hig und ge­sam­melt. Der eben ge­trun­ke­ne Schnaps ver­lieh mir neue Kraft und Kon­zen­tra­ti­on. Ich hat­te ein fes­tes Ziel vor Au­gen: die­se Un­ter­re­dung fürs Ers­te un­ter al­len Um­stän­den zu ver­ei­teln. Spä­ter, un­ter für mich güns­ti­ge­ren Um­stän­den, ger­ne, aber heu­te, so über­lis­tet, auf Be­stel­lung mei­ner Gnä­digs­ten: ›Da muss ich schon dan­ken, mei­ne Lie­be!‹

Das Auto fuhr und fuhr, schon wa­ren wir im Au­ßen­be­zirk un­se­rer Stadt, und noch im­mer hat­te sich kei­ne Mög­lich­keit ge­bo­ten, als Teil­neh­mer an die­ser Fahrt aus­zu­schei­den. Dann aber kam aus dem Fuhr­hof von Ha­ses ei­ner sei­ner großen Last­zü­ge mit zwei An­hän­gern et­was über­ra­schend her­vor. Schon wäh­rend der Dok­tor den Wa­gen auf die lin­ke Stra­ßen­sei­te hin­über­riss, da­bei scharf brem­send, hat­te ich lei­se die Wagen­tür ge­öff­net, nun, da der Last­zug pas­siert war und der Arzt schon wie­der Gas gab, sprang ich leicht ab, einen Au­gen­blick tau­mel­te ich, rann­te vor­wärts ne­ben dem Wa­gen, droh­te zu fal­len und hat­te mich ge­fan­gen.

Ich stand, wink­te mit der Hand dem Wa­gen nach, den Passan­ten vor­ge­bend, die­ses plötz­li­che Aus­s­tei­gen sei mit Wis­sen der In­sas­sen ge­sche­hen, und schritt dann rasch, rechts von der Stra­ße ab­bie­gend, am Zaun des Fuhr­ho­fes hoch, zu ei­ner klei­nen ver­fal­le­nen Ko­lo­nie, die man in der Stadt nur »Klein-Russ­land« nann­te. Ich schüt­tel­te mich in­ner­lich vor La­chen, dass die bei­den wei­sen Ärz­te von ih­rer Ex­pe­di­ti­on nichts heim­brach­ten als die Schu­he des Trin­kers.